Harald Kappel: FischBrötchen

Masse ist
im Universum
kein fester Ort
das Ticken
der Atomuhr
ein metrisches System
es sprengt
den Klang
der Strahlung

still
wird Ursache
zu Wirkung
das Seltsame
zum Alltag
der Meridian
zum Ereignishorizont

die Glut der Sterne
beizt
Lärm und Leere
zu Rauchaal
am Morgen
riecht ein Brötchen
nach Mutters Locken

die leise Zeit
brennt im Ofen
die Bombe
tickt gewöhnlich
das System
wird
zur Wirkung
ein Fischbrötchen
wird
zur Ursache

Harald Kappel: An der wilden Haltestelle

an der wilden Haltestelle
unter dem Fahrplan
sammle ich Herzschläge
küsse Worte
von deinen Eiscremelippen
betrete deine bunte Pupille
male Träume auf der Netzhaut
dringe durch den Sehnerv
ins Geschmackszentrum
meine Zunge
leckt die Erdnussbutter
aus deinen Erinnerungen
ich trinke das Hirnwasser
es verdunstet
als hübscher Nebel
auf der Kirchturmspitze
hängen die Gedanken
jeder kann unsere Sehnsucht sehen
auf dem Fahrplan
an der wilden Haltestelle

(aus Gedichtband „Stereotomie“ Harald Kappel)

Harald Kappel: Tiere in der Ausstellung

in der Glasmenagerie
stellen sie gefaltete Gedanken
und leere Bücher aus
ich wende mich ab
hinter den beschlagenen Fenstern
würgt ein eiserner Fasan
altbackene Liebesbriefe
in den Trinknapf
zwischen den Zeilen
schlummern Giftpilze
ich trinke
mit zusammengepressten Lippen
doch ich trinke
in meinem Kopf
gerinnt flüssiges Quecksilber
zu Erinnerungen
unten
in der Küche
zweihundert Jahre erbärmlicher Alltag
Gott sei Dank
ertrunken der Vater
ein langweiliger Specht
oben
am Nachthimmel
traumwandelnde Ansammlungen
ein silbernes Luftschiff
ein weißer Zwerg
ein schwarzes Loch
hübsche Fantasien
ich wende mich ab
mittendrin
ich
male
hübsch
ein hilfesuchendes Bildnis
ich stempele es
zur Sicherheit
fünfmal
unter dem nahen Brückengeländer
lebt ein dunkler Fluss
mit einer schimmernden Haut
zwischen den Wasserfällen
schwimmen ungestempelte Fische
aus der Unterwelt
ein ertrunkener Specht
in der Glasmenagerie
öffnen sie
die leeren Bücher
und stellen meine Gedanken aus

(aus Gedichtband  „Nasse Landstraße nachts“ Harald Kappel)

Harald Kappel: Bang Bang

..ein euphorisches Drama

(…eine Frau, ein Stuhl, ein Monolog)

