Matt S. Bakausky: F wie Liebe

Dieser Text beruht auf wahren Begegebenheiten.

Ich bin verliebt. Beim Online-Dating hat es Klick gemacht. Sabine liebt mich auch, ganz bestimmt. Ich wollte eigentlich das Angebot kündigen, doch dann tauchte sie plötzlich wie aus dem Nichts auf. Ist das nicht romantisch? Ich mit 35 noch einmal die große Liebe finden! Wer hätte das gedacht. Stolz erzähle ich meinem Kumpel Bert davon. Er kann sich das irgendwie nicht vorstellen, so ganz einfach nur durch den Austausch von Worten und Fotos sich zu verlieben. Man muss doch die Person mal treffen oder zumindest ihre Stimme hören. Aber ich bin auf Wolke Sieben. Sabine will nun mal nicht Telefonieren, so sind Frauen eben  schreibt sie, ja sie ist etwas schüchtern, traut sich nicht. Ich muss sie also erst mal überzeugen, dass es sicher ist mit mir zu sprechen. Auch ihre E-Mail-Adresse will sie mir noch nicht geben, sie meint, dass sie die vor allem geschäftlich verwendet. Ich zeige mich verständnisvoll, denn sie muss ja sehen, dass ich nicht gefährlich bin. Mein Kumpel Bert fragt nach ein paar Wochen, was denn jetzt los sei, ob ich sie mal getroffen hätte. Ich sage ihm, dass sie noch nicht so weit ist, dass sie zwar ein wunderbarer, jedoch schüchterner Mensch, sei. Bert ist auf einmal interessiert an dieser Online-Dating Webseite und fragt mich, ob die kostenlos ist. Ich sage ihm, dass man da nur Nachrichten schreiben kann, wenn man zahlt. Und er fragt wie viel ich dafür denn zahle, dass ich dieser Frau schreiben kann. Und ich traue es mich nicht ihm zu sagen. Doch er lässt nicht locker. Und ich sage es ihm. Er sagt: „159 Euro im Monat, spinnst du? Und seit wann bist du da dabei?“ Ich sage ihm, dass er sich beruhigen soll. Ich bin erst seit einigen Monaten dabei und anfangs hatte ich nur einen Basic-Account und jetzt habe ich einen Pro-Account. Der Unterschied ist, dass man mit dem Pro-Account besser gefunden wird, mehr Reichweite hat und man sehen kann, wer sein Profil besucht hat. Bert ist immer noch entsetzt und meint jetzt: „Die verarschen dich doch! Für 159 Euro im Monat würde ich dir auch ein paar Nachrichten zuschicken. Schon mal dran gedacht, dass das auch ein Dude sein könnte?“ Nein, nein, so ist das nicht. Ich breche erstmal den Kontakt zu Bert ab, denn meine große Liebe –  Sabine – ein Dude, das kann nicht sein und Bert scheint sich da in etwas hinein zu steigern. Aber es nagt doch an mir, dieses Gespräch und ich spreche meine Traumfrau darauf an. Sie reagiert geschockt und ist beleidigt. Als ich mich entschuldige, reagiert sie erst nicht. Ich habe es wohl versemmelt, sie hat sich seitdem nicht mehr gemeldet. Ich habe diese wunderbare, jedoch schüchterne Frau verjagt. Ich traute mich nicht mein Profil zu kündigen, Sabine könnte jeden Tag auf mich zukommen und antworten. 

Ich kam auf die Idee nach ihr zu suchen. Und begann eine kleine Zettelkampagne in meiner Stadt … „Wer kennt diese Frau?“ … jemand fotografierte diesen Zettel ab und er landete im Internet. Ein TV-Sender rief mich an und fragte mich zu meiner Kampagne aus. Ich wurde in eine Talkshow eingeladen. Erzählte von meiner großen Liebe Sabine und wie ich sie verloren hatte. Dann als ich eine Träne vom Gesicht wischte und die Kamera darauf zoomte, in diesem Moment sagte die Moderatorin … „Wir haben die Frau auf dem Foto gefunden!“ und ich freute mich so sehr das ich zu schwitzen anfing und mir ganz warm ums Herz wurde. Ich fragte: „Ist Sabine heute hier?“ … Und die Moderatorin sagt: „Nein, aber wir haben eine Videobotschaft“. Und da war sie – meine Traumfrau – auf dem Bildschirm. Ein Reporter interviewte sie scheinbar zu dem Foto meiner Kampagne… jedoch sprach sie auf einer anderen Sprache und ein Dolmetscher übersetzte ihre Worte. „Ich bin die Frau auf den Fotos, ja“ „und wie ist ihr Name?“ „Ich heißte Tereza“… „und kennen Sie diesen Mann?“ „Nein, ich kenne ihn nicht.“ – Wie ist das möglich, dachte ich mir… sie wird sich doch an mich erinnern… „Ich habe die Fotos verkauft an eine Bildagentur vor 4 Jahren, ich weiß nicht, was die damit gemacht haben!“…. Mir ist etwas schwindelig, sie haben bestimmt nur eine Doppelgängerin gefunden! Die sieht schon etwas anders aus als auf den Fotos und die spricht Tschechisch…. Auf einmal wird alles weiß. Ich höre eine Stimme aus der Ferne … „Matt, du bist auf ein Fake-Profil hereingefallen. Das tut uns ja sooo Leid.“ Ich sehe nichts mehr, nur noch weiß. Sterbe ich?
Später sehen Bert und ich uns die Sendung im Fernsehen an, in dem Moment, in dem ich nur weiß sah, wankte ich leicht hin und her und die Moderatorin stützte mich und brachte mich auf meinen Platz zurück. Dann kündigt sie die fünf Tipps an, mit denen man seriöses Online-Dating erkennt. „Und glaubst du mir jetzt?“, fragt Bert. Ich lache ihn aus und antworte „Nein, das haben die doch gefaket, Fernsehen ist alles Fake! Sabine hat sich wieder bei mir gemeldet und sie sagt das auch!“ Da schaut Bert mich traurig an. Vielleicht hätte er auch gerne so eine Frau wie Sabine, aber ich spreche es lieber nicht an.

