Andii Weber: Frühlingssonntag an der Wertach

Jamie, Jamie
Immmee, Immmee
Du bist Frau und ich bin Mann
Oh Jamie, Jamie
Immmee, Immmee
Loch in den Rippen: Druckverband

Ein Sonntag am Fluß als der Herrgott noch schlief
Anarchie!
die Bäume so hoch und das Wasser so tief
Anarchie!
Es lag so ein komischer Duft in der Luft
Anarchie!
Du nahmst dir die Frucht, hast den Garten verflucht
Anarchie!
Das einzige, das uns je verboten war
Anarchie
der Garten, der Apfel, der Mittelfingah

Jamie, Jamie
Immmee, Immmee
Du bist Frau und ich bin Mann
Oh Jamie, Jamie
Immmee, Immmee
Loch in den Rippen: Druckverband

Sieh nicht hin,  ich bin errigiert
Anarchie
Doch um regeln hast du dich niemals geschert
Anarchie
Nach kurzem Erröten gestand ich mir ein
Anarchie
Das ganze wird unser Verderben sein
Anarchie
Wir erkannten uns mehrfach und lachten dabei
Anarchie
Die Freiheit war groß, der Sonntag war geil!

Andii Weber: Beim Augenarzt

„Immer wenn ich auf die Straße gehe, werden meine Augen feucht!“

„Das kenne ich, das kenne ich!“

Der Augenarzt hat Ihren Kopf an einem mannshohen Gerät festgeschraubt. An den Schläfen ist eine Art Schraubstock befestigt, an dem er stetig dreht, bis sie den Schädelknochen knacksen hört. Sie will schreien, stöhnt dann aber nur kurz.

„Sie stöhnen. Vielleicht bedrückt sie ja etwas? Das könnte schon ein Hinweis sein. Sind sie traurig?.“

Sie kann nicht antworten, da ihr Kopf nun vollständig fixiert ist.
Jetzt hat der Arzt sie genau da, wo er sie haben wollte.

Vor ihren Augen tut sich etwas. Sie kann nicht erkennen, was es ist, da die Gerätschaften außerhalb des Schärfebereiches ihrer Augen liegen. Wir hingegen wissen, dass der Arzt eine Nadel in ihr Auge führen wird, um Gewebeproben der Netzhaut zur weiteren Untersuchung zu entnehmen. Für ihn reine Routine.

„das wird jetzt kurz pieken“

Und dann fühlt es sich genauso an, als ob man eine Nadel in das Auge einführt, um Netzhautproben zur weiteren Untersuchung zu entnehmen.

Der Arzt braucht drei Anläufe, bis er die richtige Stelle trifft.
Nach jedem Fehlversuch lacht er überaus laut auf, um seine Verlegenheit zu übertünchen. „Haha! Da bin ich wohl etwas unkonzentriert heute. Naja, dann halt nochmal.“

Die Prozedur wiederholt sich auf dem anderen Auge.
Der Arzt verlässt zum Zwecke der Netzhautuntersuchung den Behandlungsraum. Der Kopf bleibt fixiert, nur für den Fall.

Da sie aber den besten Augenarzt der Stadt ausgewählt hatte, war er schon nach zweieinhalb Stunden wieder im Behandlungsraum, mit blutiger Metzgerschürze und brandaktuellen Ergebnis:

„Also eines lässt mit bestimmter Sicherheit sagen: Sie sind nicht traurig. Sie können mir das ruhig glauben, ich bin Augenarzt.“

Andii Weber: Yoko und John – Eine Liebe aus Kaltschaum

Irgendwann in Amsterdam. Ein sonniger Morgen erhellt eine Suite in einer Jugendherberge. YOKO und JOHN erwachen gerade in ihre Flitterwochen hinein. Auf dem Tagesplan stehen heute eine original Industriehafenrundfahrt und eine coole Käseverkostung. Der Wecker gibt
einen Urschrei von sich. YOKO klappt hoch und begrüßt den Tag.