Hier bin ich. Es ist schon ziemlich ungemütlich draußen, anders als wenn der Sommerwind unter den Sternen meine Gedanken wärmt.
Auf diesem Stuhl sitze ich gerne.
Wenn ich die Tür öffne, strömt eine frische Brise an den Gardinen vorbei in meine Küche. Als Kind durfte ich nicht zwischen diesen Gardinen nach draußen sehen, meine Mutter hatte es mir verboten.
Warum? Weiß ich nicht. Sie hat nicht mit mir darüber geredet.
Gegenüber, hinter dem großen erleuchteten Fenster, spielten alte Männer Karten, tranken Bier, und rauchten dicke Zigarren. Und um Mitternacht haben sie seltsame Lieder gesungen und sind auf die Strasse getorkelt.
Sie lachten und schrieen, sie waren frei.
Ich habe das erst später verstanden, vielleicht zu spät.
Aber das ist doch normal, dass man vieles erst zu spät versteht, oder?
Ich habe ein Kind und keinen Mann.
Mein Lebensmotto ist schwer in einen Satz zu packen. Irgendwie glaube ich aber daran, dass alles immer weitergeht. Dass auch hinter der dicksten Wolkendecke Sonnenschein und ein blauer Himmel warten.
Wenn mir langweilig ist, träume ich vom Reisen, vom Meer. Oder ich fahre ans Meer. Darüber lesen ist auch gut.
Ich wohne in einer sehr gemischten Strasse, es gibt wunderbare Häuser, und es gibt Bruchbuden. Mein Haus muss einmal wunderbar gewesen sein, aber jetzt…
Neulich war mir langweilig, das Kind schlief.
Ich habe mich bis auf den Slip ausgezogen, eine Spraydose mit schwarzem Lack genommen und Worte auf die Häuserfassaden gesprayt:
„Bang, Bang, Titte, Bazille.“ Bei „Bazille“ haben sie mich erwischt. Ich musste mit auf die Polizeiwache. Sie haben mich begafft, mir eine Decke um die Schultern gelegt und mich gut behandelt. Sie waren nett zu mir. Das mussten sie wohl sein. Obwohl ich ziemlich gestunken haben muss (das Wasserwerk wollte endlich sein Geld).
Dann sollte ich Fragen beantworten, die ich nicht zur Zufriedenheit der Fragenden beantworten konnte:
Warum haben Sie das gemacht?
Weil mir langweilig war und es mir nicht leisten kann, ans Meer zu fahren.
In ihrem Alter? Und halbnackt?
Gefallen Ihnen meine Titten nicht? Und ist man mit vierunddreißig zu alt zum sprayen? Oder ans Meer zu fahren? Wer sagt das? Hmh?
Weil ich seit vierunddreißig Jahren hier wohne und Mutter bin, haben sie mich wieder gehen lassen.
Das war nett. Ich muss das bezahlen, ich meine, die Reinigung.
Ich möchte mal wissen von was?
Sie fragten mich, ob ich das für normal halte, unbekleidet anderer Leute Häuser zu verschmutzen. Weiß ich nicht, hab ich gesagt. Ist das normal?
Die jungen Polizisten haben sich ganz komisch angeschaut.
Was meinen Sie? Ist Ihnen nie langweilig, oder fahren Sie dann ans Meer?
Ja, nun sagen Sie schon!
Sie…, waren Sie schon am Meer? Sie, ja…
Mein Elend begann mit der Schwangerschaft.
Als ich zweiundzwanzig war hab ich diesen hübschen Kerl getroffen, ehrlichgesagt, ich hab ihn auf seinem Fahrrad über den Haufen gefahren und dann zu Hause ein bisschen gepflegt und von diesen Umständen war ich dann gleich in „anderen Umständen“. Ich musste doch auch mal Erfahrung sammeln. Das ist normal, oder nicht? Irgendwann muss jede Frau das einmal tun.
