Untot in Gostenhof: (6) Ida im Büro

Ida überragte die füllige Sekretärin, die am Kopierer stand, um eineinhalb Kopflängen. Die Dame kopierte mühsam Seiten aus einem Buch und stellte sich dabei so ungeschickt an, dass die Kopien zur Hälfte komplett schwarz waren. 

»Hübsch sieht das aus«, sagte Ida, »aber brauchen Sie noch lange?« 

»Ich wollte eigentlich erst Mittag machen und danach dann fertig …« 

Ida hatte keine Eile. Sie schlenderte zurück in ihr Büro. Die Sekretärin setzte sich an ihren Tisch und begann ein Butterbrot zu kauen, wobei ihr Brösel aus dem Mundwinkel rieselten. 

Etwa zwei Stunden später machte Ida einen weiteren Anlauf. Diesmal war der Kopierer frei, aber der Papiereinzug war hoffnungslos verstopft, weil der letzte Benutzer der Maschine, anstatt den Papierstau zu beseitigen, hemmungslos immer wieder versucht hatte, eine weitere Kopie anzufertigen. Ida telefonierte mit dem Haustechniker. Sie wählte die Nummer aus dem Gedächtnis, denn die Nummer, die am Gerät angeschrieben stand, war, wie sie aus eigener Erfahrung wusste, falsch. 

»Sie wissen, weshalb ich anrufen?« sagte Ida, als am anderen Ende der Leitung jemand abhob. Damit war das Gespräch dann auch schon wieder vorbei. 

Ida ging in ihr Büro und begann zu warten. Sie kramte aus der Seitentasche ihres schwarzen Kleides eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug. Sie rauchte ungestört, denn sie war noch am selben Tag, als das runde Kästchen montiert worden war, auf den Schreibtisch gestiegen und hatte dem Feuermelder an der Decke eigenhändig die Drähte abgezwickt. 

Ida war lange genug bei der Firma, um aus den Geräuschen, die vom Flur her zu ihr drangen, schließen zu können, dass der Haustechniker kam, einen ellenlangen Fluch ausstieß, als er die Schweinerei im Kopierer erblickte, und dann das Problem innerhalb von zwei Minuten behob. Leider hörte Ida auch, wie sofort, kaum dass sich die Tür hinter dem Haustechniker geschlossen hatte, der Sachbearbeiter, der ein Büro schräg über den Gang bewohnte, zum Kopierer eilte. Sie würde noch ein wenig warten müssen. Ida langweilte sich noch einen Tacken mehr und griff zum Telefon, um ihre Tante Mathilda anzurufen. 

»Hallo, Tante Mathilda«, sagte sie. »Ich kann leider noch nichts Genaueres berichten, mir sind hier ein paar Dinge dazwischen gekommen.« 

»Ach Ida, bin ich froh, dass du anrufst! Dein Onkel Serban ist heute mal wieder kaum zu ertragen! Er will seinen schattenlosen Doppelgänger zu den Leuten ins Vorderhaus schicken, weil die gestern Nacht wieder bis drei Uhr früh gefeiert haben …«, begann Tante Mathilda zu lamentieren. 

»Aber was ist daran verwerflich? Serban will nun mal nachts in Ruhe seine Zeitung lesen, und der schattenlose Doppelgänger hat sich doch bewährt?«, fragte Ida und bemühte sich um Sachlichkeit. 

»Bei den Russen – ja, aber die von gestern sind sicher keine orthodoxen, ich fürchte, es sind sogar Italiener!« rief Mathilda in äußerster Verzweiflung. 