Matthias Rische: Besitzlos

Ein Junge robbt durchs Unterholz. Sein Gesicht ist dreckverschmiert und von Ästen und Dornen zerkratzt, die Haare mit Erde und Laub überzogen. Die Armeejacke am Rücken zerrissen. Noch einige kräftige Züge mit den Unterarmen und er hat die Straße erreicht. Ein erstes Ziel. Unentdeckt.

Es ist finster. Die Chance, gesehen zu werden, verdammt gering. Solange er sich im Schutz der Bäume bewegt. Als sich seine Atmung beruhigt, zieht er sich an einem kräftigen Baumstamm in die Höhe. Die Oberschenkel fühlen sich an wie Watte. Aus der klammen Hose ragen nackte Füße. Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis er dem Wald entkommen ist.

Jetzt, wo er steht, ist sein Alter schwer zu schätzen. Unter dem Dreck im Gesicht, verbergen sich sehr weiche Züge. Er könnte ein zu groß geratener Zwölfjähriger, ein Jugendlicher oder gar ein junger Erwachsener sein.

In der Dunkelheit sind Lichtreflexe oder Autoscheinwerfer weithin erkennbar.
Macht es Sinn zu warten, bis ein Wagen vorbeikommt? Aber wonach soll er entscheiden, welcher ihm Sicherheit bietet?

In welche Richtung soll er sich bewegen? Auf der Suche nach einer Ortschaft! Er hat keine andere Wahl, als sich Hilfe zu holen. Er weiß nicht, wo er ist. Er kann sich für keine Richtung entscheiden. Also hat macht er es wie immer. Das vierte Auto, egal woher es kommt, ist seines. Es ist immer die vier, sobald eine Lösung gefunden werden muss.
Die Automarke ist nicht zu erkennen. Mittelklassewagen schätzt er.                       

Eine dunkelhaarige Frau sitzt hinter dem Steuer, lässt auf elektrischem Weg das Fenster auf der Beifahrerseite herunter. Die Frau ist nicht mehr jung. Er wundert sich darüber, dass ausgerechnet sie angehalten hat. Sie hat etwas zu verlieren.           
Das bestärkt ihn darin, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.                       

Sie wirkt nicht erschrocken. Lediglich einen Tick irritiert. „Komm erzähl mir eine Geschichte!“, sagt ihr Blick, unterstützt durch ein offenes Lächeln.              
Sie ist auf der Suche nach einem Abenteuer. Eines, welches sie bei ein paar Flaschen Wein ihren gelangweilten Freundinnen darbieten kann. Die Wahrheit ist ihr egal. Das kann er ihr bieten.                        

Stumm streckt er seinen Arm aus und deutet vage in die Fahrtrichtung. Beinah schüchtern öffnet er die Tür und gleitet auf den ledernen Beifahrersitz. Geräuschlos setzt sich der Wagen in Bewegung. Die Scheinwerfer schneiden nur unvollständige Bilder aus der Dunkelheit. Hier einen abgeschlagenen Baum, dort feuchten Asphalt. „Lore. Ich bin Lore. Dein Name interessiert mich nicht. Ist eh nur gelogen. Bist du schon lange auf der Flucht?“ Er setzt ein verständnisloses Gesicht auf. Zuckt die Schultern. Er ahnt, was die Fremde in ihm sieht. Ein gebrochenes Häuflein Mensch, dem man böse mitgespielt hat. Sie hält ihn für vierzehn, vielleicht fünfzehn. Für einen Jungen, der versucht seinen bösartigen Rabeneltern zu entkommen. Einen Jungen, der Hilfe und ein wenig Zuspruch braucht.      

Schon streicht ihre beringte Hand durch sein sandiges Haar. Zieht sie angeekelt zurück, sucht nach einem Stück Stoff, an der sie sie abwischen kann. Das wird sie kein zweites Mal versuchen. Beinahe hätte er gelächelt.                    