Vorher war ich für Alle der gute Kumpel. Ein Mädchen, das nachts keine Angst haben musste… nachts durch den dunklen Park zu schlendern.. Niemand hätte mich belästigt, ich war eine Unberührbare.
Aber kaum fasste mich der Erste an, war’s vorbei mit der Freiheit.
Dabei habe ich doch nur etwas Normales machen wollen.
Was Normales…Was Normales…
Ich glaube, mein Elend begann mit der Normalität.
Meine Geduld ist nämlich wie normales Eis, nichts an ihm rührt sich.
Naja, ich wollte aber dann doch, dass mein Kind in einer ordentlichen Familie aufwächst. Mit der Geburt des Kindes war ich von einem Tag auf den anderen zu Hause angebunden. Ich musste so ziemlich alles aufgeben, was ich gerne gemacht habe. Alles! Keine Handpuppenlehrgänge mehr. Kein spätes Schlendern durch den dunklen Leninpark. Nichts!
Ich bin total an dieses Kind, dass ich nicht gewollt hatte, gefesselt.
Ja, aber ich liebe dieses Kind. Alle Mütter lieben ihre Kinder. Das ist normal.
Gottseidank, ist das normal!
Mein langweiliger Ex-Mann war keine große Hilfe. Wenn er nach Hause kam, klebte er auf seinem Sessel fest, bis das Fernsehprogramm Testbilder zeigte, und die fand er wohl auch interessanter als mich und seine Brut.
Halten Sie das für normal? Ich vermute, dass sie das für normal halten.
Schade eigentlich. Warum hält man das für normal?
Was glauben sie wohl?
Aber davon will ich Ihnen ja gar nicht erzählen. Ich wollte Ihnen erzählen, dass ich irgendwie hoffe, dass alles immer weiter geht, dass auch hinter der dicksten Wolkendecke Sonnenschein und ein blauer Himmel warten.
Das möchte ich Ihnen erzählen. Das ist schöner, oder?
Sie möchten etwas Schönes hören, oder?
Etwas schönes Normales!
Sie haben eine Bank in unserer Straße aufgestellt, auf der steht:
„Glück ist eine Bank, die plötzlich da steht.“
„Ich bin eine Bank vom Stadtmöblierungs-Projekt „Bau dir eine Bank“, hergestellt von den Bewohnern mit handwerklichem Geschick und allen die Lust haben, gemeinsam etwas zu bauen.“
Sie glauben an so etwas nicht?
Gehen Sie mal 30 m die Strasse herunter, und schauen sich das an.
Vielleicht setzen Sie sich sogar auf diese Bank.
Vielleicht gefällt es Ihnen sogar, auf dieser Bank zu sitzen.
Vielleicht fällt Ihnen auf dieser Bank etwas zu Ihrer Kindheit ein, oder zu ihrem letzten Urlaub, oder zu sich selbst. Das wäre schön. Das wäre gar nicht mal so normal, nicht wahr?
Ich sitze lieber hier auf meinem Stuhl, und schaue in das Fenster gegenüber.
Dort spielen sie leider keine Karten mehr. Vielleicht sind sie schon alle tot?
Ich lese hier manchmal etwas. Ich lese gerne das Handpuppenmagazin und ich lese Gedichte. Gedichte beruhigen mich.
Überrascht Sie das? Habe ich sie damit überrascht?
Ist das normal, dass sie das überrascht?
Sie, habe ich Sie damit überrascht?
Sehen Sie mich etwa als eine Frau, der man nicht zutraut, dass sie Gedichte liest?
Junge Mami liest Gedichte. Lächerlich. Und wann kocht sie?
Ich bin eine sogenannte Alleinerziehende. Ich koche, wann ich will.
Tag und Nacht.
Ich habe von Tag und Nacht gelesen.
Dass der Tag zu Ende geht.
Dass er seine Schuldigkeit getan hat.

