Susanne Stiegeler: Fit for Life 1 und 2

Irgendwann las die Mamili ein folgenreiches Buch mit dem Titel „Fit for life 1“. In diesem Buch wurde empfohlen, bis 12 Uhr nichts als Obst zu sich zu nehmen. Das wäre in vielerlei Hinsicht ‚zehr!‘ gesund, da es vor Mangelerscheinungen, Krankheiten, Fettleibigkeit und Antriebslosigkeit schützen würde. Das bedeutete, dass wir einige Wochen tatsächlich nur Obst bekamen bis Mittag.

Kurz darauf erschien das Nachfolgerbuch, „Fit for life 2“, in dem der Autor sonderbarerweise vom Obstgebot abrückte und nun den ausschließlichen Verzehr gekochter Kartoffeln bis zur Mittagszeit empfahl. Auch diese Diät wurde sofort in die Tat umgesetzt: Plötzlich standen Kartoffeln auf unserem Frühstückstisch und Mama sinnierte darüber, dass das gar nicht so schlecht schmecken würde.

Ich befürchtete immer das Aufkommen eines dritten Bandes – und was dieser dann von uns abverlangen könnte. Glücklicherweise wurde nie einer herausgegeben.

Immanuel Reinschlüssel: FaKotäne

Man nimmt sich vor all das zu tun, wofür man sonst keine Zeit hat. Die alten Platten mal wieder anhören, Bücher lesen, den gottverdammten Roman endlich schreiben, Spanisch lernen. Und dann wacht man auf, schleppt sich vom Bett zum Sofa, weiß nicht, wie spät es eigentlich ist und welcher Wochentag gerade vergammelt werden muss – und klickt ohne Ziel durch das endlose Angebot von Netflix, das plötzlich gar nicht mehr so unendlich erscheint. Die Entmystifizierung dieser unendlichen Weiten dauerte genau 45 Tage. Die Fenster sind verdreckt, die Frühlingssonne zeichnet jede einzelne Schliere mit größter Sorgfalt nach. „Morgen werden die Fenster geputzt.“, sagt man sich. Ja klar. 

Da sowohl Wochentage als auch Tageszeiten keine Rolle mehr spielen, wird getrunken. Und zwar sehr viel früher, als man es irgendjemandem erzählen wird. Aber niemand wird spontan anrufen oder vorbeikommen, man muss nicht ohne Vorwarnung zu einem Treffen oder einem Termin erscheinen, also kann man sich genauso gut dem dämpfendherrlichen Gefühl des leichten Seiers hingeben, der fließend in einen amtlichen Suff übergeht und das schlechte Gewissen über all die ungelesenen Bücher und ungehörten Alben, den gottverdammten Roman, Spanisch und den Rest der Welt gleich mitschwemmt. All die halbleeren Flaschen mit Fusel, die von vergangenen Feiern übriggeblieben sind und auf den Schränken verstauben – jetzt schlägt ihre große Stunde, hier ist ihr Auftritt. Bühne frei für den 4,99 Gin aus dem Aldi, Vorhang auf für Wein im Tetrapak, Spot auf den Kopfweh-Bourbon, füllt die Gläser mit Fanta-Korn.  

Je ähnlicher sich die Tage werden, desto undeutlicher erscheinen die Erinnerungen an das „davor“. Hat man einen Job? 

Hat man eine Freundin irgendwo? 
Leben die Eltern eigentlich noch? 
Wie heißt man eigentlich? 

Irgendwann muss man diese Informationen wieder zusammensammeln, sie erscheinen wichtig. Aber nicht jetzt, jetzt ist der FaKo an der Reihe, mit Fanta geht einfach alles und mit etwas Übung geht auch alles runter. Hardcore-Workout für Leber und Gedärme, ein staatlich finanziertes Säufertrainingslager, bei diesen geistreichen Gedanken fängt man an zu lachen. Richtig zu lachen, aus voller Kehle, lang und anhaltend, ein Lachen geboren in Langeweile und Fanta-Korn. Nachdem man sich beruhigt hat merkt man, dass dies der erste Laut war, den man seit Wochen von sich gegeben hat. Das beunruhigt. Man öffnet den Mund, kommt sich dumm dabei vor aber macht es trotzdem, man öffnet den Mund und sagt einen Satz. Etwas Saudummes wie „die Sonne scheint“ oder „Hallo, hallo, Test, Test.“. Ein komisches Gefühl ist das, die eigene Stimme zu hören und den Nachhall der Worte im Mund zu haben. Man schließt die Augen und schmeckt die Worte auf der Zunge förmlich nach.

Ein ganz kritischer Moment ist das jetzt, ein ganz, ganz kritischer. Hier entscheidet sich, wie es weitergeht. 