Verlegen reibt er seine Jeans zwischen angewinkelten Zeigefinger und Daumen, als wolle er sie nicht anschauen. Vor Scham.          
„Ivo“. Er erzählt den Namen seinem Knie. Irgendetwas muss er ihr bieten. Der vierte Buchstabe. Beim der Letzten hieß er Emre. Beide Namen passen zu seinem südländischen Aussehen. Wie seine Mutter ihn einst taufte, hat er vergessen. Zu lange schon benutzt er Phantasienamen. Erzählt, wenn es überhaupt notwendig wird, Phantasiegeschichten.            

Mutter ist vor drei Jahren an Krebs gestorben. Sein Vater kommt gar nicht mehr klar. Hat zu saufen begonnen. Verprügelt ihn, beinahe täglich. Das ist die harte Story. Eltern nach der Geburt verstorben. Seine alte Großmutter hat ihn liebevoll großgezogen. Vor einigen Tagen lag sie tot in ihrem Bett. Er hat sich zu ihr gelegt. Sie festgehalten. Dann sei er wie in Trance, ohne zu wissen, was er tat, durch die Stadt gezogen.                

Bei den meisten Leuten fließen schon weit vor Ende der Geschichte die Tränen.        

Die erzählt er nicht so oft. Er will nicht ihr Mitleid. Er will, dass sie sich um ihn kümmern. Für ihn sorgen. Gerne dürfen sie ihn auch im Kinder- oder Jugendnotdienst abgeben. Da gibt es warmes Essen, ein frisches Bett, manchmal Taschengeld.      

Die Dunkelhaarige wird ihn mit nach Hause nehmen. Das sagt ihm seine Erfahrung. Ihn einige Tage verwöhnen. Mit allen Annehmlichkeiten, die ihr zur Verfügung zu stehen. Dass das nicht wenige sind, zeigt ein Blick auf ihre Ringe.        

Wieder muss er ein Lächeln unterdrücken. Wie gut er in den vergangenen zehn Jahren gelernt hat, Leute einzuschätzen. Anhand weniger Worte oder Gesten zu erspüren, zu lesen, wie er sich verhalten muss. Wie sich die Menschen ihm gegenüber geben werden. Wann es Zeit wird, Kurzbeziehungen abzubrechen.    

Dabei kam ihm sein zunächst kleiner Wuchs, sein zierlicher Körperbau zugute. Er wirkte schon immer jünger als er tatsächlich war. Vorgestern, allein im Wald und bei einem lodernden Lagerfeuer hat er seinen 23. Geburtstag gefeiert. Er hat die letzten Jahre noch einmal an sich vorbeiziehen lassen. Da sind viele gute Erinnerungen. Begegnungen mit Menschen, die immer nur das Gute im anderen sahen. Die er über Tage und Wochen ausbeuten konnte. Materiell und emotional. Zwei waren dabei, da machte er nach der ersten Nacht, dass er schnell wieder weg kam. Beide Male Männer. Die waren ihm unheimlich und sie rochen extrem schlecht. Er hatte das Gefühl, die waren auf der Suche nach einem Betthasen, den sie locker beherrschen konnten. Nicht, dass er sich davor scheute, seinen Helfern auch körperlich zur Verfügung zu stehen. Schließlich ging es um Geben und Nehmen. Egal ob Mann oder Frau. Aber opfern oder benutzen lassen wollte er sich nicht.  

Einmal wurde es brenzlig. Da hatte er es mit einer Story so weit übertrieben, dass das hilfreiche Ehepaar sich genötigt sah, die Polizei einzuschalten. Bei den Bullen tat er so, als verstehe er kein deutsch. Sprach nur gebrochen englisch. Aufgrund seines jungen Aussehens, haben die ihn dann ans Jugendamt vermittelt. Heimunterbringung. Ohne, dass sie Zähne oder Handknochen vermessen hatten. Anhand dieser Untersuchungen war sehr schnell nachweisbar, dass er nicht mehr jugendlich war. Das hatte er gelesen. Ob man damit auch seine Herkunft bestimmen konnte, wusste er nicht. Aber irgendeine Untersuchungsmethode dafür, gab es bestimmt.    

Er will nicht meckern. Er hat viele Städte gesehen, in einigen Ländern. Hat noch nie für seinen Lebensunterhalt arbeiten müssen. Was will man mehr.        

Er lässt seinen Kopf gegen die dunkle Satinbluse der Frau sinken und schließt die Augen. Er spürt ihren prüfenden Seitenblick. Der Wagen gleitet weiterhin ruhig durch die Nacht. Es hat sich gelohnt, einige Tage unterzutauchen. Für sich selber und auch mal hungrig zu sein. Das schärft den Blick für das Angenehme.

Wer weiß, wie lange die Tour noch funktioniert. Das Leben hat es gut mit ihm gemeint, den Haarwuchs am Körper lange zurückgehalten. Ehe er seiner Retterin morgen früh Gesellschaft leistet, muss er sich erst ganz genau im Spiegel überprüfen. Aus jedem Gesicht verschwindet irgendwann die Jugend.        
Für die nächsten Tage ist er sicher.                  

„Weck mich, wenn wir da sind, Lore!“                              

Vincent Eivind Metzger: Fake.

