Theobald Fuchs: Wenn die Familie zum Überliefern anfängt

Anfangs fand ich die Story absolut plausibel. Die kleinen Schrotkörner, an denen man sich früher gerne mal den einen oder anderen Zahn ausbiss, seien, so behauptete er, absichtlich vom Koch hinein praktiziert worden. In den Rehbraten mit Sahne und Preißelbeeren. Damit die Gäste sich davon überzeugten, dass das Wild absolut frisch geschossen und eh aus der Gegend sei.

Ja, klar, warum eigentlich nicht, dachte ich. Vom Jagen habe ich keine blasse Ahnung, bloß als er dann behauptete, dass Rehe und Hirsche eigentlich gar keine Tiere sondern Pflanzen seien, irritierte mich das – ehrlich gesagt – schon ein wenig.

Aber nicht schlimm. Nur so ein klitzewinziges Gefühl, das in mir, nun – nicht wuchs, aber schon irgendwie keimte, ein Gefühl, als stimme in einem riesengroßen Gesamtbild ein fitzikleines Detailchen nicht. Schwer zu sagen, welches genau, aber etwas störte.

Dass somit Wildbret ideal für Vegetarier sei, leuchtete mir wiederum ein, logisch, logisch, popogisch: wer sich im Wald ernährt, besteht irgendwo irgendwann auch aus Wald. Dann fängt die Zukunft an… Äh, falsches Thema. Weiter im Text: Dass sich seit vorgeschichtlicher Zeit aus den sterblichen Überresten des Wildes ein spezielles Erdöl gebildet hat, verblüffte mich abermals. Allerdings einen Moment nur. Unter hohem Druck über lange Zeiträume entstünde in tiefen Schichten aus zerquetschen Hirschkadavern ein beinahe milchiges, orangegrünfarbenes Öl. Wildes Erdöl werde es genannt, so raunte er, Österreich und das Saarland seien die beiden größten Produzenten. Auf der Erde, im bekannten Teil des Sonnensystems, universell. Soweit, so transparent.

Jedenfalls: für vertrauenswürdig hielt ich die Empfehlung, Messer und Gabeln mit diesem Öl zu behandeln. Grund offensichtlich zweifach: damit sie nicht nur nie mehr stumpf würden. Sondern auch, damit weder Brot noch die Frucht, die damit geschnitten wird, jemals wieder schimmelte. Coole Sache.

Anfangs bezweifelte ich aber, was darüber hinaus behauptet wurde. Dass man sogar die Sprache des Landes, aus dem die Wurst stamme, sprechen könne, wenn sie mit einem in dieser Weise präparierten Messer geschnitten werde. Beispiele: Mortadella, Cheddar, Salami.

Doch da mein Ururururur-Großvater, als er sich mit dem Jagdmesser in den Daumen geschnitten hatte, daraufhin stundenlang sehr komplexe und phantasiereiche ungarische Flüche ausstieß (oder etwas, das so ähnlich klang, so wird es zumindest berichtet), bin ich heute restlos überzeugt. Von nichts anderem als der öligen Wahrheit des Wildes nämlich.

Isso, sagte der alte Jäger, und ich glaubte ihm.