nun geht der Tag zu Ende
hat seine Schuldigkeit getan
schweigt meiner Seelen Hände
mit Silberflügeln recht geschwind
vorm Fenster friert
der nackte Baum noch immer
und schwarzer Schnee
taut auf den Blüten
in dunklen Nachtgedanken
träum ich süß
von welken Wolken
blass und taub
der Regen trommelt
und packt
die Sehnsucht wieder ein
bin nur ein Glas voll Glück
wie Milch gemolken
bin Deiner Wärme Raub
ich horch dem Schlag der Stunden
wart auf des Morgens Ton
hör Deine Stimme rufen
Gedanken lachen schon
im hellen Bach
im grünen Schnee
und wachte auf
im Traum nur fad
von Licht umflossen
und niemand sagt
ich hab ein neues Kleid
im Bilderbuch gefunden
und niemand singt
von diesen offnen Stunden
wenn man
frei auf Bänken liegen kann
und hübsch
der Mond herunterlacht
dann schläft die Wolke
hinterm Haus
und welkt nicht mehr
nun geht die Nacht zu Ende
hat ihre Schuldigkeit getan

Verdammt, ich zieh mich aus und koche, wann ich will!!
Vielleicht fange ich aber jetzt damit an, davon zu reden, was passieren könnte.
Zum Beispiel könnte ich jetzt meine Spraydose nehmen, und irgend jemandem, Ihnen zum Beispiel!, ein Wort auf den Arm sprayen. Bang, oder Fuck!
Oder Anna. Ich heiße Anna, damit sie auch wissen, mit wem sie es zu tun haben. Wer ihnen so komische Geschichten erzählt. Sie könnten sagen, die ist doch nicht normal. Die ist vielleicht sogar verrückt.
Die Hundefänger müssten sie abholen, die sitzt hier rum, und sprayt anderen Leuten auf den Arm. Aber das tue ich ja gar nicht.
Ich stelle mir eher vor, es könnte mich jetzt jemand ansehen. Meine Titten .
Und mich dann mitnehmen.
Wohin wäre ganz egal, er müsste nur nett sein.
Vielleicht würde er ja sogar mit mir ans Meer fahren, wir könnten dort Wolken beobachten und überlegen, welchen Tieren sie ähneln, oder welchen Menschen.
Wenn wir das tun, dann könnte ich ihn sogar gerne haben, und er vielleicht mich.
Das wäre so schön, und ich würde glauben, dass auch hinter der dicksten Wolkendecke Sonnenschein und ein blauer Himmel auf mich warten.
Vielleicht möchte mich jemand von Ihnen mitnehmen?
Sie vielleicht? Gefalle ich Ihnen? Soll ich mich für Sie ausziehen? Wollen Sie mein Fleisch sehen? Das würde ich gerne tun…
Gefällt Ihnen mein Kleid? Meine Nase? Mein Stuhl?
Ich könnte Ihnen vorlesen, aus dem Handpuppenmagazin, oder lieber ein Gedicht?
Sind Sie romantisch, lieben Sie die Wolken, auch wenn aus ihnen Regen fällt?
Ich bin eine liebenswerte Person, ich liebe mich selbst. Das gelingt nicht jedem. Ich habe mir das verdient, dass ich mich selbst lieben kann.
Und ich koche wann ich will!
Seit dem Handpuppenlehrgang, habe ich keine Handpuppe selbst gemacht. Aber ich schaue mir immer gerne an, wie andere es tun.
Ich schaue mir immer gerne an, wie normal andere sind.
Ich möchte ein Ottonormalverbraucher sein.
Dann nimmt mich vielleicht jemand mit. Ans Meer.
Ich ziehe ein hübsches Kleid an und frisiere mir die Haare.
Ich liege mit den anderen Ottonormalverbrauchern am Strand.
Ich trinke gelbe Limonade und lache.
Ich gehöre dazu. Das würde mir gefallen. Vielleicht.
Vielleicht nehme ich aber auch meine Spraydose, und schreibe auf Ihr Haus: Feigling oder Bang.
Was würde Ihnen besser gefallen?
Noch haben Sie die freie Auswahl.
Ach vergessen Sie es, das war ein Witz.
Ein ganz normaler Witz.
Habe ich Sie erschreckt, nein, das wollte ich nicht.
Sie sollten sich nicht an Angst gewöhnen.
Die Menschen haben im Grunde nichts dagegen, betrogen zu werden.
Sie haben nur etwas dagegen, dass man sie es merken lässt.
Ich lasse sie nichts merken, denn das Unglück meiner Nachbarn macht mich traurig.
Und ihre Normalität macht mich traurig.
Ihr ständiges Bemühen.
Die Verlockung des Glücks.
Ich schlafe manchmal auf der falschen Bank.
Der kalte Regen fällt auf mein Haar.
Aber in mir ist immer blauer Himmel.
Ich trage die Erde, die Freude, und die Sonne an meiner Seite.
Ich bleibe anders.
Ich bin ein buntes Nebenleben.
Ich bin mein eigenes Wunschkind.
Bin in mir selbst hell ausgegossen.
Ich atme still den Wind, und lasse fallen was fällt.
Den Regen, die Tränen, die Träume
und mich….

Harald Kappel: Erbarmungslos

in der flimmernden Hitze
schmilzt der Asphalt
vor meinem Fenster
und die Hoffnung
in meiner Weißen Substanz
es gibt kein Entrinnen
keinen Luftzug
Gott kennt kein Erbarmen
und keine Freunde
das Denken
ein dramatisches Zögern
in der flimmernden Hitze
schmilzt mein Verständnis
vor meinem Fenster
wartet Dein Abschied
Gott kennt
wirklich
kein Erbarmen

Harald Kappel: Spekulation

in Steinschnittlagerung
hofft Aschenbrödel
auf magisches Blut
sie weint
vor Glück
ein magischer Affront
das Aufklärungsgespräch
erzeugt Kaskaden
von Empörung
die Predigt
wird unterzeichnet
hinter den Gardinen
verstecken sich
die Gutachter
vor sich selbst
der neueste Kardinal
bestellt Buntglas
für den Beichtstuhl
der Durchblick
geht verloren
der Livestream
wird aktiviert
der Download
komplettiert
das Spekulum
rostet
Aschenbrödel
bestellt Buntglas
für das Handgelenk