Links: Etwas dämmert, ein Gedanke manifestiert sich, man fragt sich, was man hier eigentlich macht und wie es so weit kommen konnte. Man stellt das Glas zur Seite, nimmt eine kalte Dusche, sucht sein Handy und ruft die erstbeste Nummer an, die man findet. Und dann alle anderen, die wichtig erscheinen. 

Rechts: Man nimmt einen tiefen Schluck FaKo, trottet ins Bad zu einem längst überfälligen Schiss und singt auf der Schüssel schief Lieder von Radiohead. Dann torkelt man in die Küche und schüttet Fanta und Korn im Verhältnis 1:1 in ein großes Wasserglas und zurück geht es aufs Sofa.

Man geht nach links.

Man wacht auf, der Kopf schmerzt. Man hat viel gelernt in den Telefonaten, das Meiste wollte man eigentlich gar nicht wissen. Man hatte eine Freundin, sie wohnt scheinbar in Berlin, man war über zwei Jahre zusammen, ihr Name ist Jana. Sie hat die Sauferei aber endgültig satt und weil man sich mehr als sechs Wochen nicht bei ihr gemeldet hat ist es jetzt endgültig aus. Man findet Fotos auf dem Handy, Jana war wirklich sehr hübsch. Man arbeitet anscheinend in einer Agentur, weder der Chef noch die Kunden haben gemerkt, dass man im Homeoffice seit Wochen keinen Finger gerührt hat. Na gut, muss er ja nicht wissen. Die Eltern leben noch, sie hören sich wirklich sympathisch an, man freut sich ganz ernsthaft auf ein baldiges Treffen mit ihnen. Sie scheinen ein bisschen überrascht darüber zu sein. 

Man heißt …

@bakausky: Pizza Gator

Also in Washington England gibt es eine Pizzeria in der gibt es ein „Gate“. Das ist englisch und steht für Tor. Dieses Tor führt direkt zur Hölle, nein zu einer Höhle, in der die „Lizard People“ – also Menschen mit grüner Alligator-Haut leben. Und da fahre ich gerade hin, mit dem Neun-Euro-Ticket von Bielefeld aus. Das wird ein Abenteuer, das können Sie mir glauben. Als ich da über die Grenze nach Frankreich fahren wollte, wurde ich kontrolliert.

Das Neun-Euro-Ticket sei nicht gültig auf diesem Weg, hieß es. Ich erkläre die Situation, dass mit den „Lizard Peoplen“ und der Pizzeria und meinem Plan, die über den Eurotunnel zu besuchen. Darauf wurde gar nicht weiter eingegangen, die verstanden nur Bahnhof und ich aus dem Zug geladen auf den selbigen. Verschwörung, wohin man schaut.

Also als Tramper weiter. Von dort nach dort. Ich werde Beweise liefern, sobald ich angekommen bin. Das zieht sich noch ein wenig hin. Denn die wissen, was auf sie wartet, wenn das rauskommt. Ich werde Fotos liefern auf Instagram. Folgt mir bitte bitte dort @bakausky.  

Angekommen bin ich schließlich doch. In Washington, England. Mit einem Uber bin ich die letzte Strecke zur Pizzeria gefahren und was ich dort erlebte, das glaubt mir niemand. Außer ich hätte nicht Fotos. Ich also in die Pizzeria rein und erst mal nichts anmerken lassen. Eine Pizza Hawaii bestellt. Doch die gab es da nicht. Verschwörung, ich höre dich trapsen.

Also dann halt Pizza Salami. Denn was viele nicht wissen ist, dass die „Lizard People“ oder Eidechsenmenschen keine Ananas mögen. Also die mögen die gar nicht, und auch nicht auf der Pizza. Dann wurde es spät und die Pizzeria war kurz vor dem Schließen. Doch die Pizza war groß und noch lange nicht gegessen. Da bot mir Michel, der Kellner an, zur After Party zu bleiben. Ich sei doch ein cooler Junge, jemand, der „Open minded“ sei und nichts über die „Special guests“, die noch kämen, schimpfen würde. Und ich hatte schon ein paar Bier intus und willigte ein.

Dann gegen Mitternacht wurde das Lokal offiziell geschlossen und ich saß noch auf einem Barhocker bei Michel an der Theke. Der sagte gerade „my name is Mitchell, not Michel“ und ich so „my name is @bakausky, follow me on Instagram“. Und da waren sie schon zu einer kleinen Treppe emporgestiegen. 