Theobald Fuchs: Es ist nicht immer vorteilhaft, gut zu schmecken

… es war genauso, wie ich es auf YouTube recherchiert hatte: erst nach zwei Tagen ununterbrochenen Kochens fiel das Fleisch von den Knochen. Oder besser gesagt: die Knochen ploppten aus dem Geschmorten, als wäre es ihm ein Bedürfnis, sie loszuwerden. Mir war dabei völlig klar, dass ich bei einem Hype mitmachte. Seitdem dieses Nahrungsmittel selbst von Veganern akzeptiert, ja sogar in höchsten Tönen gelobt wird, wollen es alle selbst probieren. Kaum zu glauben, aber es war seit Jahren oder Jahrzehnten unentdeckt geblieben, bis ein Isländer, glaube ich – oder doch jemand in Kanada? – darauf gekommen war, sie zu essen. Doch auch das erst nach vielen Versuchen und Fehlschlägen. Nachdem die Knochen sich vom Rest gelöst haben, muss man genau auf die Zeit achten. Noch weitere fünfundzwanzig Minuten auf kleiner Flamme knöcheln, pardon: köcheln, keine Sekunde länger, sonst verwandelt sich die kulinarische Köstlichkeit in eine unverdauliche, zementartige Masse. Falls das geschieht, ist es sehr ärgerlich, nicht nur, weil das Zeug immer noch sündhaft teuer ist, obwohl es quasi ohne Produktionskosten in der freien Natur eingesammelt wird. Aber es war schon ein Aufwand, zwei Tage am Herd zu stehen, immer wieder Brühe und Salzsäure zuzugeben, regelmäßig die giftigen Gase abzusaugen, von dem irrsinnigen Pfeifen, das aus allen Poren strömte, einmal abgesehen. Doch ich erwischte den richtigen Zeitpunkt, schüttete das crushed ice, das ich natürlich bereitgelegt hatte, in den Topf, gab gekochte Kartoffeln, Sägemehl und Pflaumen zu. Dann alles durch den Mixer und fertig. Und ich muss sagen: es war köstlich! Wirklich unvergleichlich, nur wenige andere Speisen können da mithalten. Und das alles ohne Fett und Zucker. Ich war begeistert! Keinen Menschen interessiert es mehr, wann und wie sie auf die Erde gelangt und dort bis vor Kurzem unerkannt gelebt hatten. Diese Außerirdischen schmecken einfach echt voll lecker! 

Theobald Fuchs: Denken, trocknen, sammeln, zu Staub, weiter.

Bis heute mache ich das, jeden Tag. Wenn ich wo eine tote Fliege liegen sehe, hebe ich sie vorsichtig auf. Lege sie zu den anderen auf das kleine Häuflein. In jedem Zimmer habe ich so ein Häuflein, in der windstillen Ecke natürlich. Die toten Fliegen sind so leicht, der leiseste Luftzug wirbelt sie davon. Noch immer, nach so vielen Jahren bin ich bei jeder einzelnen toten Fliege erstaunt, wie schwerelos sie ist, wie trocken, wie zerbrechlich. 

Unser Kaiser war damals viel weiter. Im Erkennen, im Verstehen und im Nutzen. Und überhaupt. Er wusste lange vor allen anderen, dass im Gesumm der Fliegen die Wahrheit steckt. Sssssssss…. Er nährte seine Unfehlbarkeit mit der Weisheit der Fliegen. Sssssss…. 

Der Weisheit der dicken schwarzen Fliegen, wohlgemerkt. Der dicken schwarzen Fliegen, deren Flügel so blausamten schimmern. Der dicken schwarzen Fliegen mit diesen grünlich glänzenden Facettenaugen. Der dicken schwarzen Fliegen, die irgendwann ohne Vorwarnung aufhören, zu summen und zu fliegen und gegen die Fensterscheibe zu dotzen. Dotz, dotz, dotz. 

Sondern tot aus der Luft fallen. Und noch während des Fallens auf die Erde so trocken wie Staub und so leicht wie Spinnengespinst werden. 

Meine Aufgabe war, die verbrauchten Fliegen, die rings um den Kaiser auf dem Boden lagen, aufzusammeln und im Saal der verbrauchten Gedanken zu verwahren. Wie die Verpackungen guter Ideen, die man vielleicht noch einmal benutzen kann. Weihnachten, Geburtstagsgeschenk und so. Ich brachte sie in den riesigen Saal, ganz mit weißem Marmor ausgekleidet, ohne Fenster, nur eine einzige Tür. Von der Decke blickte ein gewaltiges Facettenauge, das ich selbst dorthin gemalt hatte, auf die winzigen Körper herab und bewachte sie. Kein Luftzug störte die Ruhe der leeren Hüllen. 

Oft lagen am Morgen, wenn der Kaiser bis tief in die Nacht über schwierigsten Fragen gegrübelt hatte, um seinen schlafenden Körper in etlichen spitzkegeligen Haufen die verbrauchten Stubenfliegen. Wie die Patronenhülsen um ein Maschinengewehr, das bis zum Sonnenaufgang in einen dunklen Wald gefeuert hat. 

