Raphael Stratz: Wie wir uns einander passend machen

Ein einzelner Staubfussel kann viel verursachen. Gerät er in einen Rauchmelder, so schlägt dieser unter Umständen falschen Alarm, woraufhin große Fertigungshallen geräumt werden müssen, die Produktion für etwa zwanzig Minuten zum erliegen kommt und wirtschaftliche Schäden in Milliardenhöhe entstehen. Außerdem können die produzierten Waren deshalb nicht rechtzeitig geliefert werden, was einen Handelskrieg mit Paraguay auslöst und letztlich zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Kanada und Dänemark führt.
Ein einzelner Staubfussel könnte auch, sollte er nicht ordnungsgemäß entfernt worden sein, in einem Operationssaal landen. Dort gelangt er an das Besteck der zuständigen Ärztin und verbleibt schließlich im Körper des zu operierenden. Da der arme Mensch aber eine Augentransplantation erhält und sich das kleine Stück Schmutz gar ungünstig hinter seinen neuen Sehapparat klemmt, muss dieser nun für den Rest seines Lebens die Welt wie durch ein beschlagenes Fernglas betrachten.
In meinem Fall fiel der Fussel auf mein Mobiltelefon. Er entschloss sich, dies zu tun, als ich gerade im Wartebereich eines großen deutschen Bahnhofes saß und auf eben jenem Mobiltelefon mit einer Datingapp spielte. Mir war nicht ganz klar, woher er gekommen sein mochte, befand ich mich doch in einem riesigen Saal mit etwa dreißig Meter hohen Decken. Doch vielleicht hatte er einfach einen der vorbeihastenden als Transportmittel genutzt, um auf meinem Telefon Platz nehmen zu können.
Kurz betrachtete ich meinen ungebetenen Gast, entschloss mich dann, meine gute Kinderstube zu ignorieren und wischte ihn beiseite. Dies war der Moment, in dem Miriam in mein Leben trat.
Sie hatte sich unter dem Schmutz befunden. Genauer gesagt: Sie war innerhalb meines Mobiltelefons gewesen und hatte mich durch dessen Bildschirm hindurch angeblickt. Als ich nun den Staub beiseite wischte, signalisierte ich der Datingapp, dass sie mir rein optisch und aufgrund der spärlich angegebenen Informationen interessant erschiene. Es stellte sich heraus, dass Miriam mich, als ich sie meinerseits durch den Bildschirm ihres Gerätes hindurch angrinste, ebenfalls für attraktiv befunden hatte. Dies wurde mir auch umgehend angezeigt. Ich freute mich ein wenig über diesen unverhofften Zufall, hatte ich doch gar nicht beabsichtigt, sie gar so offensiv zu bestätigen und nur ein Stückchen Staub hinfortwischen wollen. Dann beließ ich es aber dabei, hatte ich ja nur ein Stückchen Staub hinfortwischen wollen und mich mit ihrem Profil gar nicht auseinander gesetzt.
Wäre sie tatsächlich interessant, so dachte ich mir, würde sie mir schon eine Nachricht schreiben, in der sie mir dies zeigte.
Sie schrieb mir tatsächlich, einen Tag später:
„Schreibst du mir auch irgendwann?“
Die Nachricht als Solche überraschte mich. War sie es doch, die mir in diesem Moment schrieb und natürlich würde ich ihr auf diese Nachricht antworten. Wir wären hier wieder bei meiner guten Kinderstube.
„Ja.“ Antwortete ich also wahrheitsgemäß.
Ihr schien meine knappe, präzise Art nicht sonderlich zu imponieren, doch irgendetwas daran musste es ihr angetan haben. Sie schien es nun nämlich als eine Art Herausforderung zu sehen, mir mehr zu entlocken. Sie durchlöcherte mich mit allerhand Fragen, die ich ihr selbstverständlich wahrheitsgemäß beantwortete und erfuhr auch einiges über sie.
Wir schrieben in der folgenden Zeit sehr viel mit einander. Miriam hatte ohne Zweifel auch mich neugierig auf sie gemacht. Ich erfuhr, was sie beschäftigte, sie womit ich meine Zeit verbrachte und mein Geld verdiente, ich von ihrer Familie und Träumen.
Nach einigen Wochen fragte sie mich, ob ich nicht denke, dass es langsam aber sicher an der Zeit wäre, sie auf ein Date einzuladen.
Warum sie nicht einfach mich einlüde, fragte ich zurück.
Weil das so ginge, dass der Mann die Frau einlädt und nicht umgekehrt, erklärte sie mir. Ob ich ein Feminist sei, wollte sie wissen.