Ich traute meinen Augen nicht. Es waren fast Menschen, nur winzig und mit grüner Haut. Sie bestellten eine Runde aufs Haus, was mir sehr entgegenkam, denn ich war mittlerweile knapp bei Kasse. So, fragte ich sie, „You don’t like Pizza Hawaii?“ „No, it’s terrible“, sagte da einer und die anderen lachten. Ich nahm mein Handy heraus und machte ein Foto, sagte: „We will see who laughs now, I am just posting this on my Instagram @bakausky“. Und da lachten sie noch mehr. Und ich war verblüfft.

Sie bezeichneten mich als „conspiracy Nuss“ und sagten, dass mich kein Mensch ernst nehmen würde und luden mich auf noch einen Schnaps ein. Da konnte ich nicht nein sagen. Und einige Schnäpse später waren wir die besten Freunde, die „Lizard People“ und ich.

Am nächsten Tag wachte ich mit einem „Hangover“ auf einer Parkbank in Washington, England auf und hatte nur noch verschwommene Erinnerungen an die letzte Nacht. Die Eidechsenmenschen hatten mich gefügig gemacht, meine menschliche Schwäche, den Alkohol ausgenutzt. Und da war ich nun, ein Wrack mit null Pfund Kohle und null Prozent Akku in Washington, England. Aber mit dem guten Gewissen, auf Instagram geliefert zu haben. Und das machte mir Mut, als ich mit Daumen nach oben mich auf den Weg zurück nach Deutschland machte. 

Sabrina Marzell: Legenden

Ihre Nase blutet schon wieder. Vergiss nicht zu spucken und schau dir die Wolken an. Ich wühle so lange im roten Sand nach deinem Zahn.  Der Boden zieht mich an 


Die Fliegengittertüre schnalzt. Jemand zerhackt Kreide. Als ich in die Chipstüte greife, klatscht Steffi´s Hand in mein Gesicht. Sie wird mit dem Schimmelreiter untergehen 


Im Schatten der Reben. Der größte Idiot im ganzen Viertel zündet gerade die Parkbank an. Seitdem teilen wir uns zweieinhalb Quadratmeter Balkon 


Mein erster Bezug zur Form ergab sich aus dem formen von Matschfiguren. Meine Brust pochte und ich schüttelte den Kopf, als ich die übrig gebliebenen Körperteile (kleine Zweige) in der Pfütze liegen sah 

13 
Ungläubig verließ ich den Ort

Theobald Fuchs: Wenn die Familie zum Überliefern anfängt

Anfangs fand ich die Story absolut plausibel. Die kleinen Schrotkörner, an denen man sich früher gerne mal den einen oder anderen Zahn ausbiss, seien, so behauptete er, absichtlich vom Koch hinein praktiziert worden. In den Rehbraten mit Sahne und Preißelbeeren. Damit die Gäste sich davon überzeugten, dass das Wild absolut frisch geschossen und eh aus der Gegend sei.

Ja, klar, warum eigentlich nicht, dachte ich. Vom Jagen habe ich keine blasse Ahnung, bloß als er dann behauptete, dass Rehe und Hirsche eigentlich gar keine Tiere sondern Pflanzen seien, irritierte mich das – ehrlich gesagt – schon ein wenig.

Aber nicht schlimm. Nur so ein klitzewinziges Gefühl, das in mir, nun – nicht wuchs, aber schon irgendwie keimte, ein Gefühl, als stimme in einem riesengroßen Gesamtbild ein fitzikleines Detailchen nicht. Schwer zu sagen, welches genau, aber etwas störte.

Dass somit Wildbret ideal für Vegetarier sei, leuchtete mir wiederum ein, logisch, logisch, popogisch: wer sich im Wald ernährt, besteht irgendwo irgendwann auch aus Wald. Dann fängt die Zukunft an… Äh, falsches Thema. Weiter im Text: Dass sich seit vorgeschichtlicher Zeit aus den sterblichen Überresten des Wildes ein spezielles Erdöl gebildet hat, verblüffte mich abermals. Allerdings einen Moment nur. Unter hohem Druck über lange Zeiträume entstünde in tiefen Schichten aus zerquetschen Hirschkadavern ein beinahe milchiges, orangegrünfarbenes Öl. Wildes Erdöl werde es genannt, so raunte er, Österreich und das Saarland seien die beiden größten Produzenten. Auf der Erde, im bekannten Teil des Sonnensystems, universell. Soweit, so transparent.

Jedenfalls: für vertrauenswürdig hielt ich die Empfehlung, Messer und Gabeln mit diesem Öl zu behandeln. Grund offensichtlich zweifach: damit sie nicht nur nie mehr stumpf würden. Sondern auch, damit weder Brot noch die Frucht, die damit geschnitten wird, jemals wieder schimmelte. Coole Sache.

