Elias Hirschl: Was normal ist

eine Produktion von „moïs“ (Katrin Rauch mit Elias Hirschl)

Es ist normal der Sau eins mit dem Holzscheit über den Schädel zu ziehen. Es ist normal die Sau bis ins Wohnzimmer schreien zu hören. Es ist normal die Sau ausbluten zu lassen. Es ist normal die Schweineborsten mit einer Metallkette abzurubbeln. Es ist normal die Schweinehälfte neben der Waschmaschine zu zerlegen. Es ist normal das Schweineblut in einem erwärmten Eimer aufzufangen und tüchtig durchzurühren damit es nicht gerinnt. Es ist normal etwas Salz hinzuzufügen. Es ist normal die Muskelabfälle vom Zuschneiden des Schlegels zusammen mit dem Fett in Wasser vorzukochen, den halbweichen Speck in Würfel zu schneiden und die Fleischabfälle mit der Schwarte und den vorgedämpften Zwiebeln durch den Fleischwolf zu jagen. Es ist normal Gewürze dazuzugeben. Es ist normal zusätzliches Salz hinzuzufügen falls das Blut zu süß schmeckt. Es ist normal die Därme auszuschaben mit einem Spachtel. Es ist normal die dickflüssige Blut-Muskelabfallmasse nach dem Abschmecken in die vorbereiteten Därme zu pressen. Es ist normal die Därme nach dem Abbinden zurück in die heiße Kochbrühe zu tun und sie bei 70 bis 80 Grad eine halbe Stunde ziehen zu lassen. Es ist normal die Därme mit einer Nadel anzustechen um zu sehen ob kein Blut mehr heraustritt. Es ist normal die Därme dann aus dem Wasser zu ziehen und sie zum Abtrocknen über Stangen zu hängen und sie nach Belieben etwas anzuräuchern. Es ist normal die Därme dann einzukühlen um sie in ein paar Tagen der Hochzeitsgesellschaft zu servieren.

Es ist normal sich davor zu fragen, ob man wirklich nicht mit dem Bräutigam verwandt ist. Es ist normal den Bräutigam vor seiner Hochzeit halbnackt in einen fahrbaren Käfig zu sperren. Es ist normal den Bräutigam an einer Holzleiter festzubinden. Es ist normal ihn mit einem Feuerwehrschlauch abzuspritzen. Es ist normal dem Bräutigam mehrere Flaschen Schnaps mit einem Schlauch einzuleiten. Es ist normal die Hose des Bräutigams um Mitternacht zu verbrennen. Es ist normal die Braut zu entführen und ihre Schuhe an einen Baum zu nageln. Es ist normal am nächsten Tag die Blunzn der Familie zu servieren. Es ist normal den Schweinekopf aufzuheben, um ihm bei der nächsten Gelegenheit einem unverheirateten Mann zum 30. Geburtstag in den Vorgarten zu werfen.

Es ist normal nach sechs Monaten Ehe ein Kind zu gebären, was einen sehr wundert, weil man ja bis nach der Eheschließung gewartet hat mit dem ersten Mal. Es ist normal ein Haus zu bauen und sich eine Katze zuzulegen. Es ist normal den ungewollten Katzenwurf in einen Sack zu stecken und in einen Eimer Wasser zu tunken bis keine Luftblasen mehr kochkommen. Es ist normal dem neugeborenen Baby Ohrlöcher stechen zu lassen damit es schon mal welche hat, nur zur Sicherheit. Es ist normal das Kind von klein auf mit ordentlicher Hausmannskost großzuziehen. Mit Blutwurscht, Blunzngröstl, Wiener Schnitzel, Schnitzelsemmel, Tafelspitz, Beuschl, Kaspressknödel, Grammelknödel, Hascheeknödel, Leberknödel, Milzschnitten, Geselchtem, Lammgulasch, Schweinsgulasch, Rindsgulasch, Kartoffelgulasch mit Rindfleischeinlage, Kalbsrahmgulasch, Backhendl, Backhendlsalat, Schlutzkrapfen, Kärntner Kasnudeln, Reindling, Zwiebelrostbraten, Topfenknödel, Germknödel, Tiroler Gröschtl, Hirschgulasch, Wildschweingulasch, Schinkenfleckerl, Krautfleckerl mit Schinken, Bauernschmaus, Brettljausn, Entenbraten, Altwiener Suppentopf mit Rindfleisch, Saumaisen, Mühlviertler Speckknödl im Reindl, Schweinsbraten im Reindl, Kärntner Laxn, Burenwurst, Käsekrainer, ein Hamburger um 1,40, 3,20 im Menü mit Pommes, Saftgulasch, Gulaschsaft, Ei im Glas, Gulaschsaft im Glas, Grammelschmalzbrot, Kaiserschmarrn mit Zwetschgenröster, Wammerl, Rindfleischsalat, Wurschtsalat, Saure Wurscht, Selchroller, Rollmops, Surbraten und Krenfleisch.

Es ist normal vor dem Essen ein Tischgebet zu sprechen. Es ist normal zu sagen: Lieber Gott im Himmel, wir danken dir, dass du uns das Blunzngröstl bescheret hast. Danke lieber Gott für das Beuschl. Danke lieber Gott für den Schlutzkrapfen. Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir, gebenedeit ist deine Brettljause, gebenedeit sind deine Saumaisen, gebenedeit ist dein Gulaschsaft, deine Selchroller, deine saure Wurscht mit rohen Zwiebeln, dein Verdauungsschnaps, dein zweiter Verdauungsschnaps.

Es ist normal sich von den Kindern heimfahren zu lassen weil man zu besoffen ist selber zu fahren. Es ist normal sich in der Weihnachtszeit als Teufel zu verkleiden. Es ist normal fremde Kinder in einen Sack zu stopfen und mit einer Gerte zu verdreschen. Es ist normal, wenn einem mal die Hand ausrutscht. Es ist normal, wenn das Kind ein bisschen abgehärtet wird, ein bisschen aufs echte Leben vorbereitet. Es ist normal dem Kind zu sagen, dass es nicht weinen soll. Es ist normal, ihm für den Kirchtag ein Dirndl anzuziehen, auf dem mit der Position der Schleife ausgeschildert ist, ob es vergeben, single oder Jungfrau ist. Es ist normal, dass der Ehemann nicht mehr ich liebe dich sagt, man sagt ja auch selber nicht mehr ich liebe dich. Es ist normal nicht mehr geliebt zu werden. Es ist normal nicht mehr zu lieben. Es ist normal den Kontakt zu seinen Kindern zu verlieren. Es ist normal keinen Besuch mehr zu bekommen. Es ist normal, dass sich mehrere ehemalige Schulfreunde besoffen mit dem Auto tot fahren. Es ist ja auch normal, dass man selber besoffen fährt, jetzt wo die Kinder weg sind. Es ist normal noch einmal mit den Kindern Silvester feiern zu wollen, Schwarzpulver in Kartonröhren anzuzünden, sie in den Himmel zu schießen und dabei zuzuschauen, wie sie in bunten Farben explodieren.

Es ist normal Biskuits in Fischform zu essen und Sekt mit kleinen Plastikschweinchen darin zu trinken. Es ist normal geschmolzenes Blei vom Löffel ins Wasser fallen zu lassen und aus den entstehenden Formen die Zukunft vorherzusagen. Es ist normal sich Vorsätze fürs neue Jahr zu machen. Es ist normal einen Streit mit den Kindern anzufangen. Es ist normal seine Tochter anzuschreien, dass die Globuli sehr wohl etwas helfen, weil damals haben die ja auch gegen die Erkältung geholfen und die Bachblüten gegen die Prüfungsangst und immerhin hat sie ja jetzt ihren Schulabschluss, also soll sie nicht so undankbar sein. Es ist normal, dass der Ehemann währenddessen mit der Gerti schmust, weil es ist ja schließlich Silvester. Es ist normal, dass der Ehemann in letzter Zeit immer später von der Arbeit kommt. Es ist normal, dass der Ehemann einem vorwirft, dass man selber Schuld daran sei. Es ist normal, dass er sich die Aufmerksamkeit, die Spannung, die Aufregung bei der Gerti sucht, weil die Gerti eben aufmerksamer, spannender und aufregender ist, so wie die Susi damals aufmerksamer, spannender und aufregender war, so wie die Sabine damals aufmerksamer, spannender und aufregender war, so wie man selbst früher aufmerksamer, spannender und aufregender war. (Es ist normal sich Vorsätze fürs neue Jahr zu machen. Einen Strich ziehen, ein neues Jahr, ein neues Ich.)

Es ist normal, am nächsten Morgen früh aufzustehen und den Polterkäfig vom Dachboden zu holen. Es ist normal dem Ehemann eins mit dem Holzscheit über den Schädel zu ziehen. Es ist normal ihn bis ins Wohnzimmer schreien zu hören, während man frühstückt. Es ist normal die Sau ausbluten zu lassen und das Blut in einem vorgewärmten Eimer aufzufangen. Es ist normal, die Sau durch den Fleischwolf zu jagen. Es ist normal, die Sau in die eigenen Därme zu stopfen und eine Stunde ziehen zu lassen. Es ist normal, sich das Dirndl der Tochter anzuziehen und mit der Position der Schleife bekannt zu geben, dass man jetzt wieder single ist. Single and ready to mingle. Es ist normal, den Kopf der Sau in den Vorgarten zu werfen, auf den Rasenmäherroboter und im Liegestuhl sitzend zuzuschauen, wie er herumfährt zwischen dem gestutzten Unkraut, zwischen den Kürbissen und Zucchinis und den Gartenzwergen.