Ich sammelte vorsichtig die leeren Hülsen ein, stets darauf bedacht, seine Majestät nicht zu wecken. Nach getaner Arbeit stand ich da, betrachtete unseren gottgleichen Herrscher und lächelte, denn ich konnte ihm vertrauen. Er schöpfte seine Weisheit aus dem Gesumme der Fliegen, wie hätte der Erleuchtete da je in die Irre gehen können? Je? In die Irre? Gehen? 

Doch nur: wie hätte es anders? Eines Tages, als ich meinen schlafenden Kaiser betrachtete, sah er nicht aus wie sonst. Kein summender Atem entwich mehr seinem Munde, der ausgetrocknet war, die Lippen rissig. Eine Fliege saß auf seinem Augenlid, kletterte wie auf einer Sprossenwand über die Wimpern, zwischen denen ein halb geöffnetes, totenstarres Auge hervor linste. 

Ich war es, der des Kaisers Leichnam fand und das ganze, riesig weite Land in abgrundtiefe Trauer stürzte. So jedenfalls hätte ich es mir gewünscht. Die meisten Menschen haben aber leider gar keine Ahnung von der Existenz ihres Kaisers. Sie verabscheuen Fliegen, glauben, eigene Gedanken zu haben, und wedeln mit der Hand in der Luft, wenn sie das Summen des Geistes im Ohr bemerken, anstatt aufmerksam hinzuhören, was er ihnen verraten möchte. 

Und jetzt? Ich sammele weiter unermüdlich die Hüllen vergangener Gedanken. Es ist wie beim Pilzesuchen – siehst du einen, siehst du alle. Sie liegen überall herum, vor den Kneipen und Wirtshäusern, in den Straßen, in den U-Bahnen und Bussen, in Pausenhöfen und Konferenzsälen, in der Messe, im Rathaus, im Fußballstadion, in der Bibliothek. Ich schaffe von überall tote Fliegen nach Hause, wo sie inzwischen sämtliche Fenstersimse und Regalbretter bedecken, den Keller verstopfen und die Badewanne blockieren. 

Ich werde weitermachen bis zu dem Tag, an dem die Masse eine kritische Grenze überschreitet. Dann wird der blausamten schimmernde Berg unter seinem eigenen Gewicht in sich zusammenbrechen und mit einer gewaltigen Supernova das bisher denkbare Universum sprengen. 

Eine neue Zeit wird beginnen, denn wir werden unsere Welt neu denken. Und gut daran tun, auf die Fliegen zu hören… sssssss, ssssssss, ssssssss…

Theobald Fuchs: Fernsehen

Der Mann, der uns den Fernseher installierte, tauchte an einem Donnerstagabend im Juni 1974 auf. Ohne Voranmeldung stand er in der Uniform des Fernsehministeriums vor der Tür. Wir wussten, dass Widerstand zwecklos war. Er ging, ohne Zeit mit Ritualen der Höflichkeit zu vergeuden, direkt ins Wohnzimmer und sagte, dass das Tischchen, auf dem meine Mutter vier oder fünf Steingutschüsseln mit Kakteen errichtet hatte, perfekt geeignet sei. Er stellte die Schüsseln auf den Boden und baute das Gerät auf.

Kraft seines Amtes ernannte er meine Oma zur Zuständigen für den Fernseher. Sie hatte das alleinige Recht, ihn ein- und auszuschalten und das Programm zu wählen. Es gab das erste Programm, das zweite, das allerdings nur schlecht zu empfangen war, und das dritte, das ab sechzehn Uhr Bildungssendungen ausstrahlte. Oma interessierte sich nicht für Tierfilme oder Berichte über moderne Methoden der Landwirtschaft. Sie lehnte auch ab, sich durch das Schneetreiben und Flimmern auf dem Bildschirm mit den Quizzen und Musikrevuen im ZDF abzuquälen, so dass der Drehknopf zur Wahl des Senders praktisch unberührt auf ARD stehenblieb. Zwanzig Stunden pro Woche müsse das Gerät laufen, erklärte der Techniker, sonst würden wir Schwierigkeiten mit der Behörde für Fernsehkonsum bekommen.