Anfangs bezweifelte ich aber, was darüber hinaus behauptet wurde. Dass man sogar die Sprache des Landes, aus dem die Wurst stamme, sprechen könne, wenn sie mit einem in dieser Weise präparierten Messer geschnitten werde. Beispiele: Mortadella, Cheddar, Salami.

Doch da mein Ururururur-Großvater, als er sich mit dem Jagdmesser in den Daumen geschnitten hatte, daraufhin stundenlang sehr komplexe und phantasiereiche ungarische Flüche ausstieß (oder etwas, das so ähnlich klang, so wird es zumindest berichtet), bin ich heute restlos überzeugt. Von nichts anderem als der öligen Wahrheit des Wildes nämlich.

Isso, sagte der alte Jäger, und ich glaubte ihm.

Theobald Fuchs: Es ist nicht immer vorteilhaft, gut zu schmecken

… es war genauso, wie ich es auf YouTube recherchiert hatte: erst nach zwei Tagen ununterbrochenen Kochens fiel das Fleisch von den Knochen. Oder besser gesagt: die Knochen ploppten aus dem Geschmorten, als wäre es ihm ein Bedürfnis, sie loszuwerden. Mir war dabei völlig klar, dass ich bei einem Hype mitmachte. Seitdem dieses Nahrungsmittel selbst von Veganern akzeptiert, ja sogar in höchsten Tönen gelobt wird, wollen es alle selbst probieren. Kaum zu glauben, aber es war seit Jahren oder Jahrzehnten unentdeckt geblieben, bis ein Isländer, glaube ich – oder doch jemand in Kanada? – darauf gekommen war, sie zu essen. Doch auch das erst nach vielen Versuchen und Fehlschlägen. Nachdem die Knochen sich vom Rest gelöst haben, muss man genau auf die Zeit achten. Noch weitere fünfundzwanzig Minuten auf kleiner Flamme knöcheln, pardon: köcheln, keine Sekunde länger, sonst verwandelt sich die kulinarische Köstlichkeit in eine unverdauliche, zementartige Masse. Falls das geschieht, ist es sehr ärgerlich, nicht nur, weil das Zeug immer noch sündhaft teuer ist, obwohl es quasi ohne Produktionskosten in der freien Natur eingesammelt wird. Aber es war schon ein Aufwand, zwei Tage am Herd zu stehen, immer wieder Brühe und Salzsäure zuzugeben, regelmäßig die giftigen Gase abzusaugen, von dem irrsinnigen Pfeifen, das aus allen Poren strömte, einmal abgesehen. Doch ich erwischte den richtigen Zeitpunkt, schüttete das crushed ice, das ich natürlich bereitgelegt hatte, in den Topf, gab gekochte Kartoffeln, Sägemehl und Pflaumen zu. Dann alles durch den Mixer und fertig. Und ich muss sagen: es war köstlich! Wirklich unvergleichlich, nur wenige andere Speisen können da mithalten. Und das alles ohne Fett und Zucker. Ich war begeistert! Keinen Menschen interessiert es mehr, wann und wie sie auf die Erde gelangt und dort bis vor Kurzem unerkannt gelebt hatten. Diese Außerirdischen schmecken einfach echt voll lecker! 

Matt S. Bakausky: Kann nicht kochen

Ich koche gerne Nudeln mit Pulver, sagte mein fünfzehnjähriges Ich. Dann kochte ich einmal Spaghetti mit Thunfisch-Tomatensoße. Und dann eine ganze Zeit lang nichts mehr.

Heute grille ich höchstens oder wärme Essen auf. Nudeln mit Pulver waren gekochte Nudeln mit Bolognesepulver von Knurr. Ich weiß nicht mehr, wo ich dieses Rezept herhatte. Normalerweise würde man das Pulver mit Wasser verdünnen, aber ich streute es über die Nudeln als wäre es Parmesan.

Kochen war nie so meins. Ich war höchstens eine Küchenhilfe. Karotten schneiden für den Braten, den Braten mit Gewürzen einreiben, alles nach Anleitung.

Anfänger können nur nach Rezept leben, sagte ein Guru mal, die Meister schreiben eigene Rezepte und irgendwo dazwischen sind Leute, wie mein Vater. Der hat immer einfach alles in eine Pfanne geworfen. Hauptsache Nahrung, ohne Rücksicht auf Geschmack oder Ästhetik. Das Auge isst nicht mit, der Hunger isst mit.

Mit Vater wahren wir als Kinder deshalb häufig auswärts essen. So häufig es ging. Nur ein Rezept blieb mir in Erinnerung, welches er meisterhaft beherrschte. Apfelpfannkuchen. Wenn es die gab, war mein Vater Chefkoch. Mit Zucker und den Äpfeln im Teig der Pfannkuchen. Das konnte nicht mal Mutter.
Das beeindruckte mich.