Harald Kappel: Bang Bang

..ein euphorisches Drama

(…eine Frau, ein Stuhl, ein Monolog)

Hier bin ich. Es ist schon ziemlich ungemütlich draußen, anders als wenn der Sommerwind unter den Sternen meine Gedanken wärmt.
Auf diesem Stuhl sitze ich gerne.
Wenn ich die Tür öffne, strömt eine frische Brise an den Gardinen vorbei in meine Küche. Als Kind durfte ich nicht zwischen diesen Gardinen nach draußen sehen, meine Mutter hatte es mir verboten.
Warum? Weiß ich nicht. Sie hat nicht mit mir darüber geredet.
Gegenüber, hinter dem großen erleuchteten Fenster, spielten alte Männer Karten, tranken Bier, und rauchten dicke Zigarren. Und um Mitternacht haben sie seltsame Lieder gesungen und sind auf die Strasse getorkelt.
Sie lachten und schrieen, sie waren frei.
Ich habe das erst später verstanden, vielleicht zu spät.
Aber das ist doch normal, dass man vieles erst zu spät versteht, oder?
Ich habe ein Kind und keinen Mann.
Mein Lebensmotto ist schwer in einen Satz zu packen. Irgendwie glaube ich aber daran, dass alles immer weitergeht. Dass auch hinter der dicksten Wolkendecke Sonnenschein und ein blauer Himmel warten.
Wenn mir langweilig ist, träume ich vom Reisen, vom Meer. Oder ich fahre ans Meer. Darüber lesen ist auch gut.
Ich wohne in einer sehr gemischten Strasse, es gibt wunderbare Häuser, und es gibt Bruchbuden. Mein Haus muss einmal wunderbar gewesen sein, aber jetzt…
Neulich war mir langweilig, das Kind schlief.
Ich habe mich bis auf den Slip ausgezogen, eine Spraydose mit schwarzem Lack genommen und Worte auf die Häuserfassaden gesprayt:
„Bang, Bang, Titte, Bazille.“ Bei „Bazille“ haben sie mich erwischt. Ich musste mit auf die Polizeiwache. Sie haben mich begafft, mir eine Decke um die Schultern gelegt und mich gut behandelt. Sie waren nett zu mir. Das mussten sie wohl sein. Obwohl ich ziemlich gestunken haben muss (das Wasserwerk wollte endlich sein Geld).
Dann sollte ich Fragen beantworten, die ich nicht zur Zufriedenheit der Fragenden beantworten konnte:
Warum haben Sie das gemacht?
Weil mir langweilig war und es mir nicht leisten kann, ans Meer zu fahren.
In ihrem Alter? Und halbnackt?
Gefallen Ihnen meine Titten nicht? Und ist man mit vierunddreißig zu alt zum sprayen? Oder ans Meer zu fahren? Wer sagt das? Hmh?
Weil ich seit vierunddreißig Jahren hier wohne und Mutter bin, haben sie mich wieder gehen lassen.
Das war nett. Ich muss das bezahlen, ich meine, die Reinigung.
Ich möchte mal wissen von was?
Sie fragten mich, ob ich das für normal halte, unbekleidet anderer Leute Häuser zu verschmutzen. Weiß ich nicht, hab ich gesagt. Ist das normal?
Die jungen Polizisten haben sich ganz komisch angeschaut.
Was meinen Sie? Ist Ihnen nie langweilig, oder fahren Sie dann ans Meer?
Ja, nun sagen Sie schon!
Sie…, waren Sie schon am Meer? Sie, ja…
Mein Elend begann mit der Schwangerschaft.
Als ich zweiundzwanzig war hab ich diesen hübschen Kerl getroffen, ehrlichgesagt, ich hab ihn auf seinem Fahrrad über den Haufen gefahren und dann zu Hause ein bisschen gepflegt und von diesen Umständen war ich dann gleich in „anderen Umständen“. Ich musste doch auch mal Erfahrung sammeln. Das ist normal, oder nicht? Irgendwann muss jede Frau das einmal tun.
Vorher war ich für Alle der gute Kumpel. Ein Mädchen, das nachts keine Angst haben musste… nachts durch den dunklen Park zu schlendern.. Niemand hätte mich belästigt, ich war eine Unberührbare.
Aber kaum fasste mich der Erste an, war’s vorbei mit der Freiheit.
Dabei habe ich doch nur etwas Normales machen wollen.
Was Normales…Was Normales…
Ich glaube, mein Elend begann mit der Normalität.
Meine Geduld ist nämlich wie normales Eis, nichts an ihm rührt sich.
Naja, ich wollte aber dann doch, dass mein Kind in einer ordentlichen Familie aufwächst. Mit der Geburt des Kindes war ich von einem Tag auf den anderen zu Hause angebunden. Ich musste so ziemlich alles aufgeben, was ich gerne gemacht habe. Alles! Keine Handpuppenlehrgänge mehr. Kein spätes Schlendern durch den dunklen Leninpark. Nichts!
Ich bin total an dieses Kind, dass ich nicht gewollt hatte, gefesselt.
Ja, aber ich liebe dieses Kind. Alle Mütter lieben ihre Kinder. Das ist normal.
Gottseidank, ist das normal!
Mein langweiliger Ex-Mann war keine große Hilfe. Wenn er nach Hause kam, klebte er auf seinem Sessel fest, bis das Fernsehprogramm Testbilder zeigte, und die fand er wohl auch interessanter als mich und seine Brut.
Halten Sie das für normal? Ich vermute, dass sie das für normal halten.
Schade eigentlich. Warum hält man das für normal?
Was glauben sie wohl?
Aber davon will ich Ihnen ja gar nicht erzählen. Ich wollte Ihnen erzählen, dass ich irgendwie hoffe, dass alles immer weiter geht, dass auch hinter der dicksten Wolkendecke Sonnenschein und ein blauer Himmel warten.
Das möchte ich Ihnen erzählen. Das ist schöner, oder?
Sie möchten etwas Schönes hören, oder?
Etwas schönes Normales!
Sie haben eine Bank in unserer Straße aufgestellt, auf der steht:
„Glück ist eine Bank, die plötzlich da steht.“
„Ich bin eine Bank vom Stadtmöblierungs-Projekt „Bau dir eine Bank“, hergestellt von den Bewohnern mit handwerklichem Geschick und allen die Lust haben, gemeinsam etwas zu bauen.“
Sie glauben an so etwas nicht?
Gehen Sie mal 30 m die Strasse herunter, und schauen sich das an.
Vielleicht setzen Sie sich sogar auf diese Bank.
Vielleicht gefällt es Ihnen sogar, auf dieser Bank zu sitzen.
Vielleicht fällt Ihnen auf dieser Bank etwas zu Ihrer Kindheit ein, oder zu ihrem letzten Urlaub, oder zu sich selbst. Das wäre schön. Das wäre gar nicht mal so normal, nicht wahr?
Ich sitze lieber hier auf meinem Stuhl, und schaue in das Fenster gegenüber.
Dort spielen sie leider keine Karten mehr. Vielleicht sind sie schon alle tot?
Ich lese hier manchmal etwas. Ich lese gerne das Handpuppenmagazin und ich lese Gedichte. Gedichte beruhigen mich.
Überrascht Sie das? Habe ich sie damit überrascht?
Ist das normal, dass sie das überrascht?
Sie, habe ich Sie damit überrascht?
Sehen Sie mich etwa als eine Frau, der man nicht zutraut, dass sie Gedichte liest?
Junge Mami liest Gedichte. Lächerlich. Und wann kocht sie?
Ich bin eine sogenannte Alleinerziehende. Ich koche, wann ich will.
Tag und Nacht.
Ich habe von Tag und Nacht gelesen.
Dass der Tag zu Ende geht.
Dass er seine Schuldigkeit getan hat.

nun geht der Tag zu Ende
hat seine Schuldigkeit getan
schweigt meiner Seelen Hände
mit Silberflügeln recht geschwind
vorm Fenster friert
der nackte Baum noch immer
und schwarzer Schnee
taut auf den Blüten
in dunklen Nachtgedanken
träum ich süß
von welken Wolken
blass und taub
der Regen trommelt
und packt
die Sehnsucht wieder ein
bin nur ein Glas voll Glück
wie Milch gemolken
bin Deiner Wärme Raub
ich horch dem Schlag der Stunden
wart auf des Morgens Ton
hör Deine Stimme rufen
Gedanken lachen schon
im hellen Bach
im grünen Schnee
und wachte auf
im Traum nur fad
von Licht umflossen
und niemand sagt
ich hab ein neues Kleid
im Bilderbuch gefunden
und niemand singt
von diesen offnen Stunden
wenn man
frei auf Bänken liegen kann
und hübsch
der Mond herunterlacht
dann schläft die Wolke
hinterm Haus
und welkt nicht mehr
nun geht die Nacht zu Ende
hat ihre Schuldigkeit getan

Verdammt, ich zieh mich aus und koche, wann ich will!!
Vielleicht fange ich aber jetzt damit an, davon zu reden, was passieren könnte.
Zum Beispiel könnte ich jetzt meine Spraydose nehmen, und irgend jemandem, Ihnen zum Beispiel!, ein Wort auf den Arm sprayen. Bang, oder Fuck!
Oder Anna. Ich heiße Anna, damit sie auch wissen, mit wem sie es zu tun haben. Wer ihnen so komische Geschichten erzählt. Sie könnten sagen, die ist doch nicht normal. Die ist vielleicht sogar verrückt.
Die Hundefänger müssten sie abholen, die sitzt hier rum, und sprayt anderen Leuten auf den Arm. Aber das tue ich ja gar nicht.
Ich stelle mir eher vor, es könnte mich jetzt jemand ansehen. Meine Titten .
Und mich dann mitnehmen.
Wohin wäre ganz egal, er müsste nur nett sein.
Vielleicht würde er ja sogar mit mir ans Meer fahren, wir könnten dort Wolken beobachten und überlegen, welchen Tieren sie ähneln, oder welchen Menschen.
Wenn wir das tun, dann könnte ich ihn sogar gerne haben, und er vielleicht mich.
Das wäre so schön, und ich würde glauben, dass auch hinter der dicksten Wolkendecke Sonnenschein und ein blauer Himmel auf mich warten.
Vielleicht möchte mich jemand von Ihnen mitnehmen?
Sie vielleicht? Gefalle ich Ihnen? Soll ich mich für Sie ausziehen? Wollen Sie mein Fleisch sehen? Das würde ich gerne tun…
Gefällt Ihnen mein Kleid? Meine Nase? Mein Stuhl?
Ich könnte Ihnen vorlesen, aus dem Handpuppenmagazin, oder lieber ein Gedicht?
Sind Sie romantisch, lieben Sie die Wolken, auch wenn aus ihnen Regen fällt?
Ich bin eine liebenswerte Person, ich liebe mich selbst. Das gelingt nicht jedem. Ich habe mir das verdient, dass ich mich selbst lieben kann.
Und ich koche wann ich will!
Seit dem Handpuppenlehrgang, habe ich keine Handpuppe selbst gemacht. Aber ich schaue mir immer gerne an, wie andere es tun.
Ich schaue mir immer gerne an, wie normal andere sind.
Ich möchte ein Ottonormalverbraucher sein.
Dann nimmt mich vielleicht jemand mit. Ans Meer.
Ich ziehe ein hübsches Kleid an und frisiere mir die Haare.
Ich liege mit den anderen Ottonormalverbrauchern am Strand.
Ich trinke gelbe Limonade und lache.
Ich gehöre dazu. Das würde mir gefallen. Vielleicht.
Vielleicht nehme ich aber auch meine Spraydose, und schreibe auf Ihr Haus: Feigling oder Bang.
Was würde Ihnen besser gefallen?
Noch haben Sie die freie Auswahl.
Ach vergessen Sie es, das war ein Witz.
Ein ganz normaler Witz.
Habe ich Sie erschreckt, nein, das wollte ich nicht.
Sie sollten sich nicht an Angst gewöhnen.
Die Menschen haben im Grunde nichts dagegen, betrogen zu werden.
Sie haben nur etwas dagegen, dass man sie es merken lässt.
Ich lasse sie nichts merken, denn das Unglück meiner Nachbarn macht mich traurig.
Und ihre Normalität macht mich traurig.
Ihr ständiges Bemühen.
Die Verlockung des Glücks.
Ich schlafe manchmal auf der falschen Bank.
Der kalte Regen fällt auf mein Haar.
Aber in mir ist immer blauer Himmel.
Ich trage die Erde, die Freude, und die Sonne an meiner Seite.
Ich bleibe anders.
Ich bin ein buntes Nebenleben.
Ich bin mein eigenes Wunschkind.
Bin in mir selbst hell ausgegossen.
Ich atme still den Wind, und lasse fallen was fällt.
Den Regen, die Tränen, die Träume
und mich….

