Lily Schuster: Traum

Stefan: „Was liegt dir denn auf dem Herzen, was du mir mitten in der Nacht erzählen musst?“

Sie: „Ich gebe in diese hochmoderne Suchmaschine namens „Google“ die Buchstaben -T-r-a-m- Definition ein.

-Enter-… Straßenbahn, hä? Straßenbahn?

Achsooo, vertippt!

-Löschtaste- u- m- Definition-Enter-. Na also.. hammas jetzt?

Erstens: im Schlaf auftretende Abfolge von Vorstellungen, Bildern, Ereignissen, Erlebnissen.

Beispiel: „ein schöner, seltsamer Traum“

Zweite Definition ist unterteilt in zweitens a und zweitens b.

Zweitens a: sehnlicher, unerfüllter Wunsch.

Beispiel: „Der Traum vom Glück“

Zweitens b: etwas traumhaft schönes, Person; Sache, die wie die Erfüllung geheimer Wünsche erscheint.

Beispiel: „Das ist ja ein Traum von einem Haus.“

Sie: „Als ob ich nicht wüsste was ein Traum ist, Stefan . Ich träume jede Nacht und jeden Tag.

Stefan: „Hattest du schonwieder einen deiner Albträume?“

Sie: „Zum Beispiel träume ich in meinem Traum von einem Traum in dem ich träume, Träume wahrwerden zu lassen.“

Stefan: „Ist alles gut bei dir?“

Sie: „Träume wie… mir den roséfarbenen, von kleinen Diamanten, umgebenen Ring zu kaufen, den ich so oft in diesem Schaufenster um die Ecke liegen sehe.

Stefan: „Sag doch einfach, dass du heiraten willst.“

Sie, genervt von allem: „Oder wie… einfach mal mein Hinterteil von der Couch heben, mich Richtung Zimmer bewegen, den Schrank öffnen, die Matte rausholen, auf den Boden legen, Musik am Handy anmachen und einfach Sport treiben, damit ich mich wohl fühle in meiner Haut und gesund sowie fit bleibe.“

Stefan, genervt von ihr: „Gleich so theatralisch.“

Sie, kurz vorm Nervenzusammenbruch: „Oder… es auch mal zu schaffen PÜNKTLICH aus dem Haus zugehen, ohne vorher fünf Wecker gestellt zu haben. Der eine klingelt, wenn ich aufstehen muss. Der zweite, wann ich aus dem Bad raus sein muss, der dritte gibt mir dann an, dass ich jetzt fertig mit Frühstücken sein sollte und auch schon mit dem Hund Gassi gewesen sein sollte. Dann gibt es da desWeiteren den vierten Wecker, welcher so nett ist und mir sagt, wann der richtige Zeitpunkt zum Anziehen ist. Der fünfte ist dann logischerweise jener, der mich zur Tür bittet.“

Stefan: „Du hast ja Probleme!“

Sie, wieder etwas beruhigt und traurig: „Ganz abgesehen von den Träumen nach Zärtlichkeit. Nach Liebe und abends nicht alleine den Film anzuschauen. Der auch mal kocht, den Haushalt macht und gemeinsam mit mir weint und lacht. Also so was wie „Der Traum vom Mann“

Stefan schweigt

Sie: „Ach ja! Selbstverständlich ist die Welt in meinen Träumen glücklich und DAS ÜBERALL auf diesem Planeten. Sie ist bunt und harmonisch, nicht einfarbig und kalt. Sie wird bewohnt und belebt von Wesen, die es schätzen dort zu sein und alles dafür tun, dass es noch lange ein solch wertvolles Etwas gibt. Wo jeder und jede die Chance hat zu träumen und die Träume erfüllen zu können. Zumindest die meisten.