Und ich selbst bekam irgendwann einen Kontaktgrill geschenkt und dieses Teil war in der Lage alles perfekt zu grillen, sogar Steaks. Also war das mein Kochen. Das klang so altmodisch männlich, „Ich grille heute“. Aber ich habe nie verstanden, wie man am Grill steht, Feuer macht und Fleisch wendet.

Ich hatte nie so einen altmodischen Vater, meiner zeigte mir, dass man mit Technik alles lösen konnte. So wünschte ich mir einen Roboterfreund als Kind von ihm, aber das war damals selbst dem Ingenieur zu schwer.

Mutter lässt mich heutzutage immer abschmecken, sie weiß nicht, ob etwas gut schmeckt, ich sage es ihr immer, dass es gut schmeckt. Oder erkenne, wenn was nachgewürzt werden muss.

Kochen, das war Liebe in unserer Familie. Sie ging durch den Magen, wo doch äußerlich häufig wenig herrschte. Aber ich bin nicht deswegen so dick geworden, das kam mit der Krankheit und den Medikamenten. Da weiß man nicht mehr, wann man satt ist und hat Hunger, wenn man eigentlich genug hat. Wenn man dann noch Sport hasst, dann geht Liebe am Bauch vorbei. Leider. Aber meine Liebe bleibt, sie gehört mir und nicht der toten Schönheitsindustrie. Guten Appetit.

Margit Heumann: Mahlzeit!

Der Wirt der Stadtschenke am Tiergärtner Tor stellt den Kupferkessel mit der fränkischen Bierbowle zwischen die bauchigen Glastassen auf der Theke.

„So! Alles fertig für die Firmenfeier des Frankenfernsehens.“ Noch ein kritischer Blick über die gedeckte Tafel, die Reihe hochglanzpolierter Speisenwärmer mit dem warmen Buffet und den Desserttisch am Ende. „Fehlt nur noch das Personal“, murmelt er und verlässt den Saal, um seine Angestellten auf Trab zu bringen.

Ein abgrundtiefer Seufzer durchbricht die Stille.

„In was für Zeiten leben wir eigentlich?“, jammert der Kloß und rotiert empört um seine eigene Achse. „Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich nur daran denke, wie man mich aus dem Tiefkühlschrank direkt ins kochende Wasser geworfen hat. Ein Schock! Das wünscht man seinem schlimmsten Feind nicht.“

„Die Köche sind nicht mehr das, was sie mal waren“, pflichtet ihm das Schnitzel bei. „Früher wurde ich in Butterschmalz in der Pfanne herausgebacken, jetzt lässt man mich einfach in die Fritteuse fallen und im Öl ertrinken. Und wenn ich noch lange hier herumliege, ist es mit meiner Knusprigkeit auch vorbei.“

„Wem sagen Sie das?“, stöhnt der Kartoffelstopfer. „Die Kochkultur ist ausgestorben. Ich werde aus dem Päckchen zusammengerührt und bin nur noch ein geschmackloser Einheitsbrei.“

„Geht mir auch nicht viel besser“, blubbert die Hochzeitssuppe und blinzelt ärgerlich über den Rand des Suppentopfs. „Sieben verschiedene Einlagen, die es braucht um Glück zu bringen, habe ich schon lange nicht mehr und meine Fettaugen werden auch immer weniger.“

„An mir ist das gottseidank so ziemlich vorbeigegangen. Ich bin nach wie vor konkurrenzlos die Nummer Eins“, brüstet sich das Schäufele. „Allerdings wird meine Herkunft weniger fett gemästet als früher. Und das Beste an mir, meine knusprig gebratene Oberhaut, bleibt so und so oft auf dem Teller liegen.“

„Wenn’s nur das wäre!“, beschwert sich der Gurkensalat. „Mit dem Schlankheitswahn ist mir der Sauerrahm fast komplett abhanden gekommen, seit neuestem muss ich mich mit Magerjoghurt zufriedengeben. Magerjoghurt, ich bitte Sie! Da muss das Aroma ja auf der Strecke bleiben, wo doch jeder weiß, dass Fett der beste Geschmacksträger ist.“

„Kalorien sparen um jeden Preis, das ist leider der Zeitgeschmack“, erklärt der Karpfen. „Was glauben Sie, gegen wie viele Nebenbuhler ich heutzutage anstinken muss? Aber ich behaupte meinen Platz, das schwöre ich.“ Er reckt die frittierten Flossen so weit wie möglich über den Plattenrand.