Andii Weber: Mondgesicht

  PUNKT

Er weiß es noch nicht, aber seine Haut hat sich bereits von seinem Körper gelöst und wartet darauf, abgestreift zu werden, damit er endlich wachsen kann, Kreise im Sand ziehen und die Sonne verschlingen. Ein Haarriss im Glas, das Spiegelbild verdoppelt sich, dann ein Sprung, befreit, bereit. Endlich die Logik, die Formel, die Kurven, das alles verstanden. Er streckt seine Arme und Beine aus, schmatzt, und macht sich auf, in die Nacht.

Neulich sah ich eine Meme, das die sich über die Jahre verändernden Designs des Toys-R-Us-Giraffen-Maskottchens „Geoffrey“ zeigt. Alle Darstellungen des Maskottchens waren im klassischen Comicstil gehalten. – Nur unter “2001” wird Geoffrey durch ein gefiltertes Foto einer echten Giraffe dargestellt. 

Das meme behauptet nun in der Unterschrift, es sei unmöglich, Toys-R-Us’ Geschichte zu erzählen, ohne zu erwähnen, dass Geoffrey durch 9/11  für einen kurzen Moment die Unschuld verlor; Einen kurzen Moment gerissen aus der Comicwelt, aus den Versprechungen des ausgehenden Milleniums – ein Glitch in der Matrix, un-heimlicher Realismus. 

Seit der Mitte der Nullerjahre wird Geoffrey wieder zur klassischen Illustration, diesmal allerdings ohne die dicken, schwarzen Outlines, die Geoffrey bis 2001 zusammengehalten hatten. Weg sind die Linien, die Kurven, der Halt. Ein Blick in den Abgrund, wenn man so will. Zeitgenmäße, chice Farbflächen formen jetzt das erbarmungslose Giraffengrinsen.

mit 13 Jahren hatte ich einen eigenartigen existentialistischen Ekel, ausgelöst durch gedruckte, fröhliche Comicfiguren, zum Beispiel auf Lebensmittelverpackungen; Ich kam irgendwie nicht klar mit diesem Lachen, für immer gefroren auf dem Plastik, erbarmungslos den Kontext ignorierend, vollkommen sinnentleerten Frohsinn senden müssend, im Endeffekt nur, um Kinder zum Quengeln zu animieren – oder gar zum Weinen? 

Dieses fassadenhafte Lachen bedeutet für mich vor allem eins: Grausamkeit. Ein fröhlicher Clown in der Lunge einer Schildkröte, ein anthropomorpher Tigerkumpel in einem Autowrack, aus dem verflüssigte Menschen heraustropfen, ein hüpfender Elefant in Turnschuhen und Baseballcap vergilbt von der UV-Strahlung (viel zu hoch allerweil) während es schon lange keine Rüsseltiere mehr gibt. Wie soll man das als Kind ertragen, geschweige denn als Erwachsene:r?

PUNKT

Das mit der Euphorie ist eigentlich recht einfach erklärt. stell dir zwei sinusfunktionen vor: f1(x)=sin(x+ϕ) und f2(x)=sin(x). “ϕ” bezeichnet hier jeweils die verschiebung der ersten kurve auf der x achse. Diese zwei Kurven in deiner Brust schwingen hin und her. Ihre Addition steht für Deine innere Verfasstheit. Je nach der verschiebung ϕ ergeben sich kleinere oder größere amplituden der ewigen auf und abbewegung der beiden rastlosen kurven.

Wenn du aber eine der beiden funktionen exakt um die Kreiszahl π verschiebst, dein ϕ ein π ist, dann heben die beiden Sinuskurven sich in der Addition gegenseitig auf, es kehrt plötzlich eine ungewohnte stille in die kurve ein: frieden, ausgeglichenheit, tröstende ruhe, euphorie obwohl ja deine beiden brustkurven immernoch schwingen, sind die Amplitude und die Frequenz der addierten Kurven in diesem moment 0,.. so einfach ist das. Harmonie. π. Zen.

So, jetzt musst du nur noch herausfinden, wie man das ϕ einstellt und ewiger Euphorie steht nichts im wege.

Einmal zog Archimedes Kreise in den Sand, und dabei nicht gestört zu werden, war ihm wichtiger als sein Leben. 

Er war im Flow der Kreise aufgegangen und nichts war schlimmer, als da herausgerissen zu werden.

KOMMA

Wie sehr hatte ich bis zum Moment π doch das Tanzen gehasst: erbärmliches Gebalze, den Arsch stundenlang hin- und herbewegen, sinnloses oszillieren zwischen zwei Punkten .. Und überhaupt: Wohin mit den Armen und Beinen, dem Hals, diesen lächerlichen Extremitäten?

Und jetzt gibt es nichts, bei dem ich meine Linien besser und gleichmäßiger in den Sand gezogen bekomme: Ich schwinge zwischen 1 und -1, meine Arme und Beine wissen endlich, wohin mit ihnen, sie haben sprechen gelernt. Ich schlängel mich durch die dampfende Masse blicke kreuzen sich, meine Lippen zucken zu einem triumphalen Lächeln. Schweiss, Wellenamplituden in der Luft; das Glühen drückt die Soße aus meinen Poren. 

Und für einen Moment ist die Ghibli-Unordnung in meinem Kopf sauber verräumt, in Kisten verpackt, kondo-style. sparkt hapπness. im flow sein, senden und empfangen ohne linguistisches Rauschen. 

Einmal rannte Archimedes nackt durch die Stadt und rief immer wieder “Eureka! EUREKA, Eureka!” 
Er war für einen kurzen Moment im Reinen mit sich, befriedigt, stolz, schamlos.

Ein Echsenmensch mit linsenförmigen, scharfzüngigen Pupillen streift durch die Nacht. Es klickert auf einer geraden Linie unter dem warmen Licht der Laternen entlang, allerweil heiß. Zwei Jugendliche auf BMX-Rädern fahren vorbei, blicken sich um, um den göttlichen Affront zu sehen, ihn glauben zu können, doch sie können nicht, noch nicht, sie haben noch nicht vom Baum gekostet. Allerweil so verdammt heissssssssssss.

Es biegt ab und wippt beim Gehen leicht, es verändert seine Gestalt, bald Marder, bald Katze, bald Schlange. Die Schuhe klackern schmatzend auf dem Gehsteig; die Augen glühen warm-grün, wie auch sonst. Das Echse hat kein Ziel, es will nur ein bisschen den Wind spüren, auf der Kleidung, auf der Haut, den Schuppen, im Schutz des Mondes. Selbstbewusst, endlich frei, so heiß, das Blut, heißer als erlaubt. die ganze Welt klackert und schmatzt mit dem Echse in diebischer Verzückung durch die Nacht.

Die Antwort kommt von oben: Du wirst immer mein geliebter Sohn bleiben ….  Sohnemann!

… Ist der wert π dann überschritten – und das geht sehr schnell –  dauert es wieder eine ganze wellenlänge lang, bis dieser kurze moment der ruhe einkehrt, dazwischen sind unendlich viele punkte chaos, Ungereimtheit und Hässlichkeit zu überwinden. 

STRICH

Ein glänzendes Auto (oder, im richtigen Licht … ein Schiff ?) bremst neben der Echse ab, schnuppert und ruft ihr etwas zu. Es hat die Witterung aufgenommen. Ob die Echse denn mit wolle, vielleicht Shisha oder Disko, in die Dunkelheit, in die Kälte, nicht auszudenken, wohin sonst noch. Die Echse blockt ab, so gut sie kann, doch das Autoschiff bleibt weder stehen noch fährt es weiter, es ruckelt neben der Echse her und will. 

Kalt, so verdammt kalt. Das Blut gefriert in den Adern, sie kann sich kaum noch bewegen, sie verwandelt sich in eine Nacktschnecke, dann einen Schwanzlurch. 

Verdammt, Echsen sind doch Kaltblüter, der Mond soll gehen, die Sonne soll wiederkommen, die Nacht muss weg da, aus dem Weg. Mach, dass es wieder heiß wird! 

Zur Not, denkt sich die Echse, muss ich meinen Schwanz abwerfen, als Schutzmechanismus, als Ausweg. würde das Auto sich dann nicht mehr aufbäumen und seine öligen, gummibereiften Arme und Beine nach mir ausstrecken? 

Endlich! Das Auto gibt auf und fährt weiter, die Echse ist frei. und die Echse verkriecht sich armlos und beinlos unter ihrer Infrarotlampe. morgen soll es wieder heiß werden.