Harald Kappel: Wandertag

Al Vizz hockt mit ausdruckslosem Gesicht am Rande der Objekte, als Pinker Uhu später zurückkommt. Das Halbblut atmet noch schwer: „Ich schaffe es nicht mehr, ich schlüpfte aus dem Schatten der Gravitationen, aber konnte ihr nicht mehr den Weg abschneiden…wer hätte schon gedacht, dass sie uns folgen würde, um unsere Pferde zu stehlen?“
Dann versucht er sich im Denken. Süße Schreie dringen in sein Gedächtnis, dort heizen sie sich auf bis zur Rotverschiebung. Nichts von alledem ist Freiheit.
Scheisse! Verdammte Scheisse!
Al Vizz verzieht keine Miene: „Das wird sie noch bedauern. Doch nun müssen wir zu Fuß zurück in die Stadt. Ich lasse dich allein laufen. Wann kannst du mit einem Pferd für mich zurück sein?“ Aber Pinker Uhu schüttelt den Kopf.
„Nein, King“, sagt er. „Er ist angeschossen. Liegt im Graben und betet zum Vater. Voller Gerüche! Der wird damit rechnen, dass wir uns neue Pferde besorgen, und uns ausruhen, denn er kann nicht mehr lange im Sattel bleiben. Sie wird ihn bewachen. Immun gegen Irrtum bleiben. So wird das sein. Ich hole ihn mir. Das Nichts von Alledem ist Plan. Ich kann länger zu Fuß laufen, als er im Sattel bleiben kann. Für ihn ist es ein Driften im Whiteout. Sie können hier warten, King. Ich hole ihn mir. Dann komme ich mit vier Pferden zurück. Mit vier Pferden, King. Bleiben Sie immun, King. Bleiben sie jetzt immun!“
Al Vizz starrt ihn an.
Er ist wütend auf Pinker Uhu, denn er gibt ihm die Schuld, dass sie ihre Pferde verloren haben. Doch nun kann Pinker Uhu alles wieder gutmachen.
Zwar hätte Al Vizz Jesus Bohne gern selbst getötet. Keine Gnade im Schwerefeld! Als passende Antwort wäre außerdem hilfreich, ihm eins oder zwei in die Fresse zu hauen. Doch dazu hätte er mit Pinker Uhu einige Meilen laufen müssen.
Nein, da will er lieber warten und ihm alternativ für WesternDeutschland drei in die Fresse hauen.
Und so nickt er Pinky zu. Seine Kommunikation ist auf dem linken Ohr blind.
„Ja, geh ihm nach und töte ihn, Pinky“.

Es fällt Jesus Bohne nach zwei Meilen schwer, sich noch im Sattel zu halten. Er hat ja eigentlich fünf Wunden, wenn man die Bauchwunde unter dem Rippenbogen zu den Malen an den Händen und Füßen dazuzählt , und es ist ein Wunder, dass er überhaupt noch unterwegs ist.
Nach drei Meilen will er absitzen. Doch sie finden keinen guten Platz, von dem aus sie jeden Verfolger sehen können. Erst nach fast einer weiteren Meile erreichen sie einen bewaldeten Hügel und halten im Schatten der Bäume. Jesus Bohne gleitet stöhnend vom Pferd und legt sich ins Gras. Das tut total gut und er fällt in einen ohnmächtigen Schlaf. Denn er ist restlos erledigt.
MaryMagdaLena aber hebt den Blick zum Himmel und flüstert leise: Oh Vater im Himmel, ich danke dir, dass ich jetzt bei ihm sein kann.

Pinker Uhu trabt auf der Fährte wie ein Apache, und Apachen können hundert Meilen laufen ohne eine längere Rast einzulegen. Abends sitzen sie auf rostigem Federkern und verschlissener Kindheit.
Nach weniger als drei Meilen wird er vorsichtiger. Nun bleibt er nicht mehr auf der Fährte, sondern hält sich abseits von ihr.
Eine Fliege döst halbnackt auf einem Baum und stöhnt.
Am Rande der Ebene erhebt sich ein bewaldeter Hügel. Über dem Hügel kreisen Vögel, die sich auf Bäumen niederlassen. Dort zerhackt der Vogel Selbdritt halbnackt die letzte Stille. Pinky sieht auch einige Antilopen zum Hügel hinabziehen, dann aber ganz plötzlich in der Krümmung der Raumzeit abbiegen. Das ist ein Einstein‘sches Zeichen. Es gibt auch noch andere Zeichen, die ihm verraten, dass dort auf dem bewaldeten Hügel jemand ist. Halbnackt, öffnet sich dort nichts. Gar nichts.
Er federt den Vogel. Der schreit. Die letzte Stille.
Und so weiß er Bescheid. Denn ein angeschossener Mann kann nicht länger im Sattel bleiben.