Stefan, indem er sie Finger auf den Tisch klopft: „Mmmh.“

Sie: „Erfolg spielt auch eine große Rolle in meiner Utopie*. Ich will es schaffen selbstständig zu sein, in dem was ich tue um erfolgreich zu sein. Mich ins Zeug legen und anstrengen. Nicht ständig mein Glück vor mich herschieben und darauf warten, dass es mir aus dem Nichts in die Arme fällt. Glück haben mit den richtigen Menschen am richtigen Ort zur richtigen Zeit zu sein. Oder eben den richtigen Zeitpunkt für sich an seinem richtigen Ort erschaffen. In der Realität und nicht im Traum!“

Stefan flüstert fragend vor sich hin: „ Mit den richtigen Menschen am richtigen Zeitpunkt zur richtigen… was?!“

Sie: „In meiner -mehr als nur- Kopfgeburt* gehe ich selbstbewusst durchs Leben, mache mir keine Gedanken darüber, was andere über mich und mein Outfit denken. Ich tanze in der Disco für mich und nicht für die, die sich dort aufhaltenden eventuell in Frage kommenden, zukünftigen Traummänner. Ich esse nur so viel bis ich keinen Hunger mehr habe und nicht noch sieben Portionen mehr, weil es halt wieder so lecker schmeckt. Ich bin konzentriert auf mein Wohl und vergesse dabei nicht das Wohlbefinden meiner Freunde und das, der Familie. Mit denen ich übrigens nie Streit habe und wenn, ich mich sehr schnell wieder versöhne. Denen es allen gut geht und auch niemals schlecht.Die auf keinen Fall krank werden im Alter und unter Schmerzen sterben. Zwischen jenen und mir stetig ein großartiger Kontakt besteht, der für immer bleibt. Wunderschöne Haare an dem Tag meines ersten Dates. Schöne Nägel, stressfreies pünktliches Losgehen OHNE meine klingelnden fünf Schätze. Wohlfühlen in meiner eigenen Haut.“

Stefan, versucht sie ernst zu nehmen: „Und was machst du, damit sich deine Träume erfüllen?“

Sie: „Den Mund mache ich auf und sage „NEIN“. Wenn ich das nicht will. Wenn ich nicht will, dass mirder eventuell in Frage kommende zukünftige Traummann, mit dem ich mein erstes langersehntes Date unter einer leuchtenden Lichterkette im leicht schwenkendem Boot auf dem Meer habe, mir unter den Rock fassen möchte. Nein! Zu mir selbst, wenn ich mal wieder auf der Couch hocke, Frust in mich rein fresse, anstatt meinen verf..„Piiiip“..rsch anzuheben und sportlich zu sein. Nein zu all dem, was mir in der Realität aufgeschwatzt wird und mir nicht gut tut.“, sagt sie voller Elan und zugleich aufbrausend. [immer energischer werdend:] Und JA. Ja, den Mut zu haben, mir den Ring aus dem Schaufenster um die Ecke zu kaufen. Mir zuzutrauen, dass ich rechtzeitig aus dem Haus komme. Ja zu mir, wenn ich vor dem Spiegel stehe und mir in die Augen schau. Ja zu denen, die mein Nein nicht kapiert haben: JA, du hast recht, ich habe gerade NEIN gesagt. Und „DOCH“ zu allen, die behaupten, dass Träume nicht wahrwerden können. Denn das sind verträumte, die ihren Träumen nicht einmal die Chance geben, geträumt zu werden.“

Stefan schaut sie verwirrt an und fragt: „Aber was ist, wenn sich alle meine Träume erfüllt haben?“

Sie: „Dann TRÄUM WEITER!“

Stefan ängstlich: „Wann, hast du nochmal gesagt, ist dein Psychologe vom Urlaub wieder zurück?“