Ach Übrigens, Mutter, ich wollte dir noch sagen, dass …

Einmal benutzte Archimedes die vernichtende Kraft von Spiegeln und der Sonne, um Schiffe anzuzünden. 

Er hatte einen durchschlagenden Erfolg: Seine Erfindungen waren gut darin, seine Feinde zum Quengeln und Weinen zu bringen.

Der liebe, böse Gott hatte der Schlange die Arme und Beine abgerissen, Begründung: (könnt ihr euch das vorstellen?) Weil halt! (typisch!) Vorher war die Schlange eine ganz normale Echse, doch leider wachsen Echsen nur Schwänze nach, nicht Arme und Beine. Jetzt also Schlange. Aber woher weiss man schon, als was man am nächsten Morgen aufwacht?

Die große Schlange verschlingt jeden Abend die Sonne und scheißt sie am Morgen wieder aus, und trotzdem kommt am Morgen die Freude und am Abend der Ekel. Die Wellenlänge ist 24 Stunden und die Kurve lässt sich bis ins Unendliche genau vorhersagen. immer auf der Kippe zwischen richtig und falsch – zwischen synchron und aus dem Takt, zwischen Sinus und Cosinus.  

Da steht ein ϕ am Sπegel und schaut hinein. Der Sπegel schaut zurück. Drecks-ϕ.

1 Megacringe, das visceral und spürbar die Innereien zusammenzieht. Abneigung des Innen gegenüber dem Außen, Body und Mind haben ein Problem, Datamosh in der Matrix. In zwei Sprachen mit sich sprechen, aber nur eine verstehen. Kein Feedback, disconnect.

Eine Out-of-Body-Experience, als wäre man verschleimt und verkrustet aus dem Nasenloch einer Kuh gepustet worden. Nur eine stoppelige Fliege. 

Der Bart wächst nach, der Weißpunkt verschiebt sich ins kalte – um das Maul, die pleurodonten Zähne, den Kehlsack herunter. Die Konturen verlaufen, hubbeln und beulen sich aus, schuppen, verwischen, die vorsichtig aufgemalte Balance verflüssigt sich, Zitronengesicht, Essigauge, eine Schlangenlinie, eine Kurve,  ein Haar, ein Riss, Schlag, Blitz, Spiegel, Schiffe, FEURIO! Wir wurden von der Sonne angesteckt! Rette sich, wer kann, such deinen Schwanz, um ihn abwerfen zu können! 

Und wo ist der Mond? Du musst noch eine halbe Wellenlänge auf ihn warten, dann wird auch dieser Spiegel wieder ein klitzekleines bisschen kaltes Sonnenlicht auf dich werfen. In der Dämmerung wird ϕ wieder π und wir fangen nochmal von vorne an.

Verzweifelt man selbst sein wollen, verzweifelt nicht man selbst sein wollen, verzweifelt sich nicht bewusst zu sein, ein Selbst zu haben. Die Verzweiflung der Unendlichkeit, die Verzweiflung der Endlichkeit, die Verzweiflung der Möglichkeit sowie die Verzweiflung der Notwendigkeit. Verzweiflung als Default, nur Glaube als Ausweg (natürlich!)

„Das Absurde ist die Verzweiflung ohne Gott.“ Kierkegaard hatte wohl auch ein bisschen Ängst, wie wir alle mit 13 Jahren, oder? 

oder? 

Das geht vorbei. 

Its just a phase, right?

FERTIG IST DAS MONDGESICHT

..,-

Christian Knieps: Der Mann mit der Lampe

Ein-Mann-Eine-Szene-Ein-Kurzstück.

Personen

Der Mann mit der Lampe.
Der Anrufer (nur als Stimme).

Set

Neben einem Lesesessel steht eine Lampe. Eine mit einem großen Stoff-Schirm, wie sie in den Siebzigern modern waren. Nicht zu bunt, aber auch nicht zu altbacken. Der Lampenständer sollte aus einem glänzenden Material sein, z.B. Messing. Auf der anderen Seite des Lesesessels steht ein Beistelltischchen, auf dem mehrere Bücher und ein Handy liegen.

Szene

Ein Mann sitzt in dem Lesesessel und liest ein Buch. Er ist auf einer der letzten Seiten. Neben ihm brennt die Lampe und bietet genügend Licht, um gut lesen zu können. Der Mann blättert eine Seite nach der anderen um, liest. Zwischendurch lächelt er an einer Stelle, dann wieder legt er seine Stirn in Runzeln. Am Ende des Textes hält er kurz ein und starrt auf die letzte Seite, dann klappt er das Buch zu, fährt mit der flachen Hand über das Cover, nimmt es hoch, schaut wie gebannt auf den Umschlag und küsst das Buch sanft und innig. Dann schließt er die Augen, führt das Buch an seine Brust, hält es wie eine überaus wichtige Sache fest umschlungen.
Mann indem er mit geschlossenen Augen spricht; ruhig:
Wie schön wäre es nur, solch ein erfülltes Leben zu führen! Unfassbar! Einfach unfassbar! Diese Liebe! Diese tiefempfundene Liebe! Dieses Vertrauen! Dieses unendliche Vertrauen! Warum kann es eine solche Liebe, ein solches Vertrauen, ein solches Leben nicht in Wirklichkeit geben? Warum müssen wir uns damit abfinden, dass es niemals so sein wird wie im Roman? Warum kann die Welt nicht so sein, dass wir uns gegenseitig respektieren, lieben, verstehen, achten…
Das Handy klingelt; der Mann ist im ersten Moment erschrocken, legt dann aber das Buch auf seinen Schoß, nimmt das Handy, drückt eine Taste und hält es an sein Ohr.
Mann indem er recht unsicher spricht:
Hallo?!
Anrufer dessen Stimme aus dem Hintergrund gut zu hören ist:
Nun ja! Ähm! Hallo!?
Mann verwirrt:
Hallo?!
Anrufer seinerseits verwirrt:
Ja! Ähm! Hallo?! Ist da wer? Der Mann zögert kurz, dann schaut er auf sein Handydisplay. Habe ich irgendwen in der Leitung? Hallo?!
Der Mann im Lesesessel legt auf und sein Handy auf den Beistelltisch.
Mann:
War wohl ein Verwirrter! Oder einer, der sich verwählt hat! Mich ruft doch sonst keiner an! Schüttelt den Kopf und findet das Buch auf seinem Schoß, nimmt es auf und betrachtet das Cover, als das Handy erneut klingelt. Was soll das?! Indem er sein Handy aufnimmt und erneut auf die Annahme-Taste drückt. Was wollen Sie?
Anrufer:
Nun ja! Eigentlich mit Ihnen sprechen, aber…
Mann:
Aber was?
Anrufer:
Sie scheinen nicht in der Stimmung zu sein, um mit mir zu sprechen.
Mann:
Das hat nichts mit meiner Stimmung zu tun!
Anrufer:
Nicht? Womit dann? Es kommt keine Antwort. Ich kann Ihnen helfen, wenn Sie…
Mann:
Wer zum Geier sind Sie eigentlich?
Anrufer:
Habe ich mich nicht vorgestellt? Ach du meine Güte! Klar, dass Sie sich nicht wohl fühlen, wenn ich… Aber ja, klar, ich kann mich Ihnen vorstellen. Also, nun ja, ich bin… na ja, ich denke, Sie würden Gott zu mir sagen! Der Mann zögert und ist wie versteinert. Hallo?! Noch in der Leitung? Ein wenig schreiend. Hallo?!
Anstatt zu antworten, nimmt der Mann das Handy vom Ohr und legt auf.
Mann sein Handy weglegend:
Was für ein Spinner! Erst will er mir nicht verraten, wer er ist und dann das! Ich… Das Handy klingelt erneut. Nicht schon wieder! Soll es doch klingeln. Das Handy klingelt mehrfach, doch der Mann reagiert nicht. Er sitzt im Lesesessel und starrt vor sich hin; ist beinahe regungslos. Das Handy klingelt immer weiter, sodass er irgendwann nervös wird, aggressiv sein Telefon ergreift und auf die Annahmetaste drückt. Was?!
Anrufer:
Auch wenn Sie aufgelegt und mich einen Spinner genannt haben, möchte ich dennoch mit Ihnen…
Mann:
Woher wissen Sie, dass ich Sie einen Spinner genannt habe?
Anrufer:
Vielleicht, weil ich Gott bin und alles weiß! Ich weiß auch, dass Sie immer noch nicht daran glauben, dass ich Gott bin!
Mann:
Wie sollte ich auch! Immerhin…
Anrufer:
Immerhin muss man an mich glauben, was vielen nicht mehr so leicht fällt, nicht wahr?
Mann:
Irgendwie so was! Ich kann mir aber immer noch nicht vorstellen, dass Sie Gott sein sollen! Ich meine, warum rufen Sie mich an? Warum schlüpfen Sie nicht in irgendeinen Körper, kommen vorbei und reden mit mir? Oder zünden sich an und kommen als brennender Dornenbusch…
Anrufer:
Sie meinen, ich soll mich so verhalten wie in den Geschichten der Menschen, an die so viele glauben? Würde Ihnen das vielleicht helfen?
Mann mit einem Mal unsicher wirkend:
Nun ja, ich denke schon.
Anrufer:
Schauen Sie zu ihrer Lampe! Indem der Mann tatsächlich seinen Kopf zur Lampe dreht, geht diese aus und wieder an. Nun, sind Sie jetzt überzeugt.
Mann:
Nicht wirklich. Ich meine, das kann auch ein billiger Trick sein, den Sie irgendwie über den Strom steuern und irgendwie so…
Anrufer:
Glauben Sie das wirklich? Sie wollen mir also sagen, dass Sie eher daran glauben, dass ich die Stromverbindung an einer Ihrer Steckdosen manipulieren kann, als dass Sie daran glauben, dass ich das bin, was Sie Gott nennen?
Mann:
Ist das eine rhetorische Frage?
Anrufer:
Glauben Sie? Beide schweigen für einen Moment. Ich könnte auch den Lampenschirm wackeln lassen. Der Lampenschirm wackelt. Oder das Licht flackern lassen. Das Licht flackert. Oder wenn Sie es verlangen, kann ich sogar die Lampe etwas singen lassen. Die Lampe bewegt sich, das Licht verändert sich und aus dem Hintergrund ertönt »I’ve Got You Under My Skin« von Frank Sinatra. Der Mann betrachtet das ganze staunend. Als die Musik endet. Glauben Sie mir jetzt?
Mann:
Ich soll Ihnen glauben, dass Sie der Gott in der Lampe sind?
Anrufer:
Von mir aus auch das! Nennen Sie mich den Gott in der Lampe! Wenn Sie damit an mich glauben!
Mann stotternd, unsicher:
Ich… Ich weiß nicht… Was wollen Sie? … Ich meine, was… Was ist der Grund… Ihres Anrufes? Ich bin doch nur ein kleines Licht! Selbst… Selbst der Schein… Der Schein dieser Lampe ist größer als mein Licht!
Anrufer:
Ich habe Sie eben beim Lesen Ihres Buches beobachtet und dachte mir, dass Sie wahrscheinlich der Richtige sind!
Mann:
Der Richtige wofür?
Anrufer:
Um wieder Liebe, Wärme, Vertrauen, Respekt und all das unter die Menschen zu bringen! Langes Schweigen. Hallo?! Sind Sie noch in der Leitung.
Mann kaum ein Wort hervorbringend:
Ja! Ich… Aber…
Anrufer:
Ich kann verstehen, dass das jetzt alles etwas zu viel für den Moment ist. Auch die anderen Propheten haben…
Mann fassungslos:
Sie wollen aus mir einen Propheten machen? Ich soll…
Anrufer:
Keine Angst. Das passiert nicht von heute auf morgen. Wir bauen das langsam auf, beginnen mit einfachen Aufgaben, ehe Sie…
Mann plötzlich aggressiv, aufstehend:
Was wollen Sie eigentlich? Wer sind Sie? Sie sind nicht Gott! Sondern irgendwer von irgendeiner Sekte, die Kontrolle über mein Stromnetz und meine Lampe… dreht sich zur Lampe Und lassen Sie meine Lampe in Ruhe! Schmeißt sein Handy auf den Lesestuhl, fasst die Lampe am Schirm, schüttelt diese. Raus aus meiner Lampe! Raus aus meinem Haus! Raus aus meiner Steckdose! So laut wie nur möglich brüllend. Einfach raus hier!
Anrufer:
Ist ja schon gut! Ich wollte doch nur…
Mann schreiend:
Raus! Sofort!
Anrufer:
Da will man den Menschen was Gutes tun und Sie zur Liebe unter den Menschen zurückführen – und was bekommt man? Unfassbar diese…
Mann schreiend:
Raus! Verlassen Sie sofort mein Haus! Sucht das Handy, stürzt sich fast auf den Lesesessel und legt auf. Ist das denn zu fassen? Was es da draußen für Irre geben muss. Hält sich die Hand vor den Mund. Ich muss aufpassen, denn nicht nur das Stromnetz scheint manipuliert worden zu sein. Auch muss es hier überall Wanzen geben. Untersucht zunächst den Tisch, dann den Lesesessel, ehe er zu der Lampe übergeht, unter dessen Schirm er sogar seinen Kopf steckt. Wo sich diese Wanzen nur verstecken? Erneut flackert das Licht und der Mann zuckt aus dem Schirm zurück. Schreiend. Das ist nicht witzig! Das ist gar nicht witzig! Aufhören! Sofort aufhören! Geht zum Schalter und schaltet die Lampe aus, doch gleich darauf schaltet sich die Lampe wieder ein. Der Mann schaltet sie noch mehrfach aus, doch jedes Mal geht die Lampe wieder an. Na warte, dir werde ich es zeigen! Indem er den Stecker zieht und beginnen will, die Glühbirne aus der Lampe zu drehen, geht die Lampe erneut an. Wundernd. Wie ist das nur möglich?
Anrufer aus dem Hintergrund; mit wohlwollender Stimme:
Ganz einfach! Weil ich dein Gott bin und nicht nur in deiner Lampe wohne! Willst du jetzt an mich glauben?
Mann für einen Moment geschockt, dann sieht er sich wie ein gehetztes Tier nach allen Seiten um und rennt aus dem Raum; dabei:
Hilfe! Hilfe! Irgendwer verfolgt mich! Hilfe!
Ab.
Anrufer aus dem Hintergrund; aufseufzend:
Noch vor wenigen Jahren wären die Menschen in Ehrfurcht erstarrt, wenn ich das mit der Lampe gemacht hätte! Wie viele haben sich vor den Ständer gekniet und den Lampenschirm als ihren Gott angebetet? Und heute? Selbst das größte Wunder bedeutet für die Menschen kaum mehr als dass sie dahinter einen Trick vermuten! Leiser, fast schon resignierend. Schöne neue Welt, in der das Wunder der Lampe kaum mehr ist als ein Trick! Leiser. Fade out. Nicht mal in einer Lampe ist Platz für mich. Ganz leise. Schöne, neue Welt, in der ich keinen Platz mehr im Leben der Menschen finde.
Alle ab.