Y, herzallerliebst: Hui, was für ein schöner Morgen! Da möchte ich doch mal meinen Lieben Mann aufwecken. JOOOOHN! AUFWACHÄN JETZT! WIR HABEN HEUTE VIEL VOR!

John stöhnt, schält sich aus den Federn und sieht nicht ganz so frisch aus. Sein Bocklevel ist sichtlich low.

J: Was ist denn los mein Hasenpfötchen? Wie spät ist es denn?

Y, gewaltig schreiend: HALB SIEBÄÄHN! IN NER HALBEN STUNDE GIBTS ESSEN UNTEN!

J: Ach Rohrspätzchen, können wir nicht noch ein bisschen liegen bleiben? Nur 5 Minuten? Ich kauf uns dann später ne Dose Fisch und Chips unten am Hafen, ok?

Y: JOHN! KEINE AUSREDÄN! WIR WOLLEN DOCH SIGHTSEEING MACHÄN!

J: Ja schon, aber wir können auch noch in fünf Minuten Sightseeing machen, Hurzelpurz!

Y: WIR SIND HIER IN DER SCHÖNSTEN STADT EVER UND DU WILLST PÄNNÄN? DA HAB ICH MIR JA EINEN TOLLEN MANN GEANGÄLT! AMSTERDAM HAT DEN SECHSTGRÖSSTEN INDUSTRIEHAFÄN VON DER GANZÄN WÄLT. WAS KANN DENN JETZT WICHTIGER SEIN ALS SO EINÄ. EINMALIGÄ. INDUSTRIEHAFÄNRUNDFAHRT?

J: Na, Der Weltfrieden.

Y: DER WAS?

J: Der Weltfrieden.

Y: DAS HAB ICH AKUSTISCH SCHON VERSTANDÄN! ABER WAS HAT DAS MIT DEM WELTFRIEDÄN ZU TUN, WENN DU DA RUMLIEGST?

J: Joghurtschnäuzchen, wenn überall auf der Welt jetzt gerade alle Menschen noch ein bisschen liegen bleiben würden, dann wäre immerhin schon mal fünf Minuten Weltfrieden, oder?

Y: HM DA HAST DU WOHL RÄCHT!

J, erstaunt: Ja, wirklich?

Y: JA! LEG DICH RUHIG HIN! SCHNÄLL, BEVOR SIE WIEDER BOMBEN IRGENDWO REINSCHMEISSEN! LOS, SCHLAFÄÄN!

John ist sichtlich verwundert und schüttelt den Kopf und Yoko sieht ihrem Mann dabei zu, wie ihn der Kaltschaum zufrieden schmatzend in sich aufnimmt.

[bliep]

Werbeunterbrechung: Hallo Kids! Mein Name ist Dr.Mabuse und ich bin Zahnarzt. Immer wieder werde ich gefragt, wie man seine Zähne am besten vor dem abfaulen schützt. Leider fragen das die meisten Menschen erst, wenn ihnen die – sie verzeihen mir den Ausdruck – gammeligen Stumpen schon auf halb 12 aus dem Fressbrett hängen. Tja, blöd gelaufen.
Dabei ist die Lösung so simpel wie genial: Einfach zweimal täglich Zähneputzen. Wichtige und wertvolle Gesundheitstipps wie diesen erhalten sie jede Woche in der Apothekerbeschau. Ein erhabenes Magazin, gedruckt auf echtem Papier zum anfassen und zum riechen.Apothekerbeschau: Das Magazin für die Ewigkeit. Jetzt in jeder Apotheke

[bliep]

JOHN wacht auf und muss sich schütteln. das Zimmer ist berstend voll von
Menschen. es handelt sich um ein Rudel Journalisten, die das junge Paar keck mit ihren Digitalkameras anpirschen, Immer auf der Suche nach heißen Neuigkeiten zum aktuellen Weltgeschen. Drollig!