Martin Knepper: Der Traum, ein Witz

Traum vom 18. Oktober 2003: Ich bin deutlich jünger, etwa Oberstufe oder Erstsemester, und besuche mit einer Delegation von Gleichaltrigen (Schülerzeitung o.ä.) Otto Schily. Sein Amtssitz sieht von innen aus wie das Anwesen Christoph Martin Wielands in Oßmannstedt, am Fenster steht ein Rokokosekretär. Endlich kommt Schily. Er sieht aus wie immer, schmallippig, etwas verkniffen, hat aber seinen anthroposophischen Haarschnitt silbern gefärbt und aufgeföhnt, er erinnert mich an Gotthilf Fischer. Das einzige, was mich und die anderen aber wirklich überrascht: Schily ist winzig, nicht bloß etwas mickrig wie Gerhard Schröder, sondern nicht größer als ein Kind oder Wee Man aus der Serie Jackass. Er begrüßt uns freundlich, aber distanziert, und bemerkt wohl mein unverhohlenes Erstaunen über seine Größe. Er sagt: »Sie wundern sich sicher, dass ich so klein bin?« Verlegen bestätige ich das, und er sagt darauf: »Sehen Sie: Ich mich auch!«

Der Traum, ein Schaum? Gewiss. Dieser Schaum aber ist das Resultat eines fortgesetzten Rührens im Teeglas unseres Schlafgehirns in dafür vorbestimmten Phasen. Ein Rühren, das die Eindrücke und Erinnerungen, die Routinen und Überraschungsmomente unserer Tagesexistenz in buntem Wirbel durcheinandermischt. Oft kommt der Traum in der Gestalt, die das Wesen des Schlafenden bestimmt: Ein ängstlicher Mensch läuft sicher eher Gefahr, von Alpträumen geplagt zu werden; visuelle Menschen träumen bilderreich, wo den Wortmenschen oft Sprachspiele oder verbildlichte Gedanken unterkommen. Der Traum des Kindes ist anders beschaffen als der des alten Menschen, für alle jedoch gilt: Wir können nichts Undenkbares denken und somit auch nicht erträumen, denn einmal gedacht, ist es ja zumindest als Möglichkeitsform in der Welt. Und der Traum zieht wie ein ADHS-kranker Archivar sprunghaft Zettel um Zettel aus den Karteikästen unserer Verstandes – mag zu Beginn ein aktueller Vorgang seine Aufmerksamkeit fesseln, so gerät er schon bald in die Tiefen seiner Sammlung, häuft und mischt Querverweis auf Querverweis, erschafft in seiner Routine eine geheime innere Ordnung, doch die Anmerkungen und Fußnoten sind mit Zaubertinte geschrieben. Wollen wir hinterher sein Werk betrachten, stehen wir oft ratlos vor dem Resultat.

Am 9. März 2020 nachmittags geträumt, eine „Cousine zweiten Grades oder so“ von Astrid Lindgren hätte mich zu einer „Bitumen-Party“ eingeladen. So sind sie, die Träume: Wahllos Zusammenhänge schaffen, und wenn man wieder den Kopf dafür hat, zu fragen, was das solle, haben sie sich davongemacht. Sehr poetische Arbeitsweise.