Michael Schmidt: Wuiser und das Wandern

– Wo wird denn der Professor Wuiser sein?

– Warum?

– Weil er nicht da ist.

– Mei, wird er halt wahrscheinlich wo hingegangen sein.

– Ja, bestimmt. Bestimmt ist er irgendwo hingegangen. Weil daheim ist er nicht. Aber wundern tut mich das auch nicht, zumindest nicht direkt, dass er wahrscheinlich wo hingegangen ist. Der Herr Wuiser ist ja so gut wie andauernd unterwegs. Gut, wär ich auch an seiner Stelle. Ich meine, wenn ich in seiner Zwölfquadratmeterwohnung da droben hausen müsst. Da würd ich auch andauernd woanders hingehen. Aber der Professor Wuiser ist ja gerade auch darum andauernd unterwegs, weil er das im Blut hat. Der stammt ja aus einer Familie von Wanderern. Was sag ich, aus einer ganzen Dynastie! Aus einer uralten! Weil was viele gar nicht wissen, ist, dass ein Urururahne vom Professor Wuiser sogar die Völkerwanderung ausgelöst hat.

– Was Sie nicht sagen!

– Ja, wenn ich’s Ihnen doch sage! Die Völkerwanderung! Die war eigentlich als Tagesausflug geplant. Ist dann aber irgendwie eskaliert. So was ist ja in der heutigen Zeit gar nicht mehr vorstellbar. Heute schnaufen sie schon, wenn sie nicht Schlag Mittag auf einer Berghütte sind. Zum Einkehren. Die immer mit ihrem Einkehren! Und wenn sie Pech haben, setzen sie ihnen ein paar ranzige Pommfritz vor oder einen alten Leberkäs oder einen Fingerhut voll Kaffee und ganz am Ende dann eine Rechnung von 80 Euro. Aber wer hätt sich das während der Völkerwanderung schon leisten können. Die haben ja selber nichts gehabt! Was haben die denn früher generell gehabt! Nichts! Und darum, hat der Professor Wuiser gesagt, geht er grundsätzlich nie auf eine Berghütte rauf. Ja, nicht mal auf einen Berg! Sondern immer ganz weit außen rum. Oder wenn es einen Nebel gibt. Wie letztes Mal. Wie der Herr Wuiser den gesehen hat, ist er auch ganz einfach um den herum gegangen. Weil es angeblich die Berge und die Nebel gewesen sind, sagt er, die seinen Urahn mit der ganzen Völkerwanderungs-Combo so in die Irre geführt haben. Aber am Ende, ganz am Ende, sind sie halt doch bei Rom drunten ausgekommen. Zum Glück! Weil sonst wär am Ende – und da mein ich jetzt tatsächlich ganz, ganz am Ende – sonst wär da noch irgendwas passiert, bei dieser Völkerwanderung da. Sonst hätte das noch was werden können, gell.

Elisabeth R. Hager: HARAKEKE

Te harakeke
Te korari
Nga taonga whakarere iho
O te rangi
O te whenua
O nga tupuna
Homai he oranga mo matou
Tihei mauri ora1

Das dunkle Deckhaar der Ärztin wippt strähnig vor und zurück, während sie dem Paar, das hinter ihr aus dem Behandlungszimmer tritt, zum Abschied zunickt. Im Hintergrund dudelt ein Weihnachtslied, dabei ist heute schon der zweite Januar. Das Paar – er Surfbuddy mit Basecap, sie strahlende Yoga-Augen, winziger Bauch – winkt uns im Vorbeigehen zu. Die Ärztin bleibt einen Moment von uns abgewandt stehen. Ich spüre, wie fertig sie ist. Dann dreht sie sich her.

„Hello, Tommy Tuwhare and Rosmarie?“

„Schweiger.“

Ihr von Zähnen gerahmtes Lächeln macht kurz Pause, dann setzt sie umso freundlicher an: „Happy new year to the three of you.“

„Happy new year to you too,“ sagt Tommy.

„Please follow me“, sagt die Ärztin und tritt vor uns ins Behandlungszimmer.

Beim Blick auf ihren fettigen Haaransatz bekomme ich Gänsehaut. Wahrscheinlich liegt es an der aufgedrehten Klimaanlage. Ich greife nach Tommys Hand. 

<> 

Wir stehen im Halbkreis um den Flachsbusch herum, zwei junge Französinnen, Kristin, ich und in der Mitte Heather, unsere Lehrerin. Die Nachmittagssonne knallt  herunter und überzieht das Gestrüpp vor uns mit einem mattweißen Film. Wir sind hier, um die Grundtechniken des Harakeke² zu lernen, des traditionellen Flechtens der Maori. Es war Kristins Idee, aber ich bin nicht komplett dagegen. Besser als daheim in der Badewanne sinnlos vor mich hinzuschrumpeln.

Die Flachsblätter ragen als biegsame Lanzen in die Höhe. Manche sind geknickt wie Strohhalme. Ich schaue zu Heather hinüber. Alles an ihr wirkt dunkel, großporig, fleischig. Ihre Beine in den Shorts, die Schultern im grellgelben Tank Top, die knollige Nase. Der Pounamu³ um ihren Hals ist groß wie ein Faustkeil. Heathers Locken bauschen sich unter einem geflochtenen Haarband. Ihre Finger sind flink wie Tentakeln. Sie wandern die Blätter entlang, scheinen Längen zu messen, Breiten zu erfühlen. Heather nickt, dann bückt sie sich, setzt andeutungsweise die Klinge ihres sichelförmigen Sägemessers an und nimmt mit jeder von uns Blickkontakt auf.