J flüsternd zu Yoko: Wer sind diese Leute?

Y leise schreiend: DAS SIND JOURNALISTÄN, JOHN!

J: Um Himmels Willen, wieso das denn? Ist das nicht gefährlich? Sind die Stubenrein?

Y: WIR MACHÄN JÄTZT KUNST JOHN!

J: Bittewas?

Y: KUNST! JOHN!

J: Ja das hab ich akustisch schon verstanden, Schmusekätzchen. Aber was hat das alles zu
bedeuten?

Y: WIR MACHEN EIN BED IN! WIR SIND ALSO QUASI IN THE BED DRINNEN, JOHN. UM ZU PROTESTIERÄN!

John ahnt worauf das ganze hinausläuft, reibt sich die Stirn und startet sein Morgendliches Yogaprogramm. Es beginnt mit dem Sandwurm.

J: Für den Weltfrieden, stimmts?

Y GENAU! DU BIST SOOOOOOOOOO. KLUG.

Das Rudel wird immer unruhiger. Die Jungtiere lechzen nach frischem Informationen, da tritt der Alpharüde hervor und beginnt zu investigieren. Ein Verhalten, dass in dieser Jahreszeit für ältere Journalisten übrigens vollkommen natürlich ist.

Journalist: Wuff! Guten morgen die Herrschaften, Wolfram Eschenacher von der Züricher Zeitung. Sie protestieren hier also für den Frieden?

J: Ja, naja … also demonstrieren … das war mehr so ‘ne kindliche Trotzreaktion …

Journalist: sehr interessant WUFFWUFFWUFF!. Und was soll das bringen? ist das nicht ein bisschen – verzeihen sie mir den Ausdruck – arrogant von ihnen? Dass Sie denken, dass sie durch herumlümmeln WUFFWUFF wirklich etwas verändern können?

Y säuselnd: Das ist nicht arrogant, sondern antiautoritär. Wissen sie, wenn nämlich alle Menschen einfach mal länger liegen bleiben täten, dann wäre ja auch auf der ganzen welt …

Journalist: HAHAHAWUFFWUFFWUFF sind sie nicht putzig?

Das Rudel, das bisher still zugehört hat, kann sich vor Bellen nicht mehr halten. Zwei Jungtiere, die wohl Ihren Platz in der Gruppe behaupten müssen, brechen aus der Gruppe
aus.

Jungjournalist Tim: TIm von der Bento hier, wüff. Wann wird endlich gebumst bei euch?

Jungjournalist Tom: Tom von Vice, kläffkläff. Genau! Wir brauchen Content!

Ein wilder Tumult bricht los. John und Yoko verschränken ihre Arme und bleiben regungslos sitzen. Den Journalisten wird klar, dass hier nichts weiter passieren wird und sie traben aus dem Zimmer.

J: Endlich sind die weg. Naja, dann können wir jetzt ja runter zum Früh…

Y: BIST DU DOOF? DU MACHST NOCH UNSER KUNSTWERK KAPUTT! DU BLEIBST SCHÖN LIEGEN!

J: Aber ich hab Hunger

Y: NICHTS GIBTS, DIE KUNST GEHT VOR. MEINST DU, JOSEPH BEUYS HÄTTE SICH AUS SEINEN KUNSTWERKEN ERST EINMAL EIN SCHMALZBROT GEMACHT, NUR, WEIL ER EIN BISSCHEN HUNGER HATTE? NEIN HÄTTE ER NICHT! ER HAT GETAN
WAS GETAN WERDEN MUSSTE! NÄMLICH KUNST. SO!

J: Is’ ja gut mein Zitronenfalter. Dann warte ich eben noch bis … wie lange soll dieses

Kunstwerk denn überhaupt stehen?

Y: EINE WOCHÄ. UND TAGSÜBÄR KANN MAN VORBEIKOMMEN UND SICHS
ANSCHAUÄN!