Der Traum hat keinen Autor, nur uns selbst als staunend ausgelieferte Zuschauer. Er ist Film ohne Regisseur, absichtsloser Gesang, ein Bild, das sich selbst malt nach Art des Gesellschaftsspiels vom ‚Cadavre exquis‘, bei dem die Teilnehmer an einem verborgenen Bild weitermalen, von dem sie nur die Ansatzstelle kennen. Das Schlafhirn spielt dies mit sich selbst und greift zu staunenswerten Tricks, um die Übergänge sanft und beinahe zwingend erscheinen zu lassen. Verdichtung und Verschiebung, Verbindung und Parallelführung von Unzusammenhängendem sind gleichermaßen Merkmal des Witzes wie des Traums. Sigmund Freud hat auf diesen Umstand aufmerksam gemacht – seine Schrift ‚Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten‘ liest sich über weite Strecken als Verteidigung seiner damals noch neuen Theorie der Traumdeutung. Unter anderem macht er auch auf das Phänomen aufmerksam, dass ein falsch erzählter Witz, oder ein unglücklich paraphrasierter, für seine Zuhörer wie ein missratenes Soufflé in sich zusammenfällt. Und so gibt es auch viele Menschen, die den erzählten Träumen Fremder nichts abgewinnen können, so wenig, wie andere ein Theaterstück von Ionesco oder Beckett zu schätzen wissen. Das ist einerseits eine Frage des poetischen Appetits des Zuhörers, aber auch des vermittelnden Geschicks des Träumers. Der aber steht vor einer heiklen Aufgabe: Er muss den Traum fixieren, solange er noch frisch, gewissermaßen backwarm aus dem Ofen seines Bettes kommt, und doch ist er oft noch selber überwältigt oder verstört von dem, was sich gerade noch in ihm ereignet hat. Versucht er aber, diesen Traum verspätet zu literarisieren, schleicht sich schnell ein falscher Ton ein, wird das Dokument ureigenster entfesselter Hirnarbeit zu einer behäbigen Groteske, eine Tatsache, die der Zuhörer wahrnimmt, oft mehr fühlt als begreift. Deshalb bleibt der Traum in seiner Rohfassung zumeist ein Glasperlenspiel der Wenigen, die seine poetische wie auch humoristische Kraft zu schätzen wissen. Und es steht zu vermuten, dass diesen Traumarbeitern über der Beschäftigung mit dem Stoff sich auch dieser verfeinert, mit der Zeit Gänge und Kanäle sich im nächtlichen Dunkel des Schlafs formatieren und die Träumer immer öfter des Morgens mit einem wunderlichen Fang aus dem Schleppnetz ihres Schlummers dastehen. Hören wir ihnen zu. Hören wir unseren Träumen zu. Die Zukunft können wir aus ihnen nicht erfahren, aber viel über das Wesen der Heiterkeit und der Poesie.

Traum vom 29. Dezember 2010: Ich habe die seit Jahrzehnten stillgelegten unterirdischen Toilettenanlagen am Rheinpark auf eigene Kosten restauriert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die erstaunten Gesichter des Publikums, als es die enthüllten Schilder am zweigeteilten Treppenabgang liest – Rechts: ‚Herren‘, links: ‚Männer‘.

Nicolai Hagedorn: Unwahre Alltagsschurken

Häufig hört man, wirkliche Helden seien Leute, die unbemerkt Großes leisten.
„Held des Alltags“ kann demnach im Grunde jeder werden, der sich irgendwie nützlich macht. Besonders „stille“ bzw. „wahre“ Helden sind beliebt und wer nach ihnen Ausschau hält, findet sich bald in einer Stadt wieder, von der man nur hoffen kann, sie hätte keinen solchen, deren „Mannheimer Morgen“ aber meldet, es reichten oft „kleine Gesten, die Menschen zu Helden des Alltags – und damit zu „Kavalieren der Straße“ – machen.“ Kavaliere der Straße? Jepp, sagen die Mannheimer, man habe bereits über 60.000 als solche ausgezeichnet, sogar zwei Frauen (Eden und Lisa), die einmal ein entlaufenes Pferd eingefangen hätten. Es gibt auch eine FIT FOR FUN-Heldin des Alltags (70 Kilo abgenommen), Wuppertal hat einen „Alltagsheld in Fußballschuhen“, die Schreibwarenfirma „odernichtoderdoch“ vertreibt einen „Schreibtischorganizer A4 Alltagsheld“ und galileo.TV kürte kürzlich den „Gummihandschuh“ zum Alltagshelden, weil er „so widerstandsfähig“ sei: „Saubere Hände, griffige Finger, sterile Operationen: Das alles geht am besten mit Gummihandschuhen.“
Alles in allem, die Auflistung zeigt´s, sind Alltagshelden eigentlich Idioten. Wo und wann immer es hoch her geht, kommen sie angepacet und sorgen für Ruhe und Ordnung auf dem Schreibtisch, ziehen Verkehrsleichen aus den Straßengräben und nehmen dabei dutzende Kilo ab. Mannheim hat derweil offenbar eine Armee von 60.000 Vorbildern aufgestellt, die die Schurken des Alltags durch ihre einzige Superkraft „Schlechtes Gewissen machen“ besiegen sollen.
Ich hingegen bestelle hier noch ein Bier, bevor ich um vier Uhr morgens lärmend durch die Anwohnerschaft bösewichtern, lächelnd die angefahrene Omi auf dem Zebrastreifen liegen lassen werde, um endlich und schnurstrack zur Arbeit, nämlich ins Uniklinikum zu fahren, wo ich ohne Gummihandschuhe die anstehende Transplantation (war es Niere?) durchführe.
Prost am Tisch.