Meine Mutter achtete peinlich genau darauf, dass wir die vorgeschriebenen Soll-Stunden vor dem Fernseher verbrachten. Wir versuchten natürlich, uns irgendwie zu drücken. Doch so gerne wir unsere Hausaufgaben gemacht, unsere Zimmer aufgeräumt oder beim Abwasch geholfen hätten – Mutter kannte keine Gnade. Da half uns kein Bitten und Betteln. Unerbittlich wurde die Mattscheibe Punkt vier Uhr eingeschalten. Wir mussten Heidi, Wickie und die starken Männer und Bugs Bunny ansehen, bis uns schlecht wurde. Dick und Doof und die Schlümpfe waren noch halbwegs zu ertragen, aber als später auch noch endlose Folgen von Luis des Funes, Bud Spencer und Unsere kleine Farm das Pensum erweiterten, wurde es oft zur Qual, bis 10 Uhr Abends in die Röhre zu gucken.

Oma erwies sich als die Tapferste. Sie hatte Krieg und Wiederaufbau durchgestanden und währenddessen drei Kinder großgezogen, da würde sie wohl nicht an dieser Aufgabe scheitern. Mit eisernem Willen verfolgte sie Derrick und den Alten, die Quiz-Shows mit Rudi Carrell, Wim Thoelke und Hans Rosenthal, Klimbim mit Ingrid Steeger und die großen Shows mit Harald Juhnke und dem James Last Orchester. Wir bewunderten Oma für ihre Willensstärke und Ausdauer. Typisch Kriegsgeneration: sie hielt einfach alles aus. Bis ihr die Augen zu und die Stricknadeln aus der Hand fielen. Sie erwachte zur Nationalhymne um Mitternacht. Danach gab das Gerät nur noch Rauschen von sich, ein weiterer erfolgreicher Tag vor dem Fernseher war absolviert. Oma legte die Stricknadeln für den nächsten harten Fernsehtag griffbereit auf die Ablage unter dem Fernsehtisch, erhob sich mühsam aus dem Fernsehsessel und ging ins Bett. Am Morgen klagte sie regelmäßig, dass sie nicht schlafen gekonnt habe und schon um fünf Uhr wach gewesen sei. Da waren dann noch endlose sieben Stunden bis zum Mittagessen zu überbrücken und zwei weitere, bis sie ihren Posten vor der Glotze wieder besetzen konnte.

Als um 1980 herum alle Haushalte gesetzlich verpflichtet wurden, für störungsfreien Empfang aller Kanäle zu sorgen und mein Vater einen Fünfzehn-Meter-Masten auf dem Berg hinter dem Haus errichtete, erweiterte sich das Pflichtprogramm noch einmal gewaltig, doch Oma wuchs mit der Aufgabe über sich selbst hinaus.

Mutter achtete sehr darauf, dass wir die Regeln einhielten, weil sie wusste, welchen Ärger es der Familie bereiten würde, wenn wir bei den Behörden als Fernsehverweigerer gegolten hätten. Gerade mein Vater durfte sich als Beamter unter keinen Umständen gegen die Fernsehpflicht aussprechen, und wir Kinder wären von der Schule geflogen, wenn wir nicht die montäglichen Abfragen zum Inhalt des Programms der vergangenen Woche bestanden hätten.

Erst viele Jahre später wurde mir aber auch bewusst, dass meine Mutter eine Rebellin war, eine, die sich dem Druck der staatlichen Vorschriften nicht so einfach beugte. Sie war es, die jeden Abend bald nach den Nachrichten ausrief, dass sie diesen Schwachsinn nicht mehr ertragen können und sich in die Küche setzen würde, um ein Buch zu lesen. Heute bin ich stolz auf meine Mutter, damals allerdings schämte ich mich für sie, weil sie sich Didi Hallervorden, der Schwarzwaldklinik, der Lindenstraße, dem großen Preis und Wetten daß…? hartnäckig verweigerte. Was nur die Nachbarn über uns gedacht hätten, wenn es sich im Dorf herumgesprochen hätte, dass unsere Mutter nicht gern fernsah? Dass bei uns täglich das Gesetz gebrochen wurde, als lebten wir wie die Todfeinde im Ostblock, die das Fernsehen aus ideologischen Gründen ablehnten und erst gar keine Geräte produzierten? Nicht nur gesellschaftlich wären wir mit Sicherheit erledigt gewesen, auch die Justiz ging damals gegen Verweigerer mit voller Härte ins Gericht.