„Rücken Sie mir bloß nicht auf die Pelle“, ärgert sich die Rostbratwurst. „Ich unterliege einem strengen Reinheitsgebot und Fischgeruch verdirbt meinen Charakter.“ Angeekelt wendet sie sich ab.

„Wie kann man nur so eingebildet sein“, näselt der Wirsing daneben. „So wie Sie riechen, weiß doch keiner, mit wie vielen chemischen Zusatzstoffen Sie versetzt sind.“

„Das sagt der richtige“, gibt die Wurst erbost zurück. „Sie duften auch nicht gerade nach Veilchen!“

„Aber ich bin pürierte Natur pur“, prahlt das fränkische Gemüse selbstbewusst. „In dieser Hinsicht habe ich mir nichts vorzuwerfen.“

„Das mag ja sein“, tönt es aus der Kristallschüssel am Ende des Buffets, „aber Ihre Konsistenz ist sogar für Blinde und Zahnlose eine Zumutung, graugrün und matschig, wie Sie daherkommen. Ich dagegen …“ Der Obstsalat präsentiert sich in seiner ganzen knackigen Buntheit und setzt noch eins drauf: „Und Ihre Vitamine sind auch im Eimer, so lange wie Sie vor sich hin köcheln.“

„Das ist nicht meine Schuld“, rechtfertigt sich der Wirsing, „sondern …“

„Psst!“, zischt die Bierbowle und unterdrückt einen Hickser. „Sie kommen!“

Die Tür geht auf und das Personal nimmt Aufstellung, gefolgt von den Gästen. Mit „Ah“ und „Oh!“ und „Mmmh!“ wird das Buffet gestürmt.

(aus Margit Heumann: Ein schräger Blick auf Nürnberg)

Philip Krömer: Erbschuld

I Erbsache

Das Display zeigt die Nummer meiner Schwester, ich hebe mit Widerwillen ab. Ob ich mich um das HAUS kümmern könne. Nachdem sie doch bereits den Verkauf organisiere. Sie komme so bald nicht fort von ihrer Arbeit, die Anreise sei zu weit, schon zur Beerdigung hatte sie es nicht geschafft. Welche ebenfalls sie, aus der Ferne, in die Wege geleitet hatte. Nur beim Herablassen der beiden Särge bediente ich die Winde, warf eine Schippe Erde hinterher, für alles andere war gesorgt. Wenigstens konnte ich, als einziger der wenigen Trauergäste, ein paar Tränen weinen.

Unser ELTERNHAUS. In dem wir aufgewachsen waren. Oben am Hang. Das müsse jetzt weg.

In dem meine Eltern nach unserem Auszug alleine lebten, selten Besuch bekamen, am seltensten von meiner Schwester oder mir. Und wo sie vor wenigen Wochen kurz nacheinander starben. Als sie das Telefon nicht mehr abhoben, informierte ich den Notarzt, der dann auch die Toten fand. Man verstaute sie in ihren Särgen, ohne dass ich sie vorher noch einmal gesehen hätte. Der Bestatter riet davon ab, die Leichen hatten wohl schon einige Zeit unbemerkt gelegen.

In beiden Fällen ging man von natürlichen Todesursachen aus. Anzeichen für einen Suizid gab es keinen und auch die Verwahrlosung überstieg nicht das übliche Maß von, von ihren Mitmenschen abgesondert lebenden Greisen. Bei den so nah beieinanderliegenden Todeszeitpunkten musste es sich um Zufall handeln.

Also ob ich nun? Ja, ja, ja, ich würde mich um das HAUS kümmern.

II Erbgut

Unser ELTERNHAUS liegt am Wendehammer einer Sackgasse, vom Balkon aus, ich erinnere mich, überblickt man die ganze Stadt. Der Garten, aus dessen Wildnis noch das Gerüst unserer Holzschaukel ragt, fällt bis zum Grundstücksende hin steil ab, wo die Igel ihre Winternester bauten und der Kompost stank. Ich erinnere mich.

Die Tür ist nur angelehnt, der Notarzt musste sie aufbrechen. Der Teppich im Flur ist voller Flecken, Altpapier stapelt sich in den Ecken, wo anfangen? Ich versuche den Lichtschalter und den Wasserhahn im Gästeklo. Strom und Wasser funktionieren noch. Das macht mir die Sache leichter, sollte ich hier bis in die Nacht beschäftigt sein. Und für die dunklen Ecken brauche ich auch keine Taschenlampe.

Meine Schwester hat längst einen interessierten Käufer für das Grundstück gefunden, das aufgrund seiner Lage inzwischen viel wert ist. Ihren Erbteil möchte sie anderweitig investieren. Auch ich habe nichts gegen ein bisschen Bargeld. Doch dafür muss zuerst das Haus weichen. Mit seinem feuchten Mauerwerk und dem morschen Dachstuhl ist es nurmehr ein Verkaufshindernis, eine Renovierung wäre viel zu teuer.