Nicolai Hagedorn: Helden

Es trug sich dereinst eine Geschichte zu, an der insgesamt 3 jugendliche Herren aus der Mittelschicht, einer davon sogar Türke, beteiligt waren.
Sie ergaunerten um ein Haar einen gehörigen Batzen Bargeld. Die Geschichte ist selbstverständlich ganz wahr und beginnt mit Nils, der sich zu jenem Zeitpunkt einerseits für deutlich klüger und gewitzter hielt als den großen Rest der Gleichaltrigen, allerdings bei diesen nicht recht die beanspruchte Anerkennung fand, was ihn zu einem leichten Opfer machte hinsichtlich der Anwerbungsversuche des eigentlichen Ausheckers des ganzen Coups, Chris, ein bereits in der Spätpubertät rund einen Meter neunzig messenden und viel umjubelten Torwart der örtlichen Jugendfussballmannschaft, die sogar einmal gegen Kickers Offenbach gewonnen hatte.
In dem Kleinstadtgymnasium, das sie besuchten, hatten die Herren aufgrund ihres wenig konstruktiven Wirkens längst einen beträchtlich unangenehmen Ruf, insbesondere wegen einiger von ihnen begangener Sachbeschädigungen, sowie mehrerer Hänseleien zu Ungunsten des Klassenstrebers und –zwerges. Einmal, als der kleine Klassenbeste offenbar zum Zwecke der Deeskalation die bösen Herren zu sich nach Hause lud, fesselten diese den Armen mit einem Tau an sein eigenes Bett. Er kam dann aber wieder frei.
Der dritte im Bunde hieß Farit, erwähnungsgemäß Türke, und wurde auf einer Klassenfahrt einmal so heftig in die Wade gebissen, dass er zwei Tage nicht aufhören konnte, über den Biss zu lamentieren und der Übeltäterin (der er zuvor übel mitgespielt hatte) Krankheiten und Unglück an den Hals zu wünschen, immerhin hatte sich diese nunmehr aber einigen Respekt beim ihm erbissen. Farit wurde später, wer weiß auch aufgrund dieser Erfahrung, Kleinstadt-Anwalt.
Nun also verkündete der Hüne Chris den beiden anderen, er habe einen Plan, wie an eine quickliche Summe Geld zu kommen sei, nämlich durch Nutzung einer Sicherheitslücke der Firma Hertie, ein Kaufhaus, das später im Zuge der Kaufhauskrise vom Markt verschwand. Eingeweiht wurden Nils und Farit. Eine junge Dame, die bereits zum dritten Mal die 11. Klasse absolvierte, spielt ebenfalls eine Rolle, da zur Durchführung des Plans eine so genannte Mitarbeiterkarte benötigt wurde und die Frau aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters (20) bereits im Berufsleben stand, als Kassenkraft und Sortier- und Einräumhilfe bei besagtem Hertie nämlich.
Der Trick sollte darin bestehen, mit Hilfe der Mitarbeiterkarte an ein Rabattformular zu gelangen, auf diesem dann vermeintlich getätigte Käufe einzutragen, um später den Mitarbeiterrabatt von 25 Prozent auf den gesamten „Einkauf“ bei der Zentralkasse des Hauses einzustreichen. Als Beleg für einen Kauf genügte die Kassenquittung und so musste man nur durch´s Einkaufsparadies bummeln und nach weggeworfenen Quittungen Ausschau halten, die Werte korrekt ins Formular eintragen und mit Unterschrift (tatsächlich hatten die Herren zu diesem Zweck die Autogramme von Fußballgrößen wie Lothar Matthäus, Uwe Bein oder Franz Beckenbauer nachahmen gelernt) die jeweilige Zeile abschließen.