J. Eine Woche? Tagsüber anschauen? Ach Rattenpups, das halte ich aber für gar keine gute …

Es klopft zurückhaltend an der Tür. Ein älterer Mann mit verschmierter Hornbrille steht im Türrahmen. Er heißt Mammut und hat einen Strauß Blumen dabei. Außerdem weint er ein bisschen, aber das tut er würdevoll.

Mammut: Ich hoffe ich störe nicht. Ich weiß, wie schwer das gerade für euch ist.

Yoko und John schweigen. Sie wüssten sowieso nicht, was sie jetzt sagen sollten. Der Mann hat offenbar seelische Schmerzen. Mammut schreitet auf das Bett zu und legt die Blumen und die Pralinen daneben.

Mammut: Ich wünsche euch, auch im Namen der Gewerkschaft, ganz ganz viel Kraft. Ihr schafft das!

Mammut nickt kurz und verschwindet möglichst schnell. Ihm war dieser Besuch offensichtlich etwas peinlich

J: Aha, und so sehen jetzt also unsere Flitterwochen aus oder was?

Da erschallen Schalmeien und ein kleiner Junge mit lustiger Frisur tritt in den Raum. Er stampft mit jedem Schritt fest auf und hat ein zusammengekniffenes Gesicht. Er denkt wohl, dass ihn diese Gesichtsartistik wütender aussehen lässt, aber unsere beiden
Friedensaktivisten deuten das als unschuldige Niedlichkeit.

J: Oh schön, ein Kind! Kinder sind unsere Zukunft! Komm doch her, kleiner Fratz!

Der Junge stapft entschlossen auf das Bett zu

Junge: So ihr beiden Spinner, jetzt steht schon auf!

J: Nanu? Ein Kunstbanause?

Y: Wie heißt du denn, Junge?

Junge: Ich bin der Präsident von den US von A!

J, kichert: Na sowas

Y: JOHN!

Junge: Halt die Fresse, du Hippiepenner! Nimm gefälligst deinen Präsidenten ernst!

J: Ich bin aber Engländer!

Junge: Mir reichts! es ist fünf vor 12 und ihr lümmelt da rum. Und ganz Amerika mit euch.

J: Ganz Amerika?

Junge: Ja, ganz Amerika! Die Wirtschaft ist am Boden! Nichts geht mehr. So traurig!

J verwirrt: Also bist du jetzt traurig oder die Wirtschaft?

Junge: Ich bin nicht hier um über Wirtschaft zu diskutieren! Fakt ist, dass Alles stillsteht, bis ihr endlich aufsteht.

Y: Aber das war doch der Sinn, das ist antiautoritärer Protest …

J: Ein Scheiß ist das! Ihr hört sofort damit auf! Ich halt jetzt so lange die Luft an, bis ihr aufsteht!

J: Nein tu das nicht! Sowas endet böse!

Der Junge hält die Luft an. Yoko und John sitzen da und schauen ihm beim Blauwerden zu. Einige Minuten vergehen bis der Junge endlich bewusstlos umfällt. Poff.

J, vergnügt: Wow, das ganze hat ja echt was gebracht! Und ich konnte tatsächlich noch fünf Minuten schlafen. Und irgendwie hat es ja doch auch ein bisschen Spaß gemacht.

Y: DAS WAR EIN VOLLER ERFOLG! LASS UNS DAS BALD MAL WIEDER MACHEN,

JOHN!

J: Wie könnte ich da nein sagen, meine kleine Schreischnauze?