Doch dann, im Jahr 1998 bekamen wir den Brief von der Regierung, dass wir den Fernseher jetzt ausschalten durften, wann immer wir wollten. Die Fernsehpflicht war abgeschafft – wir waren frei! Noch heute erinnere ich mich an diesen Tag als einen der schönsten in meinem Leben. Ich glaube, ich habe meine Mutter nie glücklicher gesehen als damals, als wir alle zusammen das Fernsehgerät zur Schlucht am Ende des Tals schleppten und in die finstere Felsspalte hinabwarfen.

Zwei Wochen später erreichten die Bautrupps mit dem Glasfaserkabel das Dorf und ein Kommissar ging von Tür zu Tür, um jeder Familie unmissverständlich klar zu machen, wie lange wir alle täglich im Internet zu surfen hatten.

Theobald Fuchs: Fliegen

Ich liebe es zu fliegen. Richtig zu fliegen, frei in der Luft, ohne Geräte, ohne Maschinen. Nur mit der Kraft meiner Arme. Dabei fühle ich mich sicher, da ich ja selbst entscheide, in welche Höhe ich steige und wohin ich segele. Da wo ich selbst hinkomme, komme ich auch wieder heil heraus und zurück und herunter. Das ist die alte Regel. Der ich vertraue. Deswegen hat eine Katze Schnurrhaare, damit sie spürt, ob sie aus einem Loch wieder herauskommt, ehe sie hinein kriecht.

Meine Mutter war dagegen, dass ich flog. Strikt dagegen. Sie wollte, dass ich etwas Gescheites lerne. Sie hatte wohl zu viele üble Geschichten gehört von Kindern, die ihren Eltern einfach davonflogen. Mein Vater hatte keine Angst deswegen, er unterstützte mich, zeigte mir auch ein paar gute Tricks wie am Rücken fliegen und in einer Wolke die Luft anhalten, damit einen keiner darin entdecken kann. Ich flog ja auch nicht einfach fort. Als es irgendwann soweit war, verabschiedete ich mich ordentlich wie es sich gehörte und sprang vom Fensterbrett aus der Küche. Meine Mutter weinte, ihr nasses Taschentuch flatterte im Wind, dabei flog ich nur ans Ende der Straße, wo die Schule stand.

Die Schule an sich war ganz o.k. Wir lernten dies und das, doch was mir nicht gefiel: es gab haufenweise unerfüllte Vorstellungen, nicht eintreffende Erwartungen, ungültige Versprechen.

»Gleich fliegst du raus!« sagten mir die Lehrer ein ums andere Mal.

Darauf freute ich mich immer, doch der Lehrer war ein Lügner. Große Enttäuschung. Zu Fuß verließ ich das Klassenzimmer, niemand beschwerte sich. Da war etwas versprochen worden, aber nicht gehalten.

Ich probierte es immer wieder, bis ich die Schule abgeschlossen hatte. Mit drei Schlössern, deren Schlüssel ich in einer Erdspalte versenkte. Und Wasser hinterher kippte. Heute ist dort das tote Meer. Das Salz darin kommt von den Tränen all der Schüler, die enttäuscht wurden. Von sich selbst, von den Lehrerinnen und Lehrern, vom Unmöglichen als solchem, das leider echt knorzengroß ist.

Doch was hülfe mehr gegen Kummer als Bewegung in der frischen Luft? Es gibt kein Problem, das sich nicht mit Fliegen lösen ließe!