Ich weiß ganz genau, was ihr jetzt hören wollt. Ihr wollt etwas über Fakenews hören, über Donald  Trump, vielleicht (wenn es gut läuft) etwas über Herrn aus zu von Guttenberg oder über Gucci Shirts. Aber nein. Ist doch eh alles fake? 

Wie wäre es mit den schönen Seiten von Fakes.  
Wir sollten uns mit diesen Seiten beschäftigen. 
Stellts euch nur mal vor, ein Traum! 

Wie schön ist es, den Arzt anzulügen, ein Attest zu bekommen und den Tag freizumachen? Fake! 

Wie schön war es in der Schule abzuschreiben und ohne gelernt zu haben die Matheklausur zu  bestehen? 
Fake! 

Wie schön ist es, zu denken ich wäre kreativ, nur weil ich einen Text für eine Literatursendung  schreibe! 
Fake! 

Wie schön ist es nach dem 6. Bier zu denken die Welt sei eigentlich doch ganz okay?
Fake! 

Aber Hey Leute. 
Fakes sind ehrlich. 
Fakes sind schön. 
Fakes sind wir. 
Fakes machen das Leben toll. Belügt euch! 

Damit einen schönen Montag. 
Smiley!

Harald Kappel: Lügenregen

in der alten Fabrik
strömt saure Gegenwart
aus den Oberlichtern
regnen langsam Lügen
die Anzahl der Legenden
kreuzt das Imperfekt
mit der Zeit
Kapitel des Schreckens
überdauern 
die Dummheit der Prokuristen 
Gerechtigkeit
verflüssigt alle Spiegel
offene Fragen
erhitzen die Zungen
schwüle Raumluft
strömt aus Oberlichtern
am Himmel
in der sauren Fabrik

Harald Kappel: der wahre Glaube

am Zaun
die schwarze Pupille 
Öl quillt aus dem Schlüsselloch
färbt Lügen blind
nur
ein loses Brett 
zeigt mir
das Geheime
den Winterschlaf der Ratten
die verklumpten Sterne
gern glaube ich 
pinsele mein Selbst
grabe im Erdschatten
stehe hüfthoch im Wurmloch
finde eingelegte Aale
winde mich in Neuigkeiten
nur
die Lügen
zeigen mir
meinen wahren Glauben
am Zaun

Jone Engel: Gedanken über Märchen

Märchen sind wieder im Kommen, hieß es vor ein paar Jahren.
In Nürnberg gibt es sogar mindestens eine Märchenerzählerin.

In der Pandemie ist sie wohl nicht verfügbar. Märchen, mit Maske vor Mund
und Nase erzählt, sind wahrscheinlich ziemlich unglaubwürdig.
Ich bin mit Märchen aufgewachsen und liebe Märchen. Meine Oma hat mir -als Kind, als ich krank war- einen ganzen Nachmittag lang Märchen vorgelesen.
Bis ihre Stimme heiser war. Ich bat sie um noch eins und noch eins… 
Es ging mir natürlich um das Hören der Geschichten – und sicher auch darum,
dass meine Großmutter in meiner Nähe war und blieb…

Auch in meinen erwachsenen Jahren haben mich Märchen begleitet.
In meinen Psychosen, so behauptet man, würde ich in einer Märchenwelt leben.
Und mein englischsprachiger ehemaliger Verlobter meinte nüchtern, das Leben wäre kein „Lala-Land“.

So grausam wie in einem blutigen Märchen ist unser deutscher Alltag nicht. Nicht mehr. Wirkliche Grausamkeit spielt sich oft lediglich subtil, in der den Blicken verborgenen Psyche – und in fernen Ländern, woanders ab. Was die Grausamkeit nicht wirklich leichter und erträglicher macht. Es scheint auch nicht mehr am Ende der Lebensgeschichte ein Happy End zu geben.

Ich möchte einmal ein richtig gutes Märchen schreiben. Vielleicht sogar eines, was heutzutage stattfindet.
Es gibt keinen Platz mehr für Märchen in unserer sachlichen, wissenschaftlich geprägten Welt und Gesellschaft. Da geht es um Leistung und Ellenbogen-Mentalität. Nur den Kindern räumt man gnädig das Recht ein, an Märchen glauben zu dürfen. 

Irgendwie hat es sich – für Erwachsene zumindest – ausgemärchelt.

Der Spruch von Oskar Wilde: „Am Ende wird alles gut, und wenn es nicht gut ist, ist es auch noch nicht das Ende“ gibt mit Halt und Hoffnung, wenn das Märchen versagt.

Katja Schraml: Ich nähe 1 Kopf an den Mantel

„Später stürzte er sich in seine Reinschrift.
Es wurde Abend. Morgen früh würde es sich ja zeigen,
ob er eine Kraft oder eine Null, eine Intelligenz
oder eine Maschine, ein Kopf oder ein Hohlkopf sei.
Für heute war es seines Erachtens nach genug.“

Robert Walser. Der Gehülfe

Neulich kam der Winter ins Land – man hat gar nicht mit ihm gerechnet <klimaneutral>. Da sperrt ich den Schrank auf, wo <komme, was Wolle> das gefriertauglich gewebte Einwickelgarnmaterial, das <Schal Schuh Chapeau> uns auf den Stadtstraßen schützt vor dem Kalthauch der Menschenköpfe.

