Margit Heumann: „Therapie: Keine“

Mit dem Fahrrad durch die Stadt und alles wie immer. Eine Sekunde später alles anders: Aufgestoßene Autotür, keine Chance zu reagieren, kopfüber auf die Gegenfahrbahn, ein harter Aufschlag, Auto über mir, Bewusstlosigkeit. Notoperation, künstliches Koma, Krankenhauswochen, Reha-Monate, Therapien.

Am Ende: Körperlich wieder hergestellt, chronische Apperzeptionsstörung im Bereich Lesefähigkeit, therapieresistent.

Die Liebe meines Lebens verloren: das Lesen. Für immer. Mit brennenden Augen starre ich auf die Zeilen, zermartere mir das Gehirn. Ich sehe die Zeichen, das müssen Buchstaben sein, aber sie sind mir fremd geworden, lassen sich nicht mehr definieren, nicht zu Wörtern und Sätzen zusammenfügen. Bitter für mich Vielleser und Wortklauber. So bitter, doch nichts gegen das, was mir droht, wenn sich die Buchstaben nach und nach auf jeder Ebene verweigern.

Schon ist es soweit, dass sich meine Handschrift verabschiedet. Hat sie oder hat sie nicht? Noch gehorcht mir der Stift, malt Zeichen auf Papier, gehören sie zum Alphabet? Ich kann nicht kontrollieren, ob das Gekritzel Buchstaben sind, Sinn ergeben. Die Krakel bleiben bedeutungslos, buchstäblich nichts sagend. Wie kann ich schreiben, wo meine eigene Schrift für mich unlesbar ist?

Das Gehör kann mich nicht entschädigen. Hören ist Sprache, und Sprache sind Laut gewordene Buchstaben. Wem sie ihre Bedeutung nicht mehr erschließen, dem übermitteln sie keine Inhalte. Taubheit ergreift mich, und Stillschweigen rundherum, denn wozu, bitteschön, soll jemand mit einem Gehörlosen reden?

In Windeseile verliere ich folglich meine Sprache. Laute und Buchstaben kommen mir abhanden, lassen sich nicht mehr formen, geschweige denn mit Bedeutung versehen. Das Ende vom Lied ist Sprachlosigkeit, weil ich weder lesend noch schreibend noch hörend auftanken kann.

Mit dem Verlust der Sprache schwindet mein Denkvermögen. Keine Überlegung, keine Erkenntnis ohne Worte, alle Kopfarbeit basiert auf Buchstaben. Vielleicht, mit Glück, kann ich mich noch eine Weile in den alten, längst zu Ende gedachten Denkstrukturen tummeln. Neue Gedankengänge lassen sich nicht mehr bilden. Nur eine Frage der Zeit, wann ich das Nachdenken, das Vergleichen, das Kombinieren, das Hinterfragen und das Zweifeln verlerne. Nur eine Frage der Zeit, bis ich ohne Verstand bin.

Bleibt das Gefühl. Fühlen ist buchstabenfrei, sollte man meinen. Falsch gedacht: Nur in Worte gefasste Gefühle sind echte Gefühle. Reflexion unterscheidet den Menschen vom Tier. Ohne Reflexion vegetiere ich rein triebgesteuert dahin, nicht wissend, bin ich oder bin ich nicht. Schrecklicher Gedanke. Und doch: Wie ein Tier sein – welche Gnade wäre das! Denn mir schwant Fürchterliches: Eine dumpfe Ahnung von Denken, Sprechen, Hören, Schreiben, Lesen wird bleiben, und diese dumpfe Ahnung von ehemaligem Menschsein wird mich in den Wahnsinn treiben. Therapie: Keine.

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