Das Schönste aber ist, im Flugzeug zu fliegen. Während die anderen in ihre Sitze festgeschnallt dasitzen und Angst haben, dass die Maschine am Boden zerschellt.

Verkrampft und bleich klammern sie sich an die Armlehnen, stoßweise und gepresst atmen sie die dünne Luft in der Kabine. Nur ich bin entspannt, nur mich stört es nicht, wenn die Hände der Stewards und Stewardessen vor Angst zittern und sie den Gin Tonic verschütten und ihnen die Tränen über’s Gesicht laufen, während sie dir einen schönen Flug wünschen. Tränen, die sie um sich selbst weinen, dass sie so dumm gewesen waren und nichts Gescheites gelernt haben, etwas, worauf ihre Mütter endlos gedrängt hatten, sondern dass sie diesen Beruf ergriffen haben, der nichts anderes als ein Selbstmordkommando ist.

Ich gleite derweil sanft und entspannt über den Köpfen der Menschen von vorn bis zum Heck der Maschine und wieder zurück zur Tür, hinter der Pilot und Pilotin vor Angst Blut schwitzen und mit verkrampften Händen beten, was das Zeug hält. Immer auf und ab fliege ich, ganz ruhig, ohne Furcht. Bis wir zusammen landen, der große Vogel und ich.

Wenn ich es nicht könnte, wenn ich nicht fliegen könnte, überall hin, wo ich will, und ganz besonders im Flugzeug – ich glaube, ich hätte dann auch wie alle anderen höllische Flugangst… behauptet zumindest meine Therapeutin. Oh! Jetzt geht’s los. Hören Sie auch dieses Geräusch? Na, dieses sirrende Geräusch, das da aus dem linken Motor kommt? Ganz klar zu hören ist das, da stimmt doch etwas nicht! Ogottogottogott… wir stürzen sicher ab!

Theobald Fuchs: Tapezierer – Gefährder oder gefährdet, so viel ist unklar!

Wie gefährlich sind Tapezierer? Ist das massenhafte Auftreten von Tapezieren wirklich ein Zeichen für eine florierende Ökonische? Oder eher der Vorbote, dass die Menschen die Freundlichkeit verlernt haben?  

Aus aktuellem Anlass fragen wir: Wie gefährdet sind Tapezierer wirklich?  

Stimmt es, dass sie nicht mehr wissen wie man lächelt und daher alles »hinter die Tapete kehren« wollen? Fragezeichen…?  

Aber nein: wie ein Neuseeländisches Experiment gezeigt hat: die unkontrollierte Vermehrung des gemeinen Tapezierers bringt andere Gruppen rasch in Bedrängnis. Zum Beispiel den wandernden Kalkbrenner, die Papierschöpferin oder das nächtliche Mauerkratzerlein. Und was reimt sich schon auf Tapezierer? Richtig: Gegenieber.  

Das hat das Neuseeländische Experiment deutlich gezeigt: Die Übersiedlung der wenigen Überlebenden nach Australien – völlig sinnlos. Plötzlich flohen alle australischen Furzkissenbläser*innen über den »Leimeimer«, wie der Pazifik zwischen den Kontinentalstaaten genannt wird.  

Nun hat Neuseeland ein Problem, während in Australien alle Wohnungen schön Raufaser. Die Tapezierer jedoch, die haben sich erst noch einmal kräftig vermehrt und dann gegenseitig. So ist das eben in der Praxis.  

Scheiß auf Neuseeland. Elitäres Blumenmuster-Pack… Meine liebe Güte, bin ich heut drauf! Na ja, ganz normal. Lag heut früh schon Gefährdung in der Luft. Irgendwas mit dem Wetter, man glaubt es nicht! 

Theobald Fuchs: Heißgetränk.

Dieses Zeug da drinne. Gurgelt und gluckert im Glas. Es ist heiß. Heißer als heiß, (gesungen) heiß, überheiß… 

Wenn man einen Tee mit 500 Grad kochen könnte, würde er dann fünf mal stärker wärmen als? Oder würde man nur fünf mal stärker pusten müssen, damit er in der gleichen Zeit trinkbar ist in Klammern: und einen nicht tötet Klammer zu.
Trinkbar heißt: knapp unter Körpertemperatur. Besser ist das. 