Andii Weber: Diätenratgeberbuch

Ich fand dich eines Nachts
Am Straßenrand
Nahm dich zu mir mit
Seitdem habe ich mein Leben im Griff

In dir steckt magisches Wissen
Von Birkenzucker, Kohl und Rüben
Und immer, wenn ich nicht mehr weiter weiss 
Frag ich dich, den du kannst helfen:

Wenn die Welt zu brechen droht
Diätenratgeberbuch
Wenn mein Zahnarzt über mich flucht
Diätenratgeberbuch
Wenn ein Alb mich im Traum besucht
Diätenratgeberbuch
Wenn mein Kaninchen plötzlich pupst
Diätenratgeberbuch
Wenn der Richter mich einbuchten tut
Diätenratgeberbuch
Wenn eine angespannte geopolitische Lage gelöst werden muss
Diätenratgeberbuch

Wenn die Tür so komisch knurrt
Und ihr Ex das Messer holt
Wenn das Finanzamt mir mein Geld abbucht
Wenn die Heuschreckenplage über uns kommt
Dann gibt es dich
Mein Diätenratgeberbuch!

Also, zum Abnehmen taugst du zwar nicht, aber als Ratgeber bist du gar nicht mal so schlecht.

Andii Weber: Stuttgarter Heimatspaziergang

Versuch einer Trivialvermatschung

HEUTE OPEN AIR KONZERT mit NIKITA BAMBULE um 16:30, dazu Rhababerkuchen. Nikita müht sich ab unten am Fuß des Berges. Er hat einen orangenen Amp der Marke Orange mitgebracht und singt irgendwas mit Liebe und Schmerz. Auf den Stufen vor ihm beginnen Menschen zu kuscheln, zu küssen und schließlich zu kopulieren. Ein erhebender Anblick, wenn man von oben draufguckt. Wie als versuche man, mit einem Buntstift der Farbe “Mitteleuropäer” einen Zeichentrickfilm mit der Faust zu malen. Eine Masse aus Fleisch und Körperflüssigkeit und das mitten in der Stadt.

Hinter dem Palais riecht es süsslich, ein bisschen nach Gras und ganz schön nach Verwesung. Da ist bestimmt ein Vogel verreckt, weil er zu viel gekifft hat. Aha, da geht es einen Berg hoch. In der Eisdiele nehmen sie jetzt nur noch Altgold als Zahlungsmittel. Aber das scheint zumindest zu schmecken. Fast hätt ich mir überlegt, diesen wunderschönen Tag mit einer Kugel Schlumpfeis zu feiern aber die Schlange vor der Eisdiele mit dem lustigen Pinguin als Maskottchen staut sich bis auf die Autobahnauffahrt.

Das Wetter ist schön und auf den Balkonen blühen die Tomatenpflanzen in diesen dekorativen Zinneimern. Ein junges Pärchen kommt vorbei. Sie tragen gemeinsam eine Autobatterie spazieren und sehen sehr sehr glücklich aus. Hachja, der Frühling.

Ich steige den Berg weiter hinauf und muss irgendwie an Gehröcke denken. Ich glaube, die Straße heißt Rockstraße. Ehrlicher, handgemachter Rock eben. Vielleicht ist vor hunderten Jahren Caspar David Friedrich (oder Peter Maffay) hier heraufgestiegen, um dem fiesen Feinstaub zu entfliehen und ins giftwölkige Thal zu blicken. Ein einziges Baustellenmoloch und Schuld ist nur diese Kessellage.

(beschwingt gesungen) Ja, die Kessellage. Kessellage, Kessellage die Kessellage sie ist gut! Ja, die Kessellage, Kessellage, Kessellage, sie fordert den Tribut.