Nach einem erfolgreichen Probedurchgang – eine Quittung für ein Paar Sportschuhe zu rund einhundert D-Mark brachte die erwünschten 25 Mark – traf man sich tags drauf zum gemeinsamen Kassenzettel sammeln in der Filiale des Einzelhändlers. Schon bald entwickelte die gemeinsame Arbeit eine beträchtliche Dynamik. Man beschloss, sich, sich auf die Abteilungen des Warenhauses zu konzentrieren, in denen vergleichsweise Hochpreisiges, aber gleichzeitig nicht allzu Sperriges zu erwerben war, wie Pelzabteilung, Schmuckabteilung oder Kleinelektronik, wobei sich herausstellte, dass die Käufer tatsächlich Quittungen zu mehreren hundert bis zu zweitausend D-Mark vergessen oder noch in der Filiale weggeworfen hatten, was die Sammler veranlasste, sich den baldigen Reichtum in den wildesten Farben auszumalen. Es wurde von ihnen viel und laut gelacht, man konnte sich kaum einkriegen und befeuerte sich gegenseitig in scherzigen Einlassungen zu folgenden Themen: Blödheit der Quittungenliegenlasser, eigene Genialität (wegen des sich abzeichnenden Coup-Erfolges), bevorstehendes Luxusleben.
Nachdem ausreichend Belege im Formular eingetragen waren, schritt man zum Abschluss des Geschäfts. Zunächst mussten die Quittungen an das Hauptformular geheftet werden, was man leicht durch Diebstahl einiger Heftklammern bewerkstelligte – schließlich befand man sich ja in einem Warenhaus. Zur Abzeichnung der Posten zogen sich die Herren nunmehr auf die Warenhaustoilette zurück, zwängten sich zu dritt in eine Toilettenkabine und setzten die gelernten Unterschriften der Fußballhelden hinter die einzelnen Positionen. „Das waren wir nicht, das waren Uwe Bein und Lothar Matthäus, wie man sieht“, rief Nils, die Situation des Erwischtwerdens parodierend, und löste damit einen erstaunlichen Lachanfall bei sich und den anderen aus. Dermaßen in Rauschstimmung versetzt, schloss man das Werk ab und begab sich zur Zentralkasse des Unternehmens. Auf dem Rabattzettel hatten sich rund 10.000 D-Mark, mithin ein zu erhaltender Rabatt von etwas um 2500 DM angesammelt, den man jetzt einzustreichen gedachte.
Chris übergab das gesammelte Werk einer Schaltermitarbeiterin, die die einzelnen Posten kontrollierte, alles für korrekt befand und den Herren anschließend bekundete, sie wolle kurz ins angeschlossene Büro gehen, um die Auszahlung zu veranlassen. Da verflüssigte sich Farit Richtung Filialausgang, so dass kurz drauf sich nur Chris und Nils umzingelt sahen von Sicherheitsmitarbeitern des Unternehmens, die die beiden Herren als nächstes freundlich darum baten, sie in die Katakomben der Filiale zu begleiten. Eine Bitte, die sie mit sanftem körperlichen Schiebedruck zu untermauern wussten. Wie sich viel später herausstellen sollte, hatte sich unter den abgegebenen Quittungen auch eine Tagesumsatzbilanzrechnung des Vortages befunden. Die wurden täglich nach Betriebsschluss von der Kasse auf Knopfdruck erstellt und dann in der Buchhaltung abgeheftet, an diesem Vortag jedoch hatte die zuständige Kassenkraft den Beleg im Kassenbereich liegen lassen, warum ist unbekannt.
Auf mehrfaches Insistieren, wer denn der dritte im Bunde sei, man habe Überwachungsbilder und derjenige sei ohnehin leicht zu ermitteln, und ein unkooperatives Verhalten verschlechtere die Situation der beiden Gefangenen, verrieten diese dessen Namen.