1 Halsrheumatismus kriegt man nicht nur vom Grübeln …

Der Nacken dient uns als Gradmesser für die Kälte des Zugs. Es dauert nicht lang, bis der Hals wechselt von starr auf steif. Da muss man frühzeitig entgegenwirken – wenn der Wind erst im Land, fegt er rau übers Pflaster, da brauchts 1 guten Stand.

Da sperrt ich den Schrank auf + kramte in Winkeln, ihr wisst schon, wo man sonst nicht gern hiRnlangt, da hab ich zwischen Schund+Schmutz (Schmuddel+Schnulzen) den Schutz verpackt, weil ich mich ohne warm+sicher fühlte allein. Da holte ich den Mantel raus, klopfte ihn ab, schlüpfte hinein + stellte mich vor den Spiegel.

Jeden Tag 1 Selfie = sich selbst auf dem Laufenden sein.

Da war der Kopf los. Weg aus vorbei. Nur keine Panik!, denk ich, den finden wir schon. Wär ja gelacht.

Jaja.

Zwischen engagiert+enragiert den ganzen Tag hypertoniert … Winkel durchwühlen, Ecken eruieren, nachschauen in Nischen: nichts. Hab ich ihn verloren?

Abgefallen ist er mir wohl. Lose_gelockert entschwunden. Denn hätt eine_r ihn abgerissen, hätt ichs gemerkt. Da war aber, glaub ich, keine Gewalt am Werk. Kein Zerren Ziehen + Zwiebeln. Liegen lässt man sowas nicht. Oder doch? Haben wir unseren Kopf verschusselt verbummelt vertüdelt?

Was machen wir nun? Wo kriegen wir 1 Kopf zum Mantel überm Körper her? Lassen können wirs so nicht, fällt ja gleich auf. Wir müssen 1 finden, der zum Rest passt.

Wie soll das ausschauen?

Rund muss er sein. Ohne Ecken+Kanten. Soll ja nicht stören, nicht auffallen blöd. Schwarz soll er sein, selbiger Grund. Neon ist nicht unser Ding. Matt könnt er sein. Vom vielen Gebrauch glänzt er bald sicher <Patina> allein.

Amazing sur_face must-have used look.

1 Druckkopf vielleicht, der schön+schnell schließt. Der wehrt sich nicht lang. Man muss nicht viel anpassen einfädeln durchösen, der reagiert sofort. Mit genug Kraft ist er mit 1 Klick zu. Braucht man nicht mal 2 Hände.

Abers passt nicht so recht. Der Druck ist zu laut. Wir mögens, wenn sichs geräuschlos schließt. Geschickt sind wir ja, Gespür in den Fingern ist da – kein Zeichen von Glieder Gelenk Gichtschwierigkeit –

kein Dupuytren Raynaud Quervain Syndrom –

nur kalt sind die Hände oft – taub über Nacht. Mit Auf+Zuköpfen bleiben sie in Bewegung.

1 runden mattschwarzen Kopf mit 6 Löchern zum Ein+Ausfädeln. (1 siebtes gäb Sinn.)

Wo krieg ich den her? War da keiner im Futter <Ersatz>? Vielleicht haben wir irgendwo 1 übrig. Im Nähzukasten 1 Gratisexemplar? Nein. Aber …

Im Keller, ihr wisst schon, in 1 Kiste, liegt noch 1 altes K_leid. Das haben wir aussortiert, weils uns zu eng. Wegwerfen konnten wirs <K_leider_sammler_in> nicht. Der Stoff ist noch gut, da ist viel Erinnerung drin verwoben. Nur der Schnitt ist veraltet, das trägt heut keine_r mehr (auf). Da hängt noch 1 Kopf dran, den keine_r mehr braucht. Das zieh ich heraus.

Wie bringt man den Kopf an? Fest sicher Halt: Dass er nicht wieder fehlt fällt herab. Was braucht man für Werkzeug? Wie tief sticht die Nadel? Wie stark muss der Faden? Soll er vielleicht rot?

Wer hat uns das Nähen gelernt? <Flick Stopfen Strumpf.> Mit stumpfen Spitzen gegen plastische Kunsthüte auf zarten Kuppen. 1 Talent allein hilft uns wenig. 1 Bildung tut Not.

Doch den Kopf vom Kleid abschneiden, um ihn an den Mantel zu schneidern, will mir nicht von der Hand. Bevor ich mich vertu unds nicht richtig hinkrieg, der Kopf schwer_fällt übern Boden unters Bett rollt, wo keine_r hinkommt

(da liegt noch 1, ich weiß – der ist aber zu klein),

lass ich den Kopf dran + zieh das Kleid an – unterm Mantel merkt mans vielleicht nicht, dass passen+hineinpassen 2 verschiedene Maßangaben sind.

Was für 1 Fetzen! Verwaschen+zerrissen <kachektisch>; wos nicht spannt über BauchBeineBrust, leierts aus. Der Kopf sitzt nicht schlecht, wenn auch nicht sicher, den müsst man verstärken. (Haben wir noch 1 grünes Tuch?) Bestimmt hält er nicht lang, irgendwas, sagt das Spiegelbild, stimme nicht recht. Kleid Kopf + Mantel seien nicht ganz 1/1 ganzes ICH.