Ein topologischer Albtraum, besonders mit dem Fahrrad. Der Gehweg führt vorbei an einer Villa, an der die Bewohner ein Schild angebracht haben. Was draufsteht? Mal schauen. Irgendwas mit Kunst. Und im Garten stehen so bunte Plexiglaskreisel, die jemand auf Stangen gestellt hat, um seine Geschmackssicherheit zu untergraben. Daneben ein Zahnarzt. Typisch. Ich greife mir einen dörrigen Zweig und stelle mir vor, es wäre ein Wanderstock voller bunter Plaketten mit kleinen, elegischen Dorfdarstellungen. Eine angenehme Fadigkeit überkommt mich wie ein seichter Zug. Wie ein kleines Kind lasse ich den Stock am Zaun rattern. Ein
alter Mann schreit mich aus einem Haus an und droht mir mit Schlägen. Sowas hätte es früher nicht gegeben; die Alten sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Ich schreie zurück dass ich ihm den Stock hier gleich quer in sein Fressbrett schiebe. Er nickt zufrieden und macht das Fenster zu. Da ist ein Brunnen, den irgendeine Fürstin zum Geburtstag bekommen hat. Das Wasser ist trinkbar und kalt. Auch hier sind Menschen, die kopulieren allerdings nicht (ganz so heftig).

Einkaufszettel Schinken (Bier) Bier! Zahnstoc​k​er. Mörderdinger. Gerstenmalz Ahornsyrup Mehl. Kartoffeln Apfelmus Hirnrindenfresser. Chips

Ich bau‘ ’ne Stadt für dich Aus Glas und Staub und Stein Und jede Straße die hinausführt Führt auch wieder rein Ich bau‘ eine Stadt für dich und für mich

Du bist das Pfaster, auf meiner Seele, deutsches Weib und deutscher Sang!

Heimat ist da, wo die Daumen rechts sind. Heimat ist im laufe der Zeit anders. Heimat ist da, wo ich das Wlanpasswort kann, sagte mein Opa immer. Heimat kommt selten allein: Votr und Mudr. Ein Kumpel von mir hat auf Facebook ein Bild von sich gepostet, wie ihm eine dicke Phillipinen die Hornhaut von den Füßen raspelt. Ich finde das befremdlich. Rüstige Rentnerin bietet klasse Kinderbetreuung. Rufen Sie mich an! Heimat ist, was man daraus macht.

An einem anderen Ort spaziert derweil eine Katze mit einem Nichtauge die Straße entlang, vorbei an einem glatzigen Mann, der eine Beule am Kopf trägt. Ein riesen Ding das, ich schwör! Die Beule sagt “Ahhhh” und ich sage “Bhhhhhh”. Sie schaut mich verdutzt an und kommt ins stottern. Jetzt erzählt sie vom Leben als Bowlingkugel. Was unpraktisch ist, da sie an einem Hinterkopf klebt. “Doppelkugel gültet nicht”, sagen die Vereinskollegen dann und hauen den Hinterkopf mit Sandförmchen. Die Beule schaut jetzt sehr traurig drein. Ich streichel ihr ein bisschen über die Haarstoppeln. Ein Träne rinnt dem Mann vom Hinterkopf. Er schreit seine Beule an, dass er jetzt endlich reingehen will in sein Haus und das tun sie dann auch. Die Beule sagt “Schüss” zu mir und ich trabe weiter.

Ein alter, grauer Mann mit Fahrrahd streitet sich mit einem jungen Bärtigen Menschen in einem weißen BMW darüber, ob es moralisch vertretbar ist, heutzutage mit dem Auto in die Stadt zu fahren. Der Streit eskaliert. Es fliegen Bucheckern, Kastanien und Eicheln Richtung Auto. Der junge Mann steigt aus. Er ist spindeldürr und hat einen astrein gepflegten Bart. “So ein Bastard!” Und er rennt auf den Alten zu und holt mit der Faust aus.“Halt mich zurück! HALT MICH ZURÜCK!” Wie in einem perfekt einstudierten Frühlingstanz springt ein dicker junger Mann aus dem BMW und hält den Dünnen zurück. Die Welt hat eben doch Ihre Ordnung. Eine Frau mit Kind steckt enttäuscht ihre Smartphonekamera zurück in den Holster. Die Show ist beendet und der BMW fährt mit donnerndem Auspuff ab.