Der Abrissunternehmer, den meine Schwester schon für morgen engagiert hat, sagte mir im Vertrauen, wenn wir keine Lust hätten auszumisten, sollten wir alles Gerümpel einfach stehen lassen. Eigentlich müsse das getrennt entsorgt werden. Aber für einen Tausender extra nehme er das Risiko auf sich. Mit dem Bulldozer zusammengeschoben lande es mit Mauerwerk und Ziegeln in der Mulde für den Bauschutt. Wer könne dann noch zwischen Anrichte und Tragebalken unterscheiden? Elektrogeräte, Rohre und Leitungen entferne er vorher, das Material lasse sich weiterverwerten, die Einrichtung dagegen – die durchgesessenen Polstermöbel und Sperrholzregale mit den Büchergilde-Ausgaben – die sei die Mühe doch nicht wert …

Den Tausender werde ich von meiner Hälfte des Erlöses nehmen. Um das Ausräumen muss ich mich also nicht kümmern, lediglich ein paar Erinnerungsstücke auswählen und versteckte Wertgegenstände suchen.

III Erbmasse

Im Keller steht das Wasser knöchelhoch, eingesickert vermutlich aus einem geborstenen Rohr. Die Akten meines Vaters, seine Urkunden, sie sind alle verschimmelt. Auf der Couch im Wohnzimmer wurden ihre beiden Leichen gefunden. Obwohl ich eine Pause bräuchte, setze ich mich nicht. In der Küche herrscht Chaos, nur die Kaffeemaschine ist gut in Schuss. Und wo man seine Tasse hinstellen würde, bevor man den Kaffee durchlässt, steht auch eine.

Und der Kaffee darin. Ist noch warm.

Ohne eine Erklärung dafür finden zu wollen, treibe ich mich zur Eile an. Mit dem ausgestreckten Arm schiebe ich die Bücher von den Regalbrettern. Im Obergeschoss leere ich den Kleiderschrank meiner Eltern aus und schneide sogar mit einem Teppichmesser ihre Matratzen auf. Wertsachen finde ich keine.

In Mutters Malzimmer, meinem ehemaligen Kinderzimmer, das an das Schlafzimmer der Eltern grenzt, haben sie dafür mein altes Bett wieder aufgebaut. Ein nostalgischer Anfall auf ihre späten Tage? Die Bettpfosten sind bedeckt mit ausgeblichenen Stickern. Das Bett ist natürlich längst zu kurz für mich, meine Füße ragen über den Rahmen hinaus, aber Kopfkissen und Decke sind frisch bezogen. Sie riechen sogar noch nach Waschmittel. Beim Aufstehen stoße ich mir den Kopf am unter der Deckenlampe hängenden B52, der all die Jahre in einer Kiste auf dem Speicher verbrachte. Stundenlange Arbeit mit den filigranen Bauteilen und Klebstoff. Ich erinnere mich.

Und fahre herum. Im Flur bewegt sich etwas. Schritte lassen die Treppe knarren. Unten Stimmen. Im Wohnzimmer läuft der Fernseher, eine Gameshow, wie Mutter sie mochte. Auch den Fernsehanschluss abzuklemmen, hat der Techniker bisher wohl nicht geschafft.

IV Erblast

In der Küche brennt Licht, wo ich es zuvor löschte. Ich nehme einen Schluck aus der Tasse. Das Verhältnis von Kaffee zu Milch entspricht demjenigen, das mein Vater bevorzugte. Ich erinnere mich.

Ich texte meiner Schwester, dass sich jemand im Haus befinde, der seinen Kaffee genau wie Papa trinke. Obwohl es mittlerweile spät ist, schreibt sie mir sofort zurück: schon soweit, siehst du jetzt gesiter? du hast doch irhe leichen gesehn!!

Habe ich nicht. Ich half nicht einmal, ihre Särge zu tragen, drehte lediglich an der Winde, wobei nicht festzustellen war, ob die Särge schwer wogen. Die Übersetzung war zu groß. Oder ob sie leicht waren, wie leer.

Im ersten Stock rauscht die Klospülung.

Dann die Stimme. Was machst du denn noch auf, Bub? Komm, geh hoch ins Bett. Mama kommt gleich noch mal zu dir.

Ich stehe ohne zu atmen. Als ich doch wage, mich umzudrehen, ist dort niemand. Und träum was Schönes.

Das Bett meiner Eltern ist aufgeschlagen, als bereite sich jemand auf die Nacht vor. Im Badezimmer gurgelt der Spülkasten. Die Zahnbürsten sind nass. In mein Kinderbett passe ich, als wäre ich nie daraus aufgestanden.