Das schlimmste ist nicht, wies (heute) aussieht. Sondern, an was (sich) der Kopf (mich) erinnert. Alte Zeit, wo alles schwer, müßig+leid. Es hilft alles nichts. Das Kleid muss jetzt weg, mit dem Kopf kommts zusammen in 1 Wegwerfwurfsack. Und nicht mehr hinunter in diesen Keller → hinaus in die Tonne schmeißen wir das.

Doch bevor wir da rauskönnen, brauchen wir 1 gescheiten Kopf. Und keinen vom Straßenrand mehr aufgelesen, nichts reduziert oder Gut_schein wie günstig. Schluss mit der Mesquinerie! Wir brauchen 1 Kundenkarte, um unsere Vorteile genießen zu können.

Ich bitte dich! Was?!

Janein stimmt hast du Recht. Bloß keine Massenware, uns interessiert nur, was l_imitiert. Wir kaufen Qual_i_tät exklusiv Luxusobjekt …

Ja sind wir denn 1 MoERdeRpuppe?

Vielleicht doch lieber old school <Bastlwastl>: malen falten + kneten.

Das hamwa doch imma so jeane jemacht!

Und dann siehts aus wie selbstgemacht. Gekonnt bis gewollt …

Suchen wir doch den alten Kopf wieder? Gehen wir hinaus, laufen die Wegstrecken ab? AlleE die Jahresgänge? Vielleicht hat ihn schon jemand (1 Josef) gefunden, mitgenommen + aufgesetzt. Vielleicht wurd er überfahren. Als Fußball benutzt in 1 Netz gekickt.

Vielleicht liegt er, bis wir 1x an die VerlustVerlierStelle kommen, längst im Lande des lost+found?

Ich nähe 1 Kopf an den Mantel, damits nicht auffällt, dass da 1 Körper lose wankt durch die Welt, der nicht weiß wohin. 7 Sinne geb ich ihm zum Gespür. 

Immer 1-2 mehr als nötig.

(Wer weiß, ob der Leib das, wenn er sichs aussuchen könnt, hätte gewollt – der hat doch am Tasten genug).

Ich nähe 1 Kopf an den Mantel, fragt mich nicht, woher ich den hab. Er passt wunderbar zum Körper unterm Umhang, wenn man davon ausgeht, dass Minus+Plus zusammengehören.

[Nur unter uns: Ich hab 1 paar Bücher <ausgelesen> in Wasser geWeicht, zusammengekleistert, gekugelt so gut wies geht (ganz rund wirds nicht). Natürlich ists feuergefährdet, das sind wir nunmal <attestiert traum_atisiert>. Wir halten uns besser mit AbisZ <Aggression Wut + Zorn> zurück, entzünden darfs nicht. Zweidrei Schwarzstriche+Silbersträhnen, so sollts gehen.]

Luftig locker + leicht ist mein neuer Kopf, gut gefüttert, darauf geb ich Acht: Wissenschaftsmacht.

Doch kaum ist der Kopf dran, hab ich den Mantel an, redet er mir was hinein. Ich soll ausm Fenster schauen, draußen der Himmel wär blau, was ich den Wollsack bräuchte <Umgang statt Umhang.> Und außerdem: 1 Kopf wie er würde nicht an Krägen vernäht, sondern <just in a second> extrahaftstark mit dem Hals verklebt. 1 Mantel, man schaut kaum, reißt schnell mal entzwei, da baumle der Kopf am Kragen herab. Gescheiter wärs, wir trögen träg trügen ihn selbst.

Der Kopf ist nicht dumm. Seh ich den Himmel an, seh ich, wie recht er hat, ganz schön <schLau> blau. Vielleicht kommt noch 1 Frühling <how unexpected!>, der letzte war schlampig+grau. Wenn ich mich trau?

Jahrelang haben wir Pandoras B. tiefhintenunten im Schrank verschlossen. Stell dir vor, wir merkten beim Rausholen+Öffnen, swar gar nichts drin?

Also zieh ich den Mantel aus, trenne den Kopf ihm ab, kleb ihn mir auf. Sieht nicht schlecht aus. Jetzt brauchen wir noch 1 ÜberAnzug. Ich hol uns die Schuhe für Schnelllauf und 4bis5 Teile Funktionsmaterial. <Schwurwolle, ich komme!> Wenn wir uns zügig bewegen, brauchen wir auch keinen Stehkragen, nur 1 Tuch, das den Atem uns schützt, und 1 für den Kopf – kühl bleibt nur die Stirn. Der Rucksack natürlich <survival extrem> → das nenn ich Aus_Rüstung. Alles scheint sicher, tüchtig, perfekt.

Da pochen <Schlag artig! Blut_Ader> dem Kopf beide Schläfen, schwindelt uns der was vor? Die Stirne ganz faltig, die Wangen so blass, die Schatten schwarz unterm Lid. Ich muss ihn kurz halten, sanft massieren, einölen vielleicht, damit, was noch rissig, schon bald geschmeidig. Was hat er denn jetzt?