»Beruhige dich, Tantchen!«, sagte Ida knapp. »Ich schaue heute nach der Arbeit bei euch auf einen Sprung vorbei, und wir überlegen in Ruhe, wie wir die Leute im Vorderhaus quälen können, o.k.? Ich muss jetzt weitermachen, sonst läuft mir die Zeit davon – bis später!« 

Ida legte auf, atmete tief durch und machte sich zum dritten Mal an diesem Tag auf zum Kopiergerät. Aber auch sonst hätte sie nichts zu tun gehabt. Der Fotokopierer stand diesmal verlassen da, als ob er sich schon den ganzen Tag genauso wie Ida langweilen würde. Ida klappte den Deckel, der die Mechanik des automatischen Einzugs in sich birgt, nach hinten weg. Auf der Glasplatte für die Vorlagen lag ein Brief, den ihr Kollege von schräg gegenüber offensichtlich vorhin vergessen hatte. Er hatte es wohl eilig gehabt, dachte Ida, denn der Brief war an ihn adressiert und stammte von einem Inkassobüro, das ausstehende Spielschulden anmahnte, die er in einem Spielautomaten-Center gemacht hatte. Ida überflog das Schreiben und lächelte, als sie das Wort »Pfändungsbefehl« las. 

Sie legte den Brief auf das nebenan stehende Faxgerät, damit noch viele weitere Kollegen ihn lesen konnten, griff tief in ihr schwarzes Kleid und zog vorsichtig ihre Hand wieder heraus, die sie um etwas Kleines, Empfindliches geschlossen hatte. Behutsam setzte sie eine zerzauste Fledermaus auf die Glasplatte und breitete mit ihren dünnen, weißen Fingern die Flügel des Tieres aus. Sie klappte den Deckel der Maschine wieder herab, achtete jedoch darauf, dass zwischen diesem und der Glasplatte ausreichend Raum für das kleine Lebewesen blieb. 

Zehn Minuten später saß Ida wieder an ihrem Schreibtisch. Aus dem Aschenbecher stieg ein dünner Rauchfaden fast senkrecht nach oben, doch Ida war so vertieft in die Fotokopien der kleinen Fledermaus, die sie wieder sicher unter ihrem Kleid verstaut hatte, dass sie gerade nicht an ihre Zigarette denken konnte. 

»Da haben wir es ja schon«, murmelte sie. »Den tausend heulenden Höllenhunden sei es gepriesen!« 

Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer ihrer Tante Mathilda. 

»Ich weiß jetzt, was dem kleinen Hermann fehlt«, berichtete Ida. »Er muss einen Zahn gefressen haben, der ihm im Magen liegen geblieben ist. Wie ich es mir erhofft hatte, hat die Lampe des Kopierers deinen kleinen Schatz wunderbar durchleuchtet. Ich konnte das Ding in der Fotokopie ganz deutlich erkennen, es ist ein menschlicher Backenzahn.« 

»Das sind wenigstens einmal gute Nachrichten«, sagte Mathilda am anderen Ende der Leitung, und Ida konnte die Erleichterung in ihrer Stimme hören. »Zwei Tage Diät werden genügen, und schon ist er wieder auf dem Damm. Bei deinem Onkel hat das bisher auch jedes Mal funktioniert, wenn er sich überfressen hat.« 

Ida verließ ihr Büro kurz nach fünf. Draußen war es schon dunkel, aber sie behielt ihre Sonnenbrille, die sie schon den ganzen Tag getragen hatte, auf der Nase. Sie fischte ihren Schlüsselbund aus der Tasche, an dem die Knochen erlegter und erlegener Geschöpfe baumelten. Dann stieg sie in ihr silbernes Auto und startete den Motor. Als sie den Rückwärtsgang einlegte, seilte sich vom Dachhimmel eine kleine schwarze Spinne ab und blieb direkt vor ihrer Nase hängen. 

»Na, Göring? War dir langweilig?«, fragte Ida. »Mir auch, aber jetzt geht’s nach Hause!«

Die Spinne wippte an ihrem Faden, als ob sie nicken wollte, und Ida fuhr los.


Erzähler: Carsten Striepe
Ida: Julia Gruber

Mathilda: Verena Schmidt
Sekretärin: Viktoria Solner

Buch:
Theobald O.J. Fuchs
Regie/Schnitt:
Lukas Münich
Titelmusik:
Andreas V. Weber