Als es schon fast Abend ist, schnauben die Pferde. MaryMagdaLena, welche die letzten drei Stunden aufmerksam nach Westen spähte, zuckt zusammen.
Wie lebt man sich?
Ihr Verstand sagt ihr, dass die Pferde wahrscheinlich wegen irgendeines Tieres schnaubten, aber sie hat plötzlich ein ungutes Gefühl. Und besonders Pinker Uhus Schimmel schnaubt immer wieder und wirkt sehr unruhig.
Wittert das Tier seinen Herrn? Der ist nur Sand in einem Spiegel, nur Sand.
Ein Werk der Pfählung, eine Parade der Lippen.
Sie fragt es sich mit plötzlichem Schrecken. Blutjung ist der Schrecken. Blutjung.
Doch sie bleibt in der kalten Wanne sitzen, im kalten Stahl, und nimmt nur ihren Hut ab, wartet auf den Pathologen und verbirgt in der ihr zugewandten offenen Hutkrone ihre Hand mit dem kleinen Colt und eine Bibel darin. Sie ist nur eine Variante von Aas.
Bewegungslos hockt sie neben dem scheinbar noch tiefschlafenden Jesus Bohne und wartet. Das Aas.
Die Dämmerung ist hier oben unter den Bäumen schon intensiver als draußen auf der kleinen Ebene. Sie kaut auf ihrer Zunge, ein Leben lang schon, und macht ihr Bauchfell traurig.
Über den Hügeln im Osten geht das Rot der sterbenden Sonne bereits in violett über.
Traurig, am letzten Halt. Wie lebt man sich?
Aus dem Schatten der Bäume schält sich nun eine gebückt vorwärts gleitende Gestalt. Es ist Pinker Uhu. MaryMagdaLena erkennt ihn sofort.
Pinky hat sein Gewehr im Hüftanschlag. So kommt er näher und näher. Etwa ein halbes Dutzend Schritte vor MaryMagdaLena und dem scheinbar schlafenden Jesus Bohne bleibt er stehen. Lässig.
Trotz sternenklarer Nacht spiegeln sich die Gletscher in den Colt-Trommeln mit minimaler Leuchtdichte.
„Da seid ihr ja. Uns einfach die Pferde zu stehlen. Ja, das hast du gut gemacht. Was ist mit ihm? Der liegt ja da wie tot. Ich dachte, er wäre unsterblich? Hahaha!!! Staut sich seine Leber wegen Pfortaderhochdrucks, häh??“
„Vielleicht stirbt er trotzdem“, erwidert MaryMagdaLena. „Vielleicht. Lass ihn nur ruhig liegen. Der kann Al Vizz nichts mehr tun. Konkret! Nimm eure Pferde und hau ab. Zieh die Vorhänge in deinem Kopf zu und lass dir in Ruhe die Wimpern straffen. Sei kokett!“
„Aber was denkst du“, sagt Pinky und grinst. „Ich bin Al Vizz’s Gotteskrieger. Und ich bringe meine Fleischbeute zu ihm. Er wird sich darüber freuen und mir eine gute Prämie zahlen. Eine neue App auf meinen Coltgriff tätowieren. Unantastbar geloadet. Ich werde Jesus quer über seinem Pferd zu Al schaffen. In seine goldene Vitrine. Du aber solltest dich gut mit mir stellen, dann lass ich dich vielleicht laufen, Süße. Ich wollte schon immer eine wie dich haben. Als Al dich bei sich auf der Ranch hatte, da kämpften Models dort mit Schürzen und Spiegeln, charmant… aber ich war nur scharf auf dich, Süße…“. Er kommt nicht weiter. Was er auch sagen wollte, er kann es nicht mehr. Worte wie diese, Worte wie jene. Denn sie schießt durch den Hut, durch die Judasbriefe und trifft ihn gut-einmal, zweimal, dreimal. Die Kugeln stoßen ihn zurück. Er drückt sein Gewehr ab, dass er immer noch im Hüftanschlag hielt, doch seine Kugeln bleiben in der Genesis stecken.
Getroffen taumelt er zurück, schwankt, brüllt dann wild und geht zu Boden. Noch einmal möchte er hochkommen. Doch er versucht es vergebens. Dann erschlafft alles in ihm. MaryMagdaKena hört sein Ausatmen.
Er ist tot, denkt sie. Nicht schuldig denkt sie, ich bin nicht schuldig und spuckt. Lässig, lässig! Und sie fragt sich im selben Augenblick, wo Al Vizz wohl ist? Kam er mit Pinker Uhu? Wird er im nächsten Moment schon von irgendwo her schießen?
Beginnt eine lebenslange Hysterie? Lebenslang?
Doch nichts rührt sich. Das Echo der Schüsse verhalte in der Ferne. Und das Gekreische der Vögel im Wald verklang. Im Kinderbuch werden intrauterine Märchen gelesen. Über dem Saloon. In der kleinen Stadt. Es ist sehr still.
Sie hört Jesus’s Erwachen, denn sein tiefes Atmen verändert sich.
Dann klingt seine heisere Stimme, wie am Telefon: „Was ist? Waren das Schüsse? Bist du bei mir, Mary? Oder träumte ich das nur?“
„Ich bin bei dir“, erwidert sie. „Und soeben habe ich Pinker Uhu getötet. Ich weiß aber nicht, ob er allein kam“.
Er erhebt sich schwankend und wischt mit einer Hand über sein Gesicht. Eine Weile verharrt er und denkt nach. Die Blätter haben symmetrische Abdrücke von Blättern auf seinem Gesicht hinterlassen. Lebenslang.
Dann hört sie ihn sagen: „Nein, er hat Pinker Uhu geschickt, um uns die Pferde wieder abzunehmen. Der wartet irgendwo auf sein Pferd. Aber wenn es Tag ist, werde ich ihn suchen. Mir geht es jetzt schon viel besser.“
Sie möchte ihm die letzten Worte gern glauben, doch als sie zu ihm tritt und ihm die Stirn fühlt, merkt sie das Fieber. Es wachsen ihm selbstunähnlich Flügel aus Chitin und Pathologien im Schädel.
„Leg dich wieder hin“, verlangt sie. „Die Nacht bricht erst an. Und sie wird noch viele Stunden dauern. Ruhe Dich aus und häute dich rechtzeitig“.
Sie trägt eine bedauerliche Hysterie in ihrem tüchtigen Ich. Lebenslang.

