Immanuel Reinschlüssel: FaKotäne

Man nimmt sich vor all das zu tun, wofür man sonst keine Zeit hat. Die alten Platten mal wieder anhören, Bücher lesen, den gottverdammten Roman endlich schreiben, Spanisch lernen. Und dann wacht man auf, schleppt sich vom Bett zum Sofa, weiß nicht, wie spät es eigentlich ist und welcher Wochentag gerade vergammelt werden muss – und klickt ohne Ziel durch das endlose Angebot von Netflix, das plötzlich gar nicht mehr so unendlich erscheint. Die Entmystifizierung dieser unendlichen Weiten dauerte genau 45 Tage. Die Fenster sind verdreckt, die Frühlingssonne zeichnet jede einzelne Schliere mit größter Sorgfalt nach. „Morgen werden die Fenster geputzt.“, sagt man sich. Ja klar. 

Da sowohl Wochentage als auch Tageszeiten keine Rolle mehr spielen, wird getrunken. Und zwar sehr viel früher, als man es irgendjemandem erzählen wird. Aber niemand wird spontan anrufen oder vorbeikommen, man muss nicht ohne Vorwarnung zu einem Treffen oder einem Termin erscheinen, also kann man sich genauso gut dem dämpfendherrlichen Gefühl des leichten Seiers hingeben, der fließend in einen amtlichen Suff übergeht und das schlechte Gewissen über all die ungelesenen Bücher und ungehörten Alben, den gottverdammten Roman, Spanisch und den Rest der Welt gleich mitschwemmt. All die halbleeren Flaschen mit Fusel, die von vergangenen Feiern übriggeblieben sind und auf den Schränken verstauben – jetzt schlägt ihre große Stunde, hier ist ihr Auftritt. Bühne frei für den 4,99 Gin aus dem Aldi, Vorhang auf für Wein im Tetrapak, Spot auf den Kopfweh-Bourbon, füllt die Gläser mit Fanta-Korn.  

Je ähnlicher sich die Tage werden, desto undeutlicher erscheinen die Erinnerungen an das „davor“. Hat man einen Job? 

Hat man eine Freundin irgendwo? 
Leben die Eltern eigentlich noch? 
Wie heißt man eigentlich? 

Irgendwann muss man diese Informationen wieder zusammensammeln, sie erscheinen wichtig. Aber nicht jetzt, jetzt ist der FaKo an der Reihe, mit Fanta geht einfach alles und mit etwas Übung geht auch alles runter. Hardcore-Workout für Leber und Gedärme, ein staatlich finanziertes Säufertrainingslager, bei diesen geistreichen Gedanken fängt man an zu lachen. Richtig zu lachen, aus voller Kehle, lang und anhaltend, ein Lachen geboren in Langeweile und Fanta-Korn. Nachdem man sich beruhigt hat merkt man, dass dies der erste Laut war, den man seit Wochen von sich gegeben hat. Das beunruhigt. Man öffnet den Mund, kommt sich dumm dabei vor aber macht es trotzdem, man öffnet den Mund und sagt einen Satz. Etwas Saudummes wie „die Sonne scheint“ oder „Hallo, hallo, Test, Test.“. Ein komisches Gefühl ist das, die eigene Stimme zu hören und den Nachhall der Worte im Mund zu haben. Man schließt die Augen und schmeckt die Worte auf der Zunge förmlich nach.

Ein ganz kritischer Moment ist das jetzt, ein ganz, ganz kritischer. Hier entscheidet sich, wie es weitergeht. 

Links: Etwas dämmert, ein Gedanke manifestiert sich, man fragt sich, was man hier eigentlich macht und wie es so weit kommen konnte. Man stellt das Glas zur Seite, nimmt eine kalte Dusche, sucht sein Handy und ruft die erstbeste Nummer an, die man findet. Und dann alle anderen, die wichtig erscheinen. 

Rechts: Man nimmt einen tiefen Schluck FaKo, trottet ins Bad zu einem längst überfälligen Schiss und singt auf der Schüssel schief Lieder von Radiohead. Dann torkelt man in die Küche und schüttet Fanta und Korn im Verhältnis 1:1 in ein großes Wasserglas und zurück geht es aufs Sofa.

Man geht nach links.

Man wacht auf, der Kopf schmerzt. Man hat viel gelernt in den Telefonaten, das Meiste wollte man eigentlich gar nicht wissen. Man hatte eine Freundin, sie wohnt scheinbar in Berlin, man war über zwei Jahre zusammen, ihr Name ist Jana. Sie hat die Sauferei aber endgültig satt und weil man sich mehr als sechs Wochen nicht bei ihr gemeldet hat ist es jetzt endgültig aus. Man findet Fotos auf dem Handy, Jana war wirklich sehr hübsch. Man arbeitet anscheinend in einer Agentur, weder der Chef noch die Kunden haben gemerkt, dass man im Homeoffice seit Wochen keinen Finger gerührt hat. Na gut, muss er ja nicht wissen. Die Eltern leben noch, sie hören sich wirklich sympathisch an, man freut sich ganz ernsthaft auf ein baldiges Treffen mit ihnen. Sie scheinen ein bisschen überrascht darüber zu sein. 

Man heißt …

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