Haaaben Iiiwan Puschkin, Sekt und Wodka
Erst. So recht. In Stimmung dann gebracht,
Tanzt er Kasahatschok mit seiner Nina,
Biiis. Am Mooorgen. Dann der Tag erwacht, ja, ja, ja …

Mutter war immer eine gute Sängerin, ihr Repertoire jedoch war klein. Die Lieder, die sie uns zum Einschlafen vorsang, folgten, wie auf einem Musikalbum, stets einer festen Reihenfolge. Und wenn sie mit dem letzten Lied fertig war und wir schliefen immer noch nicht, begann sie wieder von vorn.

Mama? – Ein Glück, dass ihr uns nicht habt kremieren lassen. Papa hat sich da auch sehr gefreut drüber. – Mama, wie? – Ach, die neunzig Zentimeter zwischen Sargdeckel und Erdoberfläche! Wenn du nicht ganz malad bist, schaufelst du das doch in ein paar Stunden mit den Händen weg. –

Bis. Am Morgen. Dann.

V Der Tag erwacht

Pünktlich um acht Uhr kommen die Arbeiter, um die Kabel aus der Wand zu klopfen. Sie finden mich noch im Bett, die Decke bis ans Kinn gezogen, die Beine angewinkelt, wartend, dass man mich zum Frühstück ruft. Mittags sollen schon die Bagger anrücken? Ich rufe meine Schwester an, doch sie lässt das Telefon klingeln. Ja, ja, ja.

Frédéric Valin: Wohnen

Nachts um zwei ist wieder was los. Mein Zimmer grenzt an die Küche, und Tag und Nacht haben für Ilse nur noch marginale Bedeutung; häufig kriegt sie nachts um zwei Lust auf, sagen wir mal, eine heiße Milch. Blöderweise steht keine heiße Milch im Kühlschrank, man braucht einen Topf – den alten, verbeulten, blankgescheuerten am besten, in dem wird schon seit Jahren, vielleicht auch Jahrzehnten die Milch heiß gemacht.

Dazu braucht es auch den Herd, ein altes Ding, das noch mit Gas betrieben wird, und der keinen Anzünder hat; man muss ihn mit dem Feuerzeug entflammen. Außerdem ist er widerspenstig, das Feuerzeug muss schon im richtigen Abstand zum Ventil gehalten werden, im richtigen Winkel sowieso, und das ist eben schwierig, wenn die Hände zittern und die Ungeduld wächst.

Es dauert nicht lang, bis Ilse das erste Mal ein enerviertes „Du Scheißding“ entfährt, und dann dauert es noch kürzer, bis sie es ein zweites Mal sagt. „Geh endlich an, Du Scheißding!“ An guten Tagen – an guten Nächten vielmehr – bleibt es dabei. Irgendwann klappt das alles schon, und am nächsten Morgen ist dann alles wie immer, bloß mit zwei drei Milchflecken auf dem Herd. In schlechten Stunden aber ist der erste Fluch nur der Riss im Damm, und es drängt immer mehr Gefühl und Frustration heraus, warum die Scheiße nicht so will, wie sie soll, warum eigentlich alles so gottverdammt schwer geworden ist, was zur Hölle das alles eigentlich noch soll.

Und wenn der Damm erstmal gerissen ist, dann bleibt es auch nicht bei der Scheißigkeit des Herdes, schließlich ist dieser Herd nicht die einzige Zumutung; nein, die Scheißtabletten, die nichts nutzen, fliegen dann in die Ecke, und bald wird ein Fluch zum Himmel geschickt – „Der liebe Gott, ja, wie kann der das machen, man muss ja blöde sein, um an einen Gott zu glauben, der ist ein Schwein, eine Dreckssau…“ Hier hält Ilse kurz inne. „Nein“, sagt sie dann, „Schweine sind nicht so, die Schweine können nichts dafür.“ Aber es ist nur eine kurze Unterbrechung, und es ist im Grunde egal, ob der Herd nicht funktioniert oder der Faden nicht durchs Nadelöhr will oder ein Brief, der wieder viel zu klein gedruckt ist, gekommen ist, obwohl sie eine Postkarte erwartet hat; schuld ist Deutschland, dieses Drecksland, das voller Nazis ist, immer schon war und immer so zivilisiert tut. „Wie kann ein Land sich zivilisiert nennen“, fragt sie, „und ich habe einen solchen Herd? Dieses Drecksland, diese Arschlöcher alle, meinen sie wären sonstwer!“ und mal ganz im Ernst: wer könnte da widersprechen. Ich nicht.