Die Nacht wird auch für Al Vizz lebenslang. Er hockt die meiste Zeit auf einem großen Stein, aber als es dann kühler wird, beginnt er hin und her zu wandern
Pinker Uhu kommt nicht zurück, obwohl Stunde um Stunde vergeht.
Er beginnt seine eigenen Mandeln zu essen.
Das hatte er schon lange vorgehabt.
Als der Morgen graut, da glaubt Al Vizz, dass Pinker Uhu nicht mehr mit den Pferden zurückkommen wird. Wahrscheinlich wird er damit rechnen müssen, dass dieser Jesus Bohne kommt, um ihn zu töten.
Soll er die Flucht ergreifen, möglichst schnell nach Nutellamy zu gelangen versuchen?
Oder Briefe des Paulus aus der Amygdala schreiben?
In etwa drei Stunden könnte er dort sein,wenn er diese beschissenen Briefe vergisst.
Er stellt sich vor, wie es wohl wäre, wenn er dort staubig und schwitzend in seinen Cowboystiefeln ankommen würde.
Das wäre wie Schneefall auf der Moräne und dunkles Öl würde seinen silbernen Colt verdecken.
Es wäre sein Untergang. Es müsste den Leuten vorkommen, als wäre ein Denkmal vom Sockel gefallen.
Also muss er bleiben und auf Jesus warten.
Sein Blutschwamm würde zerbersten und sein Temporallappen autistisch. Scheisse, Scheisse.
Nein, er kann als stolzer King nicht geschlagen zurückkehren und sich in den Schutz seiner Männer begeben.
Als die ersten Sonnenstrahlen im Osten über die Heiligen Hügel blitzen, da sieht er sie kommen:
Jesus Bohne und MaryMagdaLena Magdala.
Er denkt…jetzt will sie mich sterben sehen, und es wird ihr eine Entschädigung sein für das, was ich ihr antat. Jetzt will sie triumphieren.
Doch dann tritt er vor, so dass ihn die beiden Reiter sehen können, und rückt seinen Revolver zurecht.
Jesus Bohne hält an, rutscht aus dem Sattel, und als er sich vom Pferd wegdreht, da ist in Al Vizz ein wenig Hoffnung. Denn er sieht, wie sehr Jesus hinkt und wie sein Revolverarm kraftlos in einer Schlinge quer vor der Brust liegt.
Das Hämatom im seinem Kopf eine Gnade.
Jesus hat Kot im Hosenbund stecken und seinen Colt, weil sein Holster für die andere Seite nicht geeignet ist und er ein Bett im Mohnfeld zum Erleichtern sucht.
Hinkend und stinkend kommt Jesus näher. Sie reden kein Wort miteinander, sondern beginnen gleichzeitig zu schießen, indes Jesus immer noch Schritt für Schritt näher kommt.
Aber Al Vizz schießt zweimal daneben. Denn die Entfernung ist noch sehr weit. Und Jesus wirkt wie ein auferstandener Geist in der Quantenwelt.
Im Radio haben sie gesagt, Jesus ist mit der anderen Hand nicht so gut. Auch er verfehlt Al zweimal. Doch seine dritte Kugel trifft den King ins Herz.
Er hält inne und atmet langsam aus.
Dann wendet er sich um, denn MaryMagdaLena bringt ihm das Pferd.
Die Krone der Schöpfung. Eine saure Lake aus Stammhirn und Hefepilzen.
Der Introitus schwarz von dunklen Ausscheidungen, am Gesäß rectaler Schleim, der beim Reiten stört.
Als Jesus im Sattel sitzt, fragt sie: „Und nun?“.
„Abmarsch, keine Gnade“, sagt er. Es wird alles anders werden.
Er mischt Mohn, schreibt getröstet im Galopp wortfreie Verse, kratzt eine Melodie in die Schellackplatte.
Beizt die Haut der Pferde, seine Nahrung, und horcht der Melodie des Westens.
Wieder und wieder und wieder und wieder und ….
ENDE