Sodann folgte man den durchgehend stiernackigen Sicherheitsmännern und wurde zur allgemeinen Überraschung in das mit allerlei Fußballdevotionalien, afrikanischen Souvenirs und Flaggen sowie Fußball-Fanartikeln geschmückten Büro des damaligen Vorsitzenden der so genannten Ghana-Union geführt, einer Organisation, von der gemunkelt wurde, sie bestehe mehr oder minder nur aus einer Person, dem nämlichen Vorsitzenden, und nur zu einem einzigen Zweck, nämlich der Erlangung von Freikarten für die Heimspiele des örtlichen Fußballclubs Eintracht Frankfurt, bei dem damals der ghanaische Nationalspieler Yeboah mitwirkte, dessen berühmtester Fan nämlich der Ghana-Union-Vorsitzende war. Als Musterghanaer und Aushängeschild der Fankultur des Vereins fand er häufig in der Fußballberichterstattung des Fernsehens mit Einblendungen und sogar Interviews Berücksichtigung und aus symbolischen Gründen wurde er von der Club-Geschäftsleitung mit freiem Eintritt bedacht, was er damit dankte, dass er während der Spiele unablässig eine überdimensionierte Ghana-Flagge zu schwingen bereit war – sehr zum Unmut derer, die auf der Tribüne hinter ihm postiert waren.
Nachdem der Vorsitzende, der offensichtlich im Hauptberufe Leiter des Hertie-Sicherheitsdienstes war, den beiden Herren kopfschüttelnd unterbreitet hatte, nunmehr die Polizei rufen zu müssen, da der Betrug ja aufgeflogen war, wies Chris wie abgesprochen darauf hin, dass doch die Unterschriften von Bein, Matthäus und Beckenbauer stammten. „Sie können das direkt überprüfen“, triumphierte der Hüne, fröhlich auf die direkt hinter dem Chefdetektiv an der Bürowand angebrachte Autogrammkartenwand deutend.
„Ha, die sind doch Millionäre“, erwiderte der Sicherheitsmann clever und mit starkem ghanaischen Akzent, „die würden doch nicht wegen so ein paar Mark so eine Arbeit machen!“
Leider ging den beiden Herren nun die Erkenntnis der Ernsthaftigkeit der Situation, in die sie geraten waren, endgültig ab und der Detektiv stimmte bald in die unkontrollierbaren Lachanfälle der beiden ein, zu komisch auch für ihn die Vorstellung, Matthäus, Bein und Beckenbauer könnten einen solchen Coup durchziehen, noch dazu kurz vor der WM. „Matthäus würde sich wie immer verstecken!“, brüllte der Schwarze , „den würden wir wohl kaum kriegen!“ und warf brüllend über diesen anspielungsreichen Witz den Kopf in den Nacken und Chris ergänzte, den „Kaiser“ parodierend: „Ja gut, der Lothar, des is an Weltstar, der lässt hoit auch mal die andern gut ausschaun, ge?“ – „Und Bein“, brüllte Nils, „würde sich nur auf einen Abschnitt in einer Abteilung konzentrieren, alles andere wäre zu viel Laufarbeit.“ – „Ja“, grölte da der Detektiv, „und zwar auf die Kinderabteilung“ – ein Witz, den die beiden Herren nicht verstanden.
Den beiden Polizisten, die bereits einige Sekunden in der Tür zum Detektivbüro gestanden hatten, bot sich ein interessantes Bild. Warum man sie denn genau gerufen habe, fragten sie nun und der Meisterdetektiv erklärte den Beamten strahlend die Sachlage und verabschiedete sich überschwänglich von den beiden Delinquenten, worauf die Herren per Handschelle aneinander gekettet wurden und sich auf die Rückbank des draußen bereitstehenden Streifenfahrzeugs setzen mussten.