Ich lege mich ein bisschen auf den Gehsteig und lausche den Bienen, wie sie in den Ritzen des Kopfsteinbeulenpflasters ihre Pollen sammeln. Ach, was ist das Leben nicht schön? Plötzlich kitzelt mich etwas am linken Ohr. eine nasse Substanz rinnt mir in den Gehörgang. Ich lausche dem Blut in meinen Ohren. Es klingt nach Petersilie. Ich werde langsam müde, aber bin erfüllt von diesem wunderbaren Gefühl, heute nichts verpasst zu haben. Vielleicht ist jetzt auch mal gut und ich bleib einfach die nächsten Tage oder Wochen genau hier liegen, bis ich im Rinnstein verschwunden bin.

Andii Weber: Kuhsee, 140x190cm, 1989

Plätscher, Plätscher, Dümpel dümpel, zisch.
Tschirp schirp.
“mama ich will ein eis”
tröpfeltröpfel. Dümpel dümpel. Surrrrrrr.
Tschirptschirptschirptschirptschirp.
Rauschhhhhhhhhhhhhh
”Ach schätzchen wir haben noch eis in der gefriertruhe. warte, bis wir zuhause sind dann kriegst du schönes Marzipaneis von weihnachten noch”
Hühüüühühühü tröpfeltröpfel dümpelzischhhh.
Surrr. Dümpel dümpel. Rausch.
Brummm Tschirp. Huhuhuhuhu. klatsch.
Dümpel plätscher
“ach menno. flennflenn dümpelzisch. brumm huhu tschirp dümpelklatsch.

Andii Weber: Motten

Es fing alles mit den Motten an. Er brachte es einfach nicht übers Herz, die eine kleine Motte zu erschlagen, die da so nebenbei in seine Wohnung geflattert kam. Er blinzelte ihr sogar noch zu und nannte sie liebevoll Fred. Tatsächlich kam Fred aber nicht alleine: Er hatte seine Verlobte im Schlepptau. Die Wohnung gefiel den beiden sehr und da sie ohnehin auf der Suche nach einer neuen Bleibe waren, blieben sie.
Das Mehl begann zu leben, der Reis begann zu leben, ja sogar die leeren Amazon™ – Kartons neben dem Stapel von Anzeigeblättern, die Er jeden Sonntag gewissenhaft aus seinem Briefkasten fischte, auch sie begannen zu leben. Und so lebte das ganze Zimmer.
Seiner Meinung nach war nun aber doch etwas viel Leben in der Bude; Er wollte seine geliebte Ruhe zurück. Dazu gab es einen simplen Plan in seinem Kopf – Er musste Dustin gewähren lassen. Dustin, das war sein Erzfeind. So sehr Er auch Tiere liebte, Spinnen hasste Er. Doch nun musste Er es zulassen, dass Dustin sich vermehrte. Und so ward es.
Aus dem weißen, klebrigen Haufen, die Dustin in der Wohnung hinterließ, wurde eine große Horde kleiner Dustins. Sie bevölkerten die Gratiszeitungen, die Amazon™ Kartons, den reis und, ja, sie bevölkerten auch das Mehl. Er ekelte sich vor den Dustins doch bald schon würde zumindest die Mottenplage vorüber sein. Er räumte einige Stappel des durchweichten Zeitungspapieres (Nanu, woher kommt denn das ganze Wasser her?) zur Seite und legte sich schlafen.
Die Kinder von Fred wollten sich verpuppen und kletterten dazu die Wände hoch. Sie nahmen die beigen Gardinen ein und schenkten ihnen ein lebendes Muster. Doch die Dustincrew war schon zur stelle und war auf Konsum aus. Die Schlacht hatte begonnen.
Es war ein Gemetzel.
Es war ein Gemetzel.
YAY!
Irgendwie war die Situation außer Kontrolle geraten. Die Motten waren weg. Dustin und seine Homies waren noch da.
Er wollte sich am Hinterkopf kratzen, aber er konnte nicht.
Alles klebte.