Ich erklärte ihr daraufhin, dass ich sehr wohl ein solcher bin, es aber ganz unabhängig davon einfach erwachsen von ihr fände, wenn die Frage nach einem Date von ihr käme, wenn sie sich eines wünschte. Sie lies sich davon nicht beeindrucken und bestand weiterhin darauf, wenn dann hätte ich sie einzuladen.
Dies tat ich einige Zeit später, als mir danach war. Wir trafen uns, verstanden uns prächtig und vereinbarten, uns wieder zu sehen. In der darauf folgenden Zeit hatten wir viele Treffen, wir waren einander sehr sympathisch und unsere Gespräche wurden zunehmend intimer.
Als wir eines Abends nach einem sehr romantischen Date mit anschließendem Spaziergang vor der Tür ihres Wohnhauses angekommen waren, fragte sie mich, ob ich sie nun nicht endlich einmal küssen wolle. Ich fragte sie, weshalb sie mich denn nicht einfach selbst küsste, woraufhin sie erwiderte, ich sei der Mann, weshalb unser erster Kuss zwangsläufig von mir ausgehen müsse.
Ich dachte in diesem Augenblick nicht viel nach und küsste sie auf den Mund, was ich kurz darauf bereute. Ich bereute es nicht des Kusses wegen. Dieser war für sich genommen absolut akzeptabel und nichts wofür man sich hätte schämen müssen. Ich bereute es, weil ich ihr durch diesen Kuss in ihrem Denken, er müsse von mir kommen, Recht gab.  Allerdings wischte ich diesen Gedanken beiseite, als mir aufging, dass es sich nun ohnehin nicht mehr rückgängig machen ließ. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass sie nun, da wir uns noch einmal näher gekommen waren, künftig sicher emanzipierter, zumindest mir gegenüber auftreten konnte.
Ich täuschte mich.
Miriam und ich entwickelten in den darauf folgenden Monaten eine Beziehung mit einer etwas merkwürdigen Dynamik. Sie hielt an ihren insgesamt doch recht traditionellen Rollenbildern fest, die besagten, jede Initiative habe von mir – als Mann – auszugehen. Währenddessen wünschte ich mir eine aufgeklärte, emanzipierte und feministische Frau an meiner Seite. Ich hatte nie den Anspruch an sie, eine Vorkämpferin für Frauenrechte zu sein und chauvinistischen Mannsbildern öffentlich die Stirn zu bieten. Dennoch wäre es mir zu wissen lieb gewesen, dass sie ihren eigenen Kopf hatte und ihren Willen auch klar definieren und durchsetzen konnte.
Im Prinzip war dies auch der Fall. Sie hatte ihre Vorstellungen davon, wie Dinge zu laufen hatten, aber das waren andere als die meinen.
Sie war der Meinung, ein Mann hätte die Frau in einer Liebesbeziehung zu führen und dies nach einem speziellen, althergebrachten Schema. Dieses betraf das gesamte Leben: Ich sollte entscheiden, wohin wir Essen gingen, wenn wir dann im Restaurant saßen, musste ich die Rechnung bezahlen. Saßen wir vor dem Fernseher, so sollte ich das Programm auswählen und dann die Fernbedienung in Beschlag nehmen. Es war auch der Fall, wenn wir mit einander schliefen, aber das geht niemanden etwas an.
Sie bräuchte einen Mann, der zeige, wo es langgeht, erklärte Miriam mir immer wieder.
Ich machte ihr daraufhin jedes Mal klar, wie wichtig es mir war, dass meine Partnerin selbst weiß, was sie will.
Aber das wisse sie doch ganz genau, entgegnete sie daraufhin immer wieder: Einen Mann, der zeige, wo es langgeht.
Wir waren etwa sechs Monate ein Paar, als mir aufging, dass wir uns missverstanden. Wir waren genau das, wir jeweils brauchten:
Ich zeigte an, wo es lang geht, indem ich von ihr forderte, mir zu sagen, was sie wollte.
Sie hatte ihren eigenen Willen, den sie mir dann erklärte.
Ich wiederum zeigte dann wieder an, wo es langging, indem ich das von uns beiden diskutierte Ergebnis zu meinem Willen machte und diesen durchsetzte.
Letztlich bekamen wir beide, was wir wollten. Zumindest in unseren Köpfen. Mir ist natürlich klar, dass das keinesfalls optimal ist, aber ich finde mich damit ab. Inzwischen sind wir seit beinahe drei Jahren zusammen und ich rechne damit, dass Miriam mir demnächst nahelegt, ich möge ihr einen Heiratsantrag machen. Wie ich darauf reagieren werde, weiß ich noch nicht. Vermutlich werde ich kein vernünftiges Argument dagegen finden.
Es ist erstaunlich, was ein einzelner Staubfussel auslösen kann.

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