„To harvest Harakeke you need strong arms.“

Keine von uns hat Arme wie Heather, aber es wird schon irgendwie gehen.

„And something else: Are any one of you ladies having your moon-days?“

Die Französinnen werfen einander entrüstete Blicke zu. Kristin schüttelt den Kopf. Ich mach es ihr rasch nach.

„It’s just: Girls who are having their period are not allowed to cut Harakeke. It’s tapu4.“

Die Augen der Französinnen weiten sich. Heather wirft ihnen einen ernsten Blick zu.

„So you two girls don’t bleed either, ey?“

Sie winden sich noch ein bisschen, schütteln dann aber auch ihre Köpfe.

„Okay then, let’s get started. Just watch my movements, then take the knife and copy me. But before we start, I want everybody to silently thank the plant“, sagt Heather.

Sie murmelt ein paar Sätze auf Tereo5. Dann beginnt sie zu sägen.

<> 

„There’s nothing in here about former scans for baby?“ sagt die Ärztin und schaut mit hochgezogenen Brauen vom Mutterschaftsheft auf, erst zu Tommy, dann zu mir.

„Rosi is from Austria“, springt Tommy mir bei. „She’s been here for just a few months and didn’t get medical treatment on her tourist visa. We got clearance on the 23rd, so we made the appointment for today.“

„I see“ sagt die Ärztin. „A little Christmas present from our New Zealand government“, und fletscht wieder die Zähne.

„How do you feel, Rosi? Your’e at thirteen weeks I guess?“

„Fourteen weeks. I feel good. Just tired, but the sickness is gone.“

Die Ärztin sagt etwas, das ich nicht verstehe, und deutet mir, mich hinzulegen. Sie zieht mein Kleid hoch und schmiert kaltes Gel auf meinen Bauch. Dann klappt sie einen Screen in meine Richtung.

„You guys must be really excited to see baby for the first time.“

Wir nicken. Die Ärztin lächelt. Dann fährt sie mit einem grauen Joystick über meinen Bauch. Tommys Hand ist vor Aufregung feucht. Er lächelt mir zu, dann sehe ich sein schönes, ernstes, auf den Bildschirm gerichtetes Profil, konzentriert wie bei einer Sportübertragung.

„Your baby must be hiding very well“, sagt die Ärztin, während sie auf meinem Bauch Pirouetten dreht. Plötzlich bekommen ihre Bewegungen eine Unwucht. Sie nimmt das Gerät von der Haut, setzt es wieder an. Macht ein paar Fahrer, hört wieder auf. Kommentarlos klappt sie den Bildschirm von mir weg und zieht nun ganz langsam und mit zusammengepressten Lippen Kreise um meinen Bauchnabel.

„Not sure… Not sure, what that actually…“

Dann bricht ihre Stimme und die Bewegung erstarrt.

<> 

„Look at the plant. See those tiny leaves in the middle? That’s what we call the baby. It’s protected by its father on the right and its mother on the left side. Cutting Harakeke you’ll always go for the grandparent-leaves and let alone the parents and the baby. If you regularily cut the elders you’ll get a beautiful, healthy plant.“

Heather lacht, dann wird sie ernst.

„Here, Rosy! Have a go!“

Ich knie mich unter den Strauch und beginne von außen nach innen Blätter abzusägen. Eine Spinne seilt sich vom Blatt auf meine Hand. Ich schüttle sie ab und setze die Klinge neu an. Es dauert ein paar Sekunden bis ein Blatt durchgesägt ist. Dann fällt es schwer und lang zu Boden.

<> 

Die Ärztin fängt sich wieder, doch einen Augenblick lang sehe ich deutlich ihr Entsetzen. Tommys Augen sind unbewegt auf den Bildschirm gerichtet. Die Ärztin deutet mit spitzen Fingern auf etwas, setzt zu sprechen an, zögert. Schließlich sagt sie es doch: „I haven’t seen this in a long time.“

Ich hebe den Kopf und stemme den Oberkörper hoch, um Sicht auf den Bildschirm zu bekommen. Was ich sehe, ergibt keinen Sinn. Das da auf dem Monitor sieht nicht aus wie ein Baby. Es sieht wie aus ein aufgequollenes Gummibärchen, das in einer engen Wasserhülle schwimmt.

„Very rare“, sagt die Ärztin nach langem Schweigen. Dann entschuldigt sie sich. Mir schießen Tränen in die Augen. Ich höre Tommy und die Ärztin reden. Schnell und hektisch und besorgt. Immer wieder höre ich, englisch ausgesprochen, die Worte Hydrops fetalis.

„Hydrops fetalis“, sagt die Ärztin wieder. Und ich kann nicht anders als denken, dass die Sau sich nicht mal die Haare gewaschen hat, bevor sie mir diese Scheiße antut.

<> 

Jede von uns braucht zehn Blätter des Hakareke-Buschs für unser erstes Werkstück. Wir schleppen die Blätter auf eine große, geflochtene Matte, die Heather auf dem Rasen vor ihrem Häuschen ausgebreitet hat. Ein alter, dunkler Mann in einer ausgebeulten Jeans trägt unter jedem Arm einen blau-weiß gestreiften Sonnenschirm aus dem Schuppen zu uns herüber. Auf seinen Wangen prangen in grünlichen Spiralen Tā moko7, dünn tätowierte Linien.

„Say Hi to my pupils, Nathan, you old fart“, lacht Heather.

Nathan hebt die Hand, spreizt die Finger, bleckt die Zähne und sagt: „Hi folks!“

Während er die Sonnenschirme in die Ständer hievt, kommt ein etwa siebenjähriger Junge mit wippendem Haarschopf aus dem Haus gelaufen, ein Tablett mit fünf Saftgläsern in Händen.

„Thanks Mokupuna6“, sagt Heather lächelnd, als er bei ihr ankommt, und nimmt sich ein Glas.

„This is my grandson Witi. He’s a good boy. Help yourself!“

Ich nehme mir ein Glas, bedanke mich mit einem Nicken bei Witi und Heather und nehme einen Schluck. Kaum hat Kristin sich das letzte Saftglas genommen, rennt der Bub wortlos mit dem leeren Tablett ins Haus zurück, während der alte Mann noch ein paar Augenblicke um uns herum flattert und die Schirme aufspannt. Dann verschwindet auch er wortlos im Schuppen neben dem Haus.

<> 

Auf der Rückfahrt brennt die Sonne durch die Windschutzscheibe. Ich habe gelesen, dass man in Neuseeland sogar durch Fensterglas einen Sonnenbrand bekommen kann. Wir treffen hier ständig Leute mit Sonnenbrand. Viele der Älteren haben Hautkrebs. Irgendwann bricht es aus mir heraus: „What are we going to do now?“

Ich sehe den Horror in Tommys Augen. Erst jetzt, schießt es mir durch den Kopf, lernen wir uns kennen. Und Tommy ist einer, der den Schmerz einfach verschluckt.

„Further examinations“, sagt er nach einer langen Pause. Dann biegt er in den schmalen Weg zur Selbstbedienungstankstelle ein, steigt aus und bleibt ein paar Herzschläge lang wie ausgeknipst neben der Tanksäule stehen. Während der Schlauch Benzin in Tommys Auto pumpt, schaue ich auf einen kreisrunden Vogelschiss auf der Windschutzscheibe.

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Heather zeigt uns wie wir die Blätter knicken müssen, damit wir gleich große Hälften bekommen. Dann reißen wir unter ihrer Anleitung Flachsstreifen ab. Sie dreht sich eine Zigarette und lässt genüsslich ein paar Minuten verrauchen, während wir uns mit dem Flachs abmühen. Ich brauche ewig, bis ich die Blätter zu zwanzig, zirka gleich dicken Streifen verarbeitet habe. Als wir fertig sind, nimmt Heather die stumpfe Seite ihrer Sichel und zieht die Unterseite des dünnen Streifens kraftvoll drüber: „It’s a bit like wrapping up your christmas presents. Remember? You hold the strip on one side and pull it over the edge to get the juices out and make our strips soft and bendy.“

Ich halte den Flachsstreifen in der einen Hand und ziehe ihn über die Klinge. Hellgrüner Saft dringt aus den Poren.

<> 

„Tu dir das nicht an“, sagt meine Mutter am Telefon, als ich ihr erzähle, dass ich warten will, wie sich mein Baby im Bauch entwickelt.

„Tu dir das bitte nicht an“, sagt sie noch einmal und stößt einen endlosen Seufzer aus. Dann erzählt sie von ihren Schwangerschaften. Sie rückt mit Geheimnissen raus. Überhaupt rücken die Frauen in meiner Umgebung plötzlich alle mit Geheimnissen raus. Hinter der Welt, die ich kenne, mit ihren Gesetzmäßigkeiten und Regeln, schält sich eine zweite heraus: schleimig, stinkend und monströs. Eine Welt, in der Frauen einander traurige Geschichten zuflüstern, die der offiziellen Welt nicht zumutbar sind. Ich will das Fenster aufreißen und rausschreien, was mit mir ist. Ich will die offizielle Welt, die Welt der Regeln und Gesetze, mit meinem stinkenden Schleim überziehen. Ich will, dass sich die Welten begegnen. Auf dem Flachsbusch vor dem Fenster sitzt ein Tui und lässt sein stranges Gezwitscher hören, diesen typisch neuseeländischen Synthesizer-Sound. Dann höre ich den Rasenmäher. Unser Nachbar hier, ein pensionierter Busfahrer, der uns immer mal wieder eine Gurke aus seinem Garten vor die Haustür legt, fährt seinen Mähtruck aus der Garage. Er winkt. Hier winken immer alle so freundlich. Wo stecken die nur ihre Leichen hin? Ihre Totgeburten? Ich versuche ein Lächeln, hebe den Arm. Dann gehe ich zur Couch zurück, ohne den Nachbarn und seine Welt aus Regeln und Gesetzen mit meinen Geschrei zu verstören, das von ganz unten kommt, aus dem Erdkern zwischen meinen Beinen. Stattdessen mache ich Youtube an und singe leise mit.

