Theobald Fuchs: Sabinchenstadt

Wir hatten uns überlegt, dass man ja von Berlin aus auch mal mit dem Fahrrad nach Nürnberg fahren könnte. Und dann kam es wie es kommen musste: wir machten es wirklich.

Es gäbe viel zu berichten, über die drei Flüsse Havel, Elbe und Saale, und über die drei Bundesländer Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Thüringen, die wir durchquerten. Und über ein paar – ich mache jetzt mit den Händen Anführungszeichen in der Luft –  interessante Begegnungen. Aber nichts davon, kein Wort über Ostdeutschland und die Ossis – es soll hier lediglich über Treuenbrietzen gehen.

Ich sagte, als wir bei der Abfahrt im Grunewald einen Blick auf die Route warfen, noch: Haha, das ist doch diese Kleinstadt, die in dem Lied vorkommt, wo der kranke Typ die Frau umbringt, weil sie aus Liebe zu ihm ihren Arbeitgeber bestohlen hat. Und sechs Stunden später? Steht astrein und noch vor dem ersten offiziellen Ortsschild das erste Plakat mit der Aufschrift: »Treuenbrietzen – Sabinchenstadt«.

Ich vermute, dass nicht alle Hörer*innen von Radio Z diesen Song parat haben, der aus unergründlichen Tiefen der Zeit herstammt und bis zum heutigen Tage praktisch ein Dauerschlager ist. Zumindest in einschlägigen Kreisen. Erstmals abgedruckt laut wikipedia 1849 in der Liedersammlung »Musenklänge aus Deutschlands Leierkasten«.

Musenklänge.

Deutschlands Leierkasten.

Schöne Begriffe, aber ganz klar heute nicht mehr wirklich regelmäßig in Gebrauch. Ein Problem für die Sprachhygieniker der diversen Gesellschaften zum Schutz der Deutschen Sprache, die sich ja gerne auch über die bösen Anglizismen und besonders heftig über gendergerechte Ausdrücke aufregen wie die kleinen Autos. Die können mich allerdings eh gern haben.

Auch in der Mundorgel, einer Liedersammlung von 1984, die der eine oder die andere noch aus dem Zeltlager kennen könnte, ist das Sabinchenlied enthalten.

Wir hören eine Version gesungen von Claire Waldoff. Frühe 1920er Jahre, aber recht progressiv wie ich finde. Claire Waldoff übrigens eine Art Superstar damals, Helene Fischer Hilfsausdruck. Obacht: Krasse Stimme! 

Nun, da sind natürlich schon ein oder zwei Stellen im Text, die wir heute befremdlich finden sollten.

Zunächst ist das ganze ja ein Schmählied auf eine bestimmte Berufsgruppe, den Schuster. Schuster waren unverzichtbare Dienstleister, ohne die es keine Stiefel und Schuhe gab. Spätestens im Winter absolut unverzichtbare Gebrauchsgegenstände. Ein Mensch ohne Schuhe ist in unseren Breiten nicht wirklich überlebensfähig. Warum also dieser Hass auf Schuster, der in diesem völlig unverfrorenem Mobbing gipfelt? Ich vermute hier einen zeitgenössischen Witz, den wir heute einfach nicht mehr begreifen können. Irgendwie so etwas wie: Treffen sich zwei Schuster, sagt der eine… oder: Geht ne Frau zum Schuster… Irgend so etwas.

Dass Sabinchen in frühkapitalistischen Verhältnissen lebt, eine Ausgebeutete ist, die für das obere Ein-Prozent der Bevölkerung arbeiten muss, die sich Silberlöffel leisten können – geschenkt.

In den kinderreichen Familien der damaligen Zeit wurden Töchter, die als überflüssig und nutzlos angesehen wurden, einfach so entsorgt. Ab in ein Ausbeutungsverhältnis, Menschenrechte waren vor allem Männersache. Zum Glück hat sich das ja geändert und alle Menschen sind heute gleichberechtigt, frei und … naja.