Da schüttelt der Kopf sich. Er würde ja mitgehen, gar kein Problem, abers wär vielleicht <tRaukopf> endlich die Zeit für 1 Spazierlustwandelkleid. Unsere Lederhaut, meint er, als ob er uns kenne, sei genug gegerbt + bereit für den Wind in der Welt.

So schlau er auch ist, für klug halten wir ihn nicht. Wir schütteln+ziehen, anspannen+lockern: Janein, der sitzt fest. Den verlieren wir nicht. Den Kopf reißt uns keine_r mehr ab.

Nun gut, hab deinen Willen. Im Schrank hängen ja auch Aus_Geh_Gewänder. 1 werfen wir über, sfällt uns ganz leicht. Vielleicht ist der Kopf doch ganz gescheit. Wir packen die Tasche, schlüpfen in Schlappen, so schlieren schlenz schleufern wir durch die Welt.

Der Kopf ists zufrieden, heut wär so 1 Tag. Wir nicken uns zu. Nun gut, lieber Kopf, bleib mir erhalten haftbar + treu, wenn ich dir schon nachgebe nachgehe. Wie sollts anders sein, 1 Sturkopf zum Starrhals, so mussts sein. Denn mal los, lieber Trotz_, denn man tRau.

Harald Kappel: Intrauterine Märchen

nicht schuldig
spucke ich 
das Attentat
lässig
eine bedauerliche Hysterie
lebenslang
lese ich nun
im Käfig
im Kinderbuch
intrauterine Märchen
verfluche am Telefon
locker
die Opfer
den symmetrischen Abdruck
ihrer Brandblasen
lebenslang
wachsen mir
selbstunähnlich
Flügel aus Chitin
und Pathologien im Schädel
manchmal
häute ich mich 
lässig
eine bedauerliche Hysterie
mein tüchtiges Ich 
nicht schuldig
lebenslang

Zeha Schmidtke: Das Märchen von der Ameise und der Grille und ihrem gemeinsamen Feierabendpilz

Eine Grille hatte den ganzen Sommer über musiziert, während die Ameise für den Winter Getreide sammelte.

In Wahrheit nun taten es beide längst schon im Gefühl des zeitlos Immergleichen. Zu jeder Zeit und an allen Orten waren sie verfügbar für Königin und Publikum. Die Ameise durfte ihre Königin sogar duzen und fuhr mit ihr auf teambildende Erlebniswochenenden. Die Grille fiedelte auf den Bällen ihrer vermögenden Fans lustig zum Buffet. Selbst wenn sie insgeheim so manches Mal alledem schrecklich müde waren: Solange sie gebraucht wurden, konnten sie nicht untergehen im Mahlstrom des Weltengewimmels. So war ihr Glaube, und er stand fest.

Da aber kam ein Virus in die Welt, angsteinflößend unbekannt. Bilder von Toten und atemlos Kranken machten die Runde, und Sorge fuhr in alle Glieder. Das Leben blieb fortan daheim. Die belebten Plätze waren’s nimmermehr. Selbst im Ameisenhaufen wimmelte jede nurmehr noch für sich, allein in ihrer kleinsten Zelle. Und das Rad des Alltags, das niemals stillgestanden hatte, kam so schnell zur Ruh, dass jede Kreatur sich ungläubig die Augen rieb. Hatte es nicht immer geheißen, dass sein Schwung auch die Welt in Drehung hielt? Zum ersten Mal herrschte die Stille, und sie summte in den Ohren, als wären alle Nashornkäfer zugleich auf Paarungsflug.

„Nun also“, sprachen Grille und Ameise gemeinsam, „ein Neues ist ja stets auch Chance. Lasst uns fürs Erste Vorräte ausgeben; wir sind hier ja beileibe nicht arm.“ Als nun aber die Säcke zu den Wartenden gebracht wurden, da blieb’s doch wieder recht beim Alten: Wer vorher schon sehr viel besaß hatte, erhielt nun viel zum Ausgleich. Wer vorher aber wenig hatte, dem wurde nun noch weniger zuteil. „So hat es für alle einen Verzicht“, erklärten die Ameisen von der Ebene Verteilung, „und so sind wir es auch gewohnt. Wir wollen ja schließlich, dass es weitergeht.“ Da kam über die kleinste unter den Grillen ein bergegroßer Zorn. Sie hatte stets allein musiziert, in den allerkleinsten Ackerfurchen, wo immer man sie nur ließ, doch stets im Geiste für alle. Und alle wussten das, dessen war sie gewiss. Doch nun hatte man ihr aus dem Vorrat grad mal einen freudlosen Klumpen Hartz zum Mümmeln zugedacht. „Ging Euch Euer täglich Tun im Takte meiner Melodien nicht leichter von der Hand?“, fragte sie mit bitterer Zunge. „Und habt Ihr Euch nicht meine Verse vorgetragen, wenn Ihr von Liebe spracht? Und wenn mein Lied dann lief und ohne jeden Cent, spracht Ihr dann nicht: Sie spielen unser Lied?“ „Jawohl“, riefen da alle Grillen zum ersten Mal gemeinsam, „wir füllen Eure freie Zeit rund um die Bullshit-Jobs mit Poesie und Rausch. Mit Hoffnung, Sehnsucht, Lebenssinn. Wenn wir nicht wären, hättet Ihr längst vergessen, dass es das Streben nach dem Schöneren gibt. Wo hat es noch Momente, die nicht zweckgebunden sind? Nur in der Kunst und nicht in Eurem Alltagsleben! Und ist Euch das so wenig wert? Wollt Ihr all das schlicht verlieren? Es wird ein böses Ende nehmen, wo es den Freigeist bräuchte und doch die Krämerseele federführt.“