It must be that old evil spirit /
So deep down in the ground /
You may bury my body /
Down by the highway side/
You may bury my body/
Down by the highway side.

<> 

Wir sind bei Tommys Familie zum Essen. Von allen Seiten wird mir Fleisch und geröstete Kumara8 auf den Teller gelegt. Wir erzählen nichts von den Untersuchungen. Tommys Mutter soll sich nicht unnötig aufregen. Sie hat ein leichten Herzinfarkt hinter sich und wälzt sich auch so schon im Schlaf hin und her. Der Termin in Auckland ist in drei Tagen. Ich weiß den ganzen Abend nicht, was ich sagen soll und stopfe Unmengen an Fleisch und Kumara in mich hinein. Der Großteil der Leute, denen ich hier begegne, hat mittleres bis schweres Übergewicht. Niemand, der es nicht weiß, bemerkt, dass ich schwanger bin. Stattdessen loben alle meine schlanke Figur.

Tommy hat seine eigene Strategie mit dem Ganzen fertig zu werden. Er redet nur das Nötigste und spielt in jeder freien Minute Minecraft auf dem Tablet. Das ist das Spiel, bei dem man alles Mögliche aus würfelförmigen Blöcken bauen kann. Übers Wochenende hat er eine riesige, goldene Pyramide gebaut. Im Inneren soll eine Krypta entstehen, wo er, falls unser Baby stirbt, eine Gedenktafel anbringen will. Ich weiß nicht warum, aber neben der Pyramide hat Tommy eine Gartenanlage mit einem großen Spielplatz gebaut.

<> 

Das Krankenhaus von Auckland ist riesig. Es dauert fast eine Viertelstunde bis wir im richtigen Stock vor dem richtigen Behandlungsraum stehen. Bei der Untersuchung, zu der wir gehen, wird ein stricknadeldickes Werkzeug durch die Bauchdecke der Patientin gestoßen. Ich hab es mir vorher im Internet angeschaut. Es besteht eine zwei bis vierprozentige Chance, dass der Fötus beim Eingriff verletzt wird oder stirbt. Wir müssen vorher unterschreiben, dass wir dieses Risiko eingehen. Wir diskutieren lange, unterschreiben dann aber doch. Während wir warten, spielt Tommy Minecraft auf dem Tablet. Ich schaue ihm zu, wie er Blöcke hin und her schiebt, zerstört und wieder neu anordnet. Als er meinen Gesichtsausdruck sieht, macht er das Tablet aus und nimmt mich in den Arm.

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„Are you alright?“ Heather schnippt die Finger vor meinen Augen. Ich nicke und starre erst auf ihren abstehenden, grünverfärbten Daumen, dann auf die beiden Flachsbänder, die sie in der anderen Hand hält.

„If you want to weave a basket, just looking at what other people do, doesn’t help. Your body must learn the movements.“

Ich nicke und lege die beiden Bänder so nebeneinander, wie sie es mir gezeigt hat. Dann beginne ich zu flechten. Ich knicke ein Blatt um und schiebe ein zweites darunter. Ich lege ein Drittes daneben und webe es unter die anderen. Und immer so weiter, eins nach dem anderen, gewinnt das Körbchen an Tiefe und Raum.

Während wir die einzelnen Stränge verweben, erzählt Heather uns alte Maori-Legenden. Es wirkt, als wären die Geschichten Teil des Programms, das sie bei jedem ihrer Workshops abspult, aber interessant es ist trotzdem. Ich erzähle nicht, dass ich keine echte Touristin bin und viele der Geschichte von Tommy kenne. Ich höre einfach zu und flechte. Hauptfigur der Sagen ist Māui te tikitiki a Taranga, einer der Söhne von Ranginui und Papatūānuku, Vater Himmel und Mutter Erde. Heather erzählt die Geschichte, wie Māui die Sonne mit einem Seil gezähmt und die beiden Hauptinseln Neuseelands mit dem magischen Backenknochen seiner Großmutter an Land gezogen hat

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„I’m not a breeder“, hat Tommy ganz am Anfang unserer Beziehung einmal gesagt. Für mich war das in Ordnung. Die Vorstellung, selbst Mutter zu werden, fand ich bis Anfang Dreißig absurd. Ich wollte studieren, reisen, Politik machen. Doch wenige Tage nachdem Tommy mich in Auckland vom Flieger abgeholt hat, ist mir nach dem Yoga schwindlig geworden. Dann haben die Brüste begonnen, so komisch zu spannen. Zwei Wochen lang dachte ich noch, es läge am Jetlag. Dann hab ich doch einen Test gemacht. Und als ich Tommy die beiden Striche drauf gezeigt hab, konnte ich an seinem Gesicht ablesen, dass er doch ein Breeder ist.

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„Māui has not just fished up New Zealand. He also tried to conquer death“, sagt Heather und richtet ihr Werkstück auf dem Schoß neu aus. Dann erzählt sie, wie er nach vielen anderen Heldentaten Hine nui te Po, die Göttin der Nacht und des Todes bezwingen wollte. Seine Freunde, die Vögel des Waldes, begleiteten ihn. Als sie bei der Göttin ankamen, schlief sie tief und fest. Māuis Plan war es, den Geburtsvorgang umzukehren, durch die Vagina in den Körper der Göttin einzudringen und sich einen Weg bis zum Mund hinauf zu bahnen, sie zu töten und den Tod so zu besiegen. Er bat die Vögel, still zu sein, um die Göttin nicht zu wecken und kroch langsam in ihre Vagina. Alle Vögel waren still, nur einer, der Fantail, konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Da machte die Göttin die Augen auf, presste erschrocken die Schenkel zusammen und zerquetschte Māui.

„This is the reason why humans are mortal“, sagt Heather und knüpft eine letzte Reihe Flachsstränge zusammen.

„And it’s also the reason why in Tereo we call the vagina ‚Whare o Aitua or Whare o Mate‘, house of misfortune and disaster.“

Sie bricht in ein schallendes Lachen aus, das nur langsam verebbt. Dann schaut sie uns herausfordernd an: „Now ladies, I’ll show you how to finish your baskets.“

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Ich träume, die Abtreibungsärztin ist eine hünenhafte Fa’afafine9 mit Knoten auf dem Hinterkopf und Blume im Haar. Unterm weißen Kittel trägt sie ein Abendkleid. Während wir über die Diagnose reden, hält sie meine Hand. Erst jetzt wird mir klar, wie sehr ich mich schäme, dass mein Körper seine Kraft und Liebe in den Versuch investiert, ein nicht lebensfähiges Wesen herzustellen. Und dass ich dieses kaputte Ding trotzdem schon liebe. Die Ärztin erzählt von ihrer Kindheit als Junge in Samoa, vom Rugbyspielen und den Ringkämpfen, an denen sie teilnehmen musste, um den Vater nicht zu enttäuschen. Und vom Mut, sich schließlich zu erlauben, sie selbst zu sein. Im Moment bevor ich aufwache, sehe ich ihre rotgeschminkten Lippen in Großaufnahme vor mir. Sie flüstert mir mit tiefer Stimme ins Ohr: „If you fuck up a cake, you bake another one.“

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Nachdem unsere Körbchen geflochten sind, sitzen wir noch eine Weile auf der ausgebreiteten Matte um Heather herum, nippen an den Saftgläsern und hören zu, während sie erzählt, wie sie vor einem halben Leben von ihrer Großmutter das Flechten gelernt hat. Die anderen beratschlagen, wofür sie ihre Körbchen verwenden und was sie darin aufbewahren wollen. Ich kann nicht sagen, wofür ich meines brauche, aber ich bin zufrieden. Mein Körbchen ist schön. Hinter den Harakeke-Büschen beginnt es zu dämmern, rosa Wolkenschwaden treiben über den Himmel. ‚Die Engel backen Kuchen‘, hat meine Mutter mir als Kind beim Blick auf das Abendrot erklärt. Irgendwann stehe ich auf, gebe Heather die zwanzig Dollar und verabschiede mich.

„Take care, Sweetheart“, sagt sie und steckt den Geldschein in die Hosentasche.

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Auf dem Spielplatz an der Taupiri Avenue spielen noch ein paar Kinder. Ich bleibe etwas entfernt an einem der großen Pohutukawa10 Bäume stehen und schaue ihnen zu. Zwei Buben im Vorschulalter turnen auf den Geräten herum, ein dickes, blondes Mädchen schaukelt. In der Ferne ragen Palmen auf wie Staubwedel, durch die der Wind fährt. Zwei Häuserzeilen, dahinter ist schon das Meer. Es brandet direkt an mein Ohr. Plötzlich kommt aus einem der Häuser, im Halbdunkel, ein kleiner weißer Hund gelaufen. Er springt auf das Mädchen zu, lässt sich von ihr streicheln, wirft sich auf den Boden vor der Schaukel. ‚Tu dir das nicht an‘, höre ich meine Mutter sagen. Ich stelle sie mir vor, wie sie mit in Sorgenfalten gelegter Stirn in unserer vertäfelten Tiroler Stube steht, auf der anderen Seite der Erdkugel, und sich das graue Telefonkabel, ohne es zu merken, um den Arm wickelt. Im Kachelofen ein Feuer. Vor dem Haus zwei Meter Schnee. ‚Tu dir das nicht an.‘

<> 

Am nächsten Morgen fahren wir ins Krankenhaus. Die Tablette, die ich vor dem Einschlafen genommen hab, scheint zu wirken. Ich weine nicht, spüre nur eine Leere in mir, Vorbotin der noch größeren Leere, die mir bevorsteht. Das geflochtene Körbchen liegt auf meinem Schoß, so feierlich, als läge unser totes Baby schon darin.

„I told you a few legends about Māui“, sagt Tommy in die Stille hinein und deutet mit der Hand, die nicht am Lenker liegt, auf das Körbchen.

„Yeah.“

„But did I tell you how he was born?“

Ich schüttle den Kopf. Zum ersten Mal seit Wochen sehe ich Tommy lächeln.