Während der Fahrt bemühten sich Chris und Nils, das Prusten einzustellen, allein es gelang ihnen nicht – nicht einmal ein ernster Blick des Beifahrerpolizisten samt der Feststellung, er könne nun wirklich nicht erkennen, was an der Lage für die Herren denn so unglaublich witzig sei, half. Vielmehr brachte Nils nur ein verprustetes „Wir auch nicht, Herr Wachtmeister“ heraus, was zu weiteren Lachsalven seitens der beiden Verbrecher führte. Auf dem Revier wurde man zunächst an einem Heizungsrohr befestigt.
Kurz drauf wurden Nils und Chris in das Hauptkommissar-Büro gerufen und obgleich sich die Betrüger unterdessen stark am Riemen gerissen hatten, war es mit der Beherrschung bei Eintritt in das Büro vorbei, denn auch im Arbeitszimmer des Kommissars waren reichlich Fußball-Devotionalien platziert und Chris vermutete – vor Lachen kaum zu verstehen – man sei wohl in einem obskuren Eintracht-Frankfurt-Albtraum gelandet. Dem braven Polizisten hingegen gelang es mit der These, Dragoslav Stepanovic sei ein ahnungsloser Stümper und trage die Schuld an der verpassten Meisterschaft, die Heiterkeit zu beenden. Stattdessen entbrannte zwischen den dreien nunmehr eine angeregte Diskussion über die Fähigkeiten des Coaches, die nach Ansicht des Ordnungshüters in erster Linie in „Äppelwein saufen“ bestand, während die beiden Kriminellen auf manchen taktischen Kniff des Serben verwiesen und darauf, dass solch geniale Spieler wie Bein, Möller oder Yeboah eben eine lange Leine und einen Äppelwein nach Trainingsende benötigten, was ein autoritärer Charakter wie der Herr Kommissar naturgemäß nicht verstehen könne. Man steckte mitten in einer Debatte über die Personalpolitik, sowie die mangelnde Form des einzigen Liberos im Aufgebot, Manfred Binz, als ein Mann in den Raum trat, die beiden Festgesetzten und den Polizisten begrüßte und sich als Nils´ Vater vorstellte. Er sei gerufen worden, die beiden Verbrecher abzuholen und nach Hause zu geleiten. Was dann auch geschah.
In den folgenden Wochen wurden dann noch allerlei Versuche unternommen, die Herrschaften zu entlasten, sich beim Hausmanagement zu entschuldigen und solches Zeug, das nun eben aufstrebend-bürgerlichen Eltern so einfällt.
Schließlich kam es zu einer Gerichtsverhandlung, anlässlich derer der Türke nun behauptete, er sei bei dem ganzen Schlamassel überhaupt nicht zugegen gewesen, die anderen Herren hätten seine Tatbeteiligung nur erfunden, da sie Nazis seien. Diese sonderliche Verteidigungsstrategie wurde nun allerdings nicht nur dadurch konterkariert, dass die Kaufhausbediensteten ebenfalls eine dritte Person erinnerten und ebenjene im Türken auch wiedererkannten, sondern sie wurde vom ansonsten wohlwollenden und gut gelaunten Richter als überflüssige Starrsinnigkeit gewertet, so dass der Türke alles sogar mehr soziale Arbeitsstunden als Strafe erhielt als die anderen beiden Herren, was wiederum Nils auf den Plan rief, der Eurem Ehren mitteilte, es verhielte sich aber doch so, dass der Türke tatsächlich von den dreien die geringste Kriminalenergie aufgebracht habe, ja an den Vorbereitungen und Heckereien kaum beteiligt gewesen sei und daher trotz Starrsinn die gegen ihn verhängte höhere Anzahl Sozialarbeitsstunden wiederum nicht so ganz gerechtfertigt sein könne. Worauf der Richter die Sache rund machte und alle drei die gleiche Strafe erhielten.
Womit dann aber auch genug ist mit dem Unsinn.