Diese Worte aber weckten in der mittelmäßigsten der Ameisen eine unbezähmbar speiende Glutwut: „Warum denn sollen wir Eure Künste höher preisen, als Ihr es selber tut? Ihr stellt Euch doch auf jedes Brett und unter jedes Licht, wenn man Euch nur ein Publikum verspricht. Und als das Virus kam, habt Ihr da nicht höchstselbst all Eure Kunst gleich online preisgegeben, bevor man auch nur Lockdown sagen konnte?“ – „Und gab es Elend vielleicht früher nicht?!“, führten es die anderen Ameisen eifrig weiter. „Gab’s vorher keine, unter Euch und unter uns, die still und heimlich längst schon nur am Krümel Hartze nagten? Habt Ihr die aufgefangen? In ebendieser Solidarität, nach der Ihr jetzt krakeelt, da es nun auch die Lauten von Euch trifft? Freilich, der Mensch ist so, dass ihm erst eignes Elend als unerträglich scheint. Doch sagt Ihr ja, dass ihn die Kunst verändern kann. Wo sieht man das bei Euch? Was ist denn die Lobpreisung Eurer hehren Kunst noch anderes als Preisen heiliger Ablassware? Spirituelle Krämerseelen, die Ihr seid, habt Ihr an dieser Welt genau so mitgewirkt.“      

Wild fuchtelten Insektenbeinchen durch die Luft und vor den starren Augenpaaren. Ameisenpiss schoss durch die Luft, man hörte Grillenzangen schnappen, und Kampfeshass nahm schnell Gestalt. An Mindestabstand dachte niemand mehr.

Da trat ein seltsam Wesen zwischen sie in ihre Mitte, von platter Art in der Gestalt und sprach über das heiße Schwirren: „Hört, hört. Ihr kennt mich gut. Mein Name ist in aller Munde. Ich bin die Wanze Systemrele und ohne Neigung zu einer Partei. Drum lasst Ihr mich im Ring hier richten. Für meine Arbeit will ich nichts. Es reicht mir, dass Ihr aufeinander schlagt. Denn so erkennt Ihr an, dass es auch weiterhin so bleibt. Und ich mich an Euch laben kann, was Wanzen nunmal tun, hurra, die Runde Eins.“ Und dann, schon gar so kurz vor Zwölf, dass es niemand mehr glauben könnte, wenn das hier nicht ein Märchen wär, da kam Moral in die Geschicht’ – und zwar vom Grunde her. Der Boden öffnet sich und spricht: „Das, was Ihr Boden nennt, auf dem ihr kraucht, bin alles ich. Ich bin der Pilz, der größte, ält’ste Organismus hier, ich muss jetzt schließlich sprechen. Weil Ihr nun nicht erkennen könnt, dass Euer Unterschied Ergänzung heißt. Dass es das Spiel und seine Wartung braucht. Das Daheim und das Wolkenkuckucksheim. Die Wild- und die Geborgenheit. Ameisengrillen in der Welt, mit ernstem Spaß. Sonst wird das nix.

Nun hatte ihr ja so viel Zeit, Ihr Evolutionierten, dass es heißt: Es ist schon nix geworden. Mein fungizider Vorschlag also, gutes Ende, das noch kommen kann: Ihr macht nun einfach alle weiter. Oder auch nicht. Macht’s, wie Ihr wollt. Und ich wachse gemächlich drüber. Und füge uns zusammen. Zu der Gemeinsamkeit, die Ihr alleine nicht schafftet. Das tut nicht weh und kostet nichts.“

Und seitdem ist es also so. Wir machen weiter oder nicht. Und Pilz gibt uns die Sporen. Denn jener Virus, vom dem hier zu sprechen war, das ist nicht dieser aus dem Hier und Jetzt. Nein, die Geschichte ist schon eine Weile her, wie jedes Märchen. Und heut ist längst schon mittendrin im Einigwerden. Du kannst den Hautpilz gern noch einmal niedersalben, auch am Fuß. Auf die paar Tage kommt’s nicht an.

So gibt es dann zum guten Schluß, zum Feierabend Pilz für Dich, mich, jede, jeden. Und wenn wir nicht gestorben sind, sind wir dann endlich alle einig eins.

Steffen Diebold: Die Nixe vom Neckar

In Ufermorast
ein Bein vertreten
Ostwind hustete
hinter die Ohren.

Der Salix Haare
hingen im Fluss lag
ausgeweidet die
Kette der Kähne.

Auch den letzten Tag
sinnlos verbummelt
taumelten wir in
ihr nachtblaues Kleid.