Harald Kappel: MischFischTisch

Zu Weihnachten bekam mein Bruder eine Gitarre.

Meine Schwester eine Nähmaschine.

Und ich sogar ein Boot.

Ich heuerte bei mir selbst als Schiffsjunge an, mein Bruder nannte sich Freddy Quinn und sang schreckliche Lieder. Meine Schwester strickte ein Zelt für uns.

Wir fuhren über sieben Meere.

Wir umschifften tausend Klippen, bis unser hölzerner Rumpf an einem Fels in der Brandung zerbrach.

Wir hungerten. Wir hatten Dünnpfiff. Wir fütterten die Fische.  

Aber das Meer nahm sich nur, was es uns gegeben hatte.

Vater bekam Skorbut und meine Schwester nähte ihm mit ihrer verrosteten Nähmaschine eine Angel. Mein Bruder sang immer noch schreckliche Seemannslieder. Mutter wurde mondsüchtig.

Am Samstagabend, vor der Hitparade, beschlossen wir baden zu gehen.

Auf dem Weg zum Strand saßen die Badehosen knapp, aber dies versprach eine

Prise Gefahr und Abenteuer. Meine Schwester wollte uns Tangas weben, aber wir lehnten ab. Mein Bruder wollte singen. Aber wir lehnten ab.

Wir verbrachten unser halbes Leben an diesem Strand. Die Badehosen saßen zwar immer noch knapp, aber da sonst alles an der richtigen Stelle war, blieben wir gelassen. Die Wellen spülten die Zeit und unsere Pisse hinweg, bis Vater nach vielen Jahren den ersten Fisch fing. Er war klein, weiß und lieb. Der kleine Fisch konnte meinen Hunger nicht stillen und in meinen Gedanken war wenig Platz für seinen Tod.

Ich betete, denn ich war gefangen am Ende der Welt und gestrandet im Hafen der Einsamkeit. Im Bauch eines Wals wurden wir gerettet.

Mein Leib blieb zurück, meine Schwester nähte nie mehr. Mein Bruder ist Freddy Quinn, meine Mutter reiste zum Mond und als mein Vater starb, waren seine letzten Worte:

Es gibt nichts Besseres als frischen Fisch zum Frühstück.