Erst heizen und dann kühlen – wozu? Ich versteh’s nicht, hab’s nie verstanden, sorry.
Bin vom Typ her mehr kaltes Bier. Das ganze Thema hier, sorry, aber mir ist das zu… sagichmal: so direkt. Wäre jetzt ein Wortspiel an der Reihe, dann: zu heiß. So aber… Durchschaubar trifft’s am besten. 

Draußen ist es kalt wie ein gutes Bier, drinnen total warm, weil alle wie blöd heizen, damit sie barfuß auf dem Balkon Tiere nachtanzen können. Nackig. Weil Tiere ja auch keine Klamotten anhaben, die meisten jedenfalls. 

500 Grad im Hobbykeller, der Tee kocht von allein, bloß pusten, das musst du noch selber, und zwar fünf mal so stark, sonst dauert es fünf mal so lang. Wobei fünf noch eine Untertreibung ist, meiner natürlichen Bescheidenheit geschuldet. Sechs, sieben, das kommt schon eher an die Wahrheit hin. 

So feste pusten, dass vom Bier, das einfach nur kalt sein muss, der Schaum wegfliegt. Der Schaumfetzen im Flug gefriert, wegen des Gegenwinddingens. Irgendwohin fliegt. An eine Fensterscheibe zum Beispiel, wie eine fette Fliege zerspratzelt das, pladderadatzelt wie eine Fliege, auf die mit der Fliegenpatsche… Zosch und Patsch, voll krass! Gibt aber grad keine Fliegen, scheiß die Wand an, ist das vertrackt. Es muss in jedem Fall gefrorener Bierschaum sein, der Insektengestalt annahm. Damm it! 

Andererseits: ganz so kalt wie früher vertrage ich das Bier auch nicht mehr. Aber nicht falsch verstehen: Ich gehöre noch lange nicht zur Generation Tauchsieder. Knapp unter Zimmertemperatur, das passt, und den Schaum einfach nicht wegpusten, dann passiert auch nicht das, was. 

Und letztendlich muss ich sagen: ob heiß oder kalt – das ist dann irgendwo auch relativ.

Theobald Fuchs: Geist

Draußen brodelwarm, graue Wolkenflocken wie Asche nach Norden zu, die Hauswände gerötet vom tiefen Licht. Dann der Tisch, mit Bestimmtheit von jemand anderem gekauft, nicht von dem Typen, der jetzt und hier daran sitzt. Außerdem: eine besudelte weiße Tasse, ein Topfuntersetzer aus Kork, ein kahler dünner Ast, der sich hinter dem Mann in der Fensterscheibe hektisch schwarz verzweigt.

Seuchenstimmung in der Luft, als ob sich drei Straßen weiter ein Sumpf erstreckte, mit Augen im Schlamm lauernd, mit Händen, die Bäume unter brackiges Wasser ziehen.

»Nein«, sagt der Typ, »die Flasche bleibt zu.« Seine Stimme lässt keinen Raum für Zweifel an seiner Entschlossenheit. Zweifel brauchen Platz, so wie Kinder, sie können nicht gedeihen, wenn sie in einer Spalte zwischen zwei Grabsteinen aufwachsen sollen.

Die Frau, die Arme verschränkt, drückt ihren Hintern noch fester an die Arbeitsplatte, es sieht aus, als würde sie das Körperende, in das der Rücken schwungvoll ausläuft, tief einkerben wollen, um darin eine noch schickere Leimholzplatte zu befestigen. Sie verdreht die Augen. »Oh Mann!«, schnaubt sie. »Du wirst echt wie diese Leute… «

»Und du vergisst jedes mal wieder, was passiert, wenn… oder nicht?«

Der Typ kratzt sich den ungewaschen glitzernden Kopf und zündet sich eine Zigarette an, aber so, als ob er zum ersten Mal im Leben rauchen würde. Er wirft einen zweifelnden Blick auf den glimmenden Stengel und pustet zweidreivier Mal in die Glut.