„When Taranga, Māuis mother, gave birth, she thought Māui was dead. She thought her son was stillborn. So she cut off her hair, wrapped it around him and gave his body to the sea.“


Sprecherin: Verena Schmidt
Regie: Lukas Münich
Schnitt: Andreas V. Weber

Glossar:

1 Karakia (Gebet) vor dem Flechten von Harakeke. Der Karakia ist eine Anrufung der Harakeke-Pflanze, ein Lob ihrer Eigenschaften & ein Dank dafür, dass sie ihre Blätter gibt. Karakia werden traditionell nicht wörtlich übersetzt.

² Harakeke: Neuseelandflachs

³ Pounamu: dunkelgrüner Stein, der als Anhänger um den Hals getragen wird (Maorijade)

4 Tapu: Tabu, etwas Heiliges

5 Tereo: Sprache der Maori

6 Mokupuna: Kind/Sohn

7 Tā moko: traditionelle Tätowierung der Maori

8 Kumara: weißliche Süßkartoffel der Maori

9 Fa’afafine: eine Person, die sich der Einteilung in zwei Geschlechter entzieht (körperlich werden Fa’afafine meist als „männlich“ gelesen, sozial aber als „weiblich“)

10 Pōhutukawa: Baumart mit schönen, roten Blüten (Eisenholzbaum)

Mina Reischer: Das garstige Feuerrad

Oh Romeo.
Oh Romeo.
Du musst die Vene nicht sehen.
Du musst sie nur spüren.

See if the sea is still there.

I tell my fortune in the tealeaves.

All meine Last
Ich hab es selbst verschuldet
Was Du getragen hast
Schau her, hier stehe ich
Der Zorn verdienet hat
Gib mir den Anblick Deine Gnad’.

Ich will hier bei Dir stehen
Verachte mich doch nicht
Von Dir will ich nicht gehen
Wenn Dir Dein Herze bricht.

Da, wo ich wohne, sind die Berge alt.
Sie haben ihre Spitze verloren.

Was sollen wir tun?
Was sollen wir tun?

Es gibt viele Arten, seine Ansicht zu ändern.
Aber bestimmt nicht, indem man fragt: Warum?

Was soll ich jetzt tun?
Mich umdrehen und den Raum verlassen?

Licht, Sonne! Schickt ihm die Sonne!

Sonne.
Licht.

Ich bin für die Vögel, nicht für die Käfige,
in die sie von manchen gesteckt werden.

Es gibt Männer bei uns, die über Bord springen,
um einen Stern aus dem Wasser zu holen.
Das Wasser ist ein Traum.
Und der Himmel und alles, was er abends und morgens
an Sternen und Wind, Lügen und Wolken birgt,
ist nur ein Gaukelspiel,
das über die Vergänglichkeit der Zeit hinwegtäuscht.

Und der gute Fährmann setzte hinzu:
Zu wenig Zeit.
Und da wo Zeit ist, Wartezeit.

Glauben Sie das ernsthaft?

Sometimes it was my breakup, but still a waste of time.

Ich gestalte mich nicht spannend genug!
Nicht genug.
Nicht genug!

Feuer! Feuer in die Augen!
Ich möchte, dass Du endlich wieder zurückkommst.

Und dann komm ich mit einem Nagel im Auge.

Es ist ja auch schwer, einen Unfall zu erzählen.

Alsdann will ich Dich fassen
In meinem Arm und Schoss.

Reiß mich aus den Ängsten.
Reiß mich aus den Ängsten.
Reiß mich aus den Ängsten.
Reiß mich aus den Ängsten.
Reiß mich aus den Ängsten.

Du hast Recht. Es hätte nicht anders sein können.
Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie es geschah.
Wir haben die Gabe, die Dinge hässlich zu machen.
Jemand, der ganz alleine ist,
wird immer die Ecke, in der er sich befindet,
mühelos verfinstern.

Das helle Licht, es blendet Dich.

Das ist die Geschichte.

Musik: Sebastian, Szegvari, Julia Liedel,
Michael Akstaller, Mina Reischer

Gesang: Julia Laura

Zeha Schmidtke: Wohnungstausch


Ein Hausflur. Die Tür zu einer Wohnung öffnet sich knarzend.
Aus der Wohnung: Schlager der 50er. Rocky schafft seinen
schweren Körper aus der Bude. Er ist in schlechter
Verfassung, grunzt und brummt vor sich hin.


ROCKY
Boah – was hab ich denn da für Mucke laufen?
Kommt die denn her? Egal. Meine Fresse, hab
ich einen Schädel. Wo ist denn hier der
Lichtschalter?

Er macht das Flurlicht an und schlurft durch den Flut.

Wollen wir mal gucken, wie es Oma Kowalski
geht. Die hat sich ja gestern auch gut einen
genommen, die alte Fregatte!

Er klingelt an einer zweiten Haustür.

Hoffentlich ist sie schon wach…

Die Tür öffnet sich. Aus dem Wohnungsinneren: Death
Metal.


Na, Oma Kowalski!

OMA
Joi! Junge, Du bist das! Haste schön
ausgeschlafen, Junge?

ROCKY
Sag mal – was hörst denn Du da für Musik,
Oma Kowalski?

OMA
Ich weiß auch nicht. Ich hab heute Morgen das
Radio angemacht, wie immer. Da kam das.

ROCKY
Und was hast denn du da an, Oma? Was ist
denn das für eine Lederkutte?

OMA
Ist ein bisschen zu groß, nicht?

ROCKY
Das ist meine Lederkutte, Oma Kowalsky.

OMA
Ist ein bisschen zu groß, nicht?

ROCKY
Das ist meine Lederkutte, Oma Kowalsky.

OMA
Dafür leierst Du gerade meinen Morgenmantel
aus, Junge. Du siehst ja aus. Wie eine
Riesenwurst mit rosa Blümchen.

ROCKY
Sag mal – kann das sein, dass wir gestern so
voll waren, dass wir unsere Wohnungen
vertauscht haben?

OMA
Ich trink nie mehr Eierlikör auf Wodka.

ROCKY
Hast Du beim letzten Mal aber auch schon
gesagt, Oma.

OMA
Pass auf, mein Junge: Die Oma muß noch ein
bisschen schlafen. Und du gehst auch noch ein
bisschen schlafen. Und nachher komm ich
rüber. Und dann tauschen wir die Wohnungen
wieder zurück.

ROCKY
So machen wir das, Oma Kowalsky. Du bist die
Beste.


Ende.

Michael Schmidt: Wuiser und die Legenden

„Also, ich weiß nicht. Diese Heiligen, das sind schon lauter seltsame Leut. Kennen Sie einen Heiligen? Ich meine, persönlich? Nein? Dumme Frage auch von mir. Weil Heilige, denen sieht man’s zu Lebzeiten auch gar nicht an, dass sie welche sind. Die werden ja erst dann heiliggesprochen, wenn sie schon lang tot sind. Trotzdem denk ich mir, kann’s ja sein, dass man schon mal einem begegnet ist, hier im Bus herinnen oder in der Sauna oder im Wirtshaus und so weiter. Anmerken tut man es ihnen halt nicht unmittelbar. Und einen Heiligenschein, den kriegen sie auch erst nachher. Als Voraussetzung, dass man ein Heiliger werden kann, muss man ja erst einmal ein paar Wunder gewirkt haben. Nachweislich! So wie der Herr Hämmlein zum Beispiel. Der studiert mittlerweile schon seit 26 Semester, und trotzdem studiert er allweil noch und kommt darum auch immer wieder dem Arbeitsamt aus. Dass der das überhaupt schafft, ist für uns alle ein Rätsel. Und dass er in seinem Alter dann auch noch fünf Nächte pro Woche durchmachen kann, grenzt schon an ein Wunder. Dass der das überhaupt so aushält, mein ich! Ist ja nicht normal. Schon fast übermenschlich! Nach 23 Semester allweil noch studieren, das ist ja schon extrem, aber nach 26! Also, wenn dem das nicht mal als ein Wunder ausgelegt wird, würd mich das tatsächlich wundern. Ein anderes Wunder, von dem auch eine Legende umgeht, ist das von dem einen Vorfahr da vom Professor Wuiser. Dem ist eines Tags einmal ein Zweig aus dem Hirn gewachsen. Wie von einem Zwetschgenbaum so einer. Ja! Tatsache! Kommt in der Früh so auf und denkt sich: Mensch, was hab ich denn da am Hirn oben! Hab ich mich da gestern im Rausch etwa noch wo angerannt? Nein, weil wie er da dann so abtastet, stellt sich heraus, dass da ein Zwetschgenzweig aus seinem Hirn rauskommt. Der hat dann natürlich gleich die volle Panik gekriegt, aber mit der Zeit kann man sich ja bekanntlich an alles gewöhnen. Noch dazu, weil ihm der Pfarrer gesagt hat, dass das halt ein Wunder ist und für Wunder nichts Seltenes, dass einem da oder dort wo was rauswächst, mit dem man gar nicht gerechnet hat. Und der Vorfahr vom Herrn Wuiser hat dann halt damit gelebt. Hat recht bald sogar die Vorteile da gesehen und von den Leuten Geld bekommen, damit sie ihn sehen und dieses Wunder anbeten dürfen. Und wie der Zwetschgenzweig auch noch getragen hat, hat er daraus einen Schnaps gemacht und auch den verkauft. Ist reich geworden damit! Und darum geht noch heut die Legende vom Wunder-Wuiser um. Nur der Professor Wuiser selbst, der winkt nur immer wieder ab, wenn wir drauf zu sprechen kommen. Der glaubt nicht an das Zeug, sagt er immer wieder. Außerdem glaubt der eh gar nichts. Der glaubt ja nicht einmal, dass der Herrgott damals barfuß übers Wasser gegangen ist.“

Sabrina Marzell: Der Schmacht


Eine Unterhaltung bei Nacht


N Ohne Rede ohne Antwort.
A Gäbe keine. Weder das Eine noch das Andere.
Was wolltest du?
N Was ich immer will.
A Aha, was du immer willst.
N Ja, was ich immer will.
A Verstehe.
N Ich dich doch auch. Auf Ruhland war ́s schön.
A Ja, gutes Abendprogramm und gute Aussicht.
Meistens bin ich gefahren.
N Ja, wir wissen ja beide warum, prost!
Du gefällst mir so. Deine Haltlosigkeit.
A Mir gefällt deine Unbeugsamkeit!
N Du warst nicht folgenlos.
A Das tut mir leid für dich!
N Soll ́s nich ́
Zigarette?
A Immer gerne.