Sehr modern hingegen mutet die toxische Beziehung zu dem chauvinistisch-patriarchalischen Schuster an (»wollte Sabinchen besitzen«), in die sie sich verstrickt. Der Schuster beutet Sabinchens starke emotionale Bindung zu ihm gnadenlos aus, er ist ein Trinker, ein Gewalttäter. Wir können nur spekulieren, wie es soweit kam, dass er ein so unausstehlicher Mensch wurde. Das Lied schweigt sich aus, Ursachenforschung in Treuenbrietzen nicht gefragt. Wobei man spätestens jetzt bemerken sollte, dass nur der  Schuster aus Treuenbrietzen stammt, Sabinchen und die Dienstherrschaft allerdings überall sonst angesiedelt sein könnten. Meine persönliche Vermutung ist Berlin, dort gab es Silberlöffel und dunkle Keller in ausreichender Menge. Mit anderen Worten: Treuenbrietzen schmückt sich mit einem Liedtext, der die Stadt als Herkunftsort eines Meuchelmörders ausweist. Das wäre ungefähr so ähnlich wie „Hitlerstadt Braunau“ oder „Julius Streicher-Stadt Nürnberg“. Womit wir bei der rätselhaften Zeitangabe „Aha-achzehn Wochen“ wären. Was um Himmels Willen steckt da dahinter? Genauso gut könnten es doch sechzehn oder neunzehn oder zweiundsechzig Wochen sein, ohne dass man gleich das Versmaß ändern müsste. Wir wissen nicht, wie der Diebstahl rauskam, aber vermutlich dann, als die silbernen Löffel gebraucht wurden. Heißt, sie wurden volle viereinhalb Monate nicht gebraucht! Und der Schuster brauchte in der ganzen Zeit kein Geld mehr. Sonst hätte Sabinchen ja noch mehr Löffel klauen müssen, damit der Schuster noch mehr Geld versaufen hätte können, wovon aber nirgendwo die Rede ist. Ich selbst hätte ja vermutet, dass der Schuster die paar Löffel innerhalb von genauso viel Tagen in Schnaps und Bier umsetzte, so dass recht bald die nächste Eskalationsstufe erreicht worden wäre.

Woher also diese rätselhafte Achtzehn. Nun, wir Menschen des 21. Jahrhunderts sind uns freilich dessen gewahr, dass die Achtzehn ein Code sein kann für den ersten und den achten Buchstaben im Alphabet, für das A und das H, das wiederum für den abscheulichsten Massenmörder aller Zeiten steht.

Und hier liegt wohl der Schlüssel zur Lösung des Rätsels begraben: Der Texter oder die Texterin dieses Songs kannte Adolf Hitler und den Neonazi-Code. Wir haben es hier nämlich mit einem Zeitreisenden zu tun, jemand, der ins Treuenbrietzen des späten zwanzigsten Jahrhunderts gereist war und wieder zurück, um dieses Lied zu schreiben, das dann die Heimatstadt eines Frauenmörders abfeiert. Jemand, der das Treuenbrietzen der Zukunft nicht mochte und auf raffinierte Weise schon über Hundert Jahre früher sein bashing preparte.

Ganz unspektakulär allerdings kommt die geradezu modern anmutende Nicht-Verurteilung zum Tode daher. Selbst angesichts dieser heimtückischen Mordtat verzichtet das Gericht auf die atavistische Strafe und begnügt sich mit Verrottenlassen des Delinquenten in einem dunklen Keller. Quasi Aufklärung pur, Verkündung der Menschenrechte Hilfsausdruck. Oder – leider doch wieder nur ein Fall von Misogynie? Dass man für den Mord an einer Frau nicht so schlimm verurteilt wurde?

Ich denke, wir sollten alle nochmal über dieses Lied nachdenken.

Meine vorläufige Gesamtbewertung allerdings: ein großer Hit, geniales Songwriting, die Melodie hooked sofort im Ohr und geht nicht mehr raus wie das abgebrochene Ende eines Ohrenstäbchens. Was ein Dreckslied. Passt alles.

… daramm dada daramta, daramm, daramm, daramm…

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