»Na gut«, sagt die Frau und lenkt ihre Aufmerksamkeit zu mir wie den Suchstrahl eines Regenradars. Ich stehe immer noch in der Tür zur Küche, habe weder Mantel noch Fellmütze abgelegt, von meinem Spazierstock flattert feuchtes Laub.
»Tschüss!« Sie klatscht mir einen auffordernden Blick in die Fresse. Ich soll gehen. Sofort.

Doch so leicht gebe ich mich nicht zufrieden: »Nun aber mal halt. Ihr habt das Ding auf eBay gestellt, ich habe die Versteigerung gewonnen, ich habe das Geld bei mir und bin hier, um mein neues Eigentum abzuholen.«

»Tschüss!« sagt sie noch einmal. »Du weißt wohl nicht, dass du nicht so aussiehst, wie einer, der mit dem Ding umgehen kann?«

Jetzt bin ich ernsthaft beleidigt. Wenn ich etwas nicht leiden kann, dass mir jemand etwas nicht zutraut. Schließlich kann ich doch alles, nicht wahr? Ich schalte hoch auf Aggro.

»Wisst ihr, dass eine Wohnung auch immer ein auf links gestülpter Kopf ist? Ich sehe mich hier um und weiß genau, wie ihr so tickt. Nicht schlimm, gar nicht. Aber ihr könnt euch nicht vor mir verstecken.«

Die zwei schauen sich an, besprechen sich mit den Augen. Sie sind wie verändert, als hätten sie etwas verstanden, das wichtig ist für sie – mich jedoch nicht das geringste angeht.

»Nein« Der rauchende Mann bewegt sich zum ersten Mal, seitdem ich hier stehe, er bricht aus seiner Versteinerung, lehnt sich zurück, kratzt sich am Bauch. »Nein«, wiederholt er, »nimm das Scheißteil mit. Unter einer Bedingung: die Flasche bleibt zu. Dauerhaft. O.k.?«

Ich lächele freundlich.

»O.k.«, sage ich. »Geht klar. Ich interessiere mich sowieso nicht für Geister…«

Nachtrag:
Ein paar Jahre später sitze ich dann selbst in einer Küche, an der Anrichte lehnt eine Frau, die jener Frau täuschend ähnlich sieht, die mir damals die Flasche nicht überlassen wollte. Ich fühle mich ungewaschen, hocke im Unterhemd vor einer schmutzigen Tasse und rauche. Im Türstock steht ein Typ, der behauptet, die Flasche auf eBay ersteigert zu haben…

Theobald O.J. Fuchs: SEX (eine wahre Begebenheit)

Kalte Hände auf heißen Armen, Frösteln im Schatten, die Augen zusammen gekniffen.
Lichtreflexe über dem Wasser, nackte Beine, glatte Haut. So sieht das Setting aus.
Außerdem: Sich durch Badeanzugsstoffnässe drückende Brustwarzenhofkonturen.

Die Zeit steht, das Frösteln, die Helle.
Die Zeit steht, steht seit einer Weile,
Vielleicht Tage oder Wochen oder Monate,
Steht ununterbrochen.
Aber es muss ja weiter gehen.

Mit Sex. Mit Sex.

Mit Sex, nasser Haut, kühlen Füßen.
Sex wälzt Gras platt, Gras stachelt Sex an.
Gewicht hat Sex mit unseren Körpern.
Wir sind Körper, wir sind kein Gewicht.
Sex, der ganze Kopf voller Sex.

Ein Frösteln, ein warmer Luftwind,
die festgefahrene, stehende Zeit.
Still. Fest. Still. Stand.
Total geil, für immer geil.

Endstufennähe, näher geht nicht, noch näher hieße schmieden, wäre verschmolzen. Noch näher hieße, nicht mehr zu trennen, wie zwei Farben, vermischt bis zum letzten Ende.
Weißbunt. Atomblitz. Sternschlag.

Oder so: Ein Kuchenteig, den echt keiner mehr zerlegen wird in Butter und Zucker.

Es dauert noch, hält noch kurz.

Dann.

Vorbei.