Elmar Tannert: Die große Stunde

Da stehen sie am Tresen vom Pik-As und warten auf ihre große Stunde: Weizen-Willi, Jehova-Michel, Bauch-Peter und Tschechen-Paul.

Paul besucht seit Jahren einen Tschechischkurs an der Volkshochschule. Damit trainiert er seine Zungenfertigkeit, denn Tschechisch verfügt nicht nur über eine Reihe höchst differenzierter Zischlaute, sondern gilt zudem als die vokalärmste Sprache Europas. „Man kann im Tschechischen Sätze bilden“, doziert Paul gerne, „die kommen ganz ohne Vokale aus. Wißt ihr zum Beispiel, was auf tschechisch heißt …“

„… ’steck deinen Finger durch den Hals‘?“ rufen Weizen-Willi, Jehova-Michel und Bauch-Peter im Chor, und Tschechen-Paul hebt sein Glas und ruft: „Strč prst skrz krk!“

Das rechte Rücklicht an seinem Wagen ist chronisch defekt. Das ist Absicht, denn Pauls Vision von seiner großen Stunde sieht so aus: Eines Nachts wird ihn die Polizei anhalten, um ihn auf das defekte Rücklicht hinzuweisen, und er wird sagen: „Kein Problem, ich hab immer ein Ersatzlämpchen im Handschuhfach – und der Kreuzschlitzschraubenzieher liegt gleich daneben!“ Und er wird das Wort „Kreuzschlitzschraubenzieher“ dank jahrelanger Zischlautübungen noch mit 3 Promille im Blut so vollendet artikulieren, daß die Polizisten einen etwaigen Verdacht auf Trunkenheit am Steuer sofort verwerfen werden.

Bauch-Peter hingegen nimmt seit Jahren Ballettunterricht. Deshalb läßt er es sich nicht nehmen, mit dem Auto ins Pik-As zu kommen, obwohl er gleich um die Ecke wohnt, denn Bewegung, sagt er, hat er zweimal die Woche im Ballett genug. Ihn haben sie einmal, es ist schon Jahre her, auf dem Strich entlanggehen lassen. Danach war der Schein ein halbes Jahr weg. Im Pik-As führt der Bauch-Peter immer wieder mit Hingabe seine große Stunde vor.

„Zieht einen Strich auf dem Boden! Aber schnurgerade! Und noch einen Hörnerwhisky für alle!“

Das lassen sich die anderen nicht zweimal sagen. Eine Wäscheleine wird knapp über dem Boden von Barhocker zu Barhocker gespannt, ein Kreidestrich wird daran entlanggezogen, und Bauch-Peter wieselt nicht nur exakt auf dem Strich auf und ab, sondern dreht auch nach dem zehnten Landbier noch anmutige Figuren dazu. Das soll ihm ein nüchterner Polizist erst einmal nachmachen …

Der Jehova-Michel wiederum nimmt den netten älteren Damen in der Fußgängerzone regelmäßig die neuesten Ausgaben von „Wachtturm“ und „Erwachet!“ ab und deponiert die Traktate gut sichtbar auf dem Beifahrersitz.

„Michel, mach uns den Prediger!“ ruft die Gesellschaft, wenn der Gesprächsstoff auszugehen droht. Dann stellt er sich auf einen umgedrehten Bierkasten, spricht über den menschlichen Leib als den Tempel Gottes und wettert gegen Alkohol- und Nikotinmißbrauch, bis seine Zechkumpane röchelnd und wiehernd von den Barhockern gleiten.

Auch er träumt von seiner großen Stunde. Er wird den Polizisten mit dem Führerschein eine religiöse Schrift in die Hand drücken und sie fragen, wie sie es mit Gottes Wort halten, und ob er sie einladen darf in den Königreichssaal zum Bibelstudium, und da werden sie, meint er, erstens schleunigst das Weite suchen und ihn zweitens für völlig unverdächtig halten – vorausgesetzt, er hat sein Atemgold-Bonbon im Mund.

Und der Weizen-Willi? Der steigt, wenn die Polizeistunde geschlagen hat, mit einer Sanitäterweste am Leib ins Auto und ist über kulturelle wie sportliche Großveranstaltungen stets informiert. „Na, Kollegen?“ wird er also im Fall des Falles ungefähr sagen, „auch noch Volksfesteinsatz gehabt?“

Seine Erste-Hilfe-Kenntnisse frischt er natürlich regelmäßig auf, denn jeder weiß ja, daß es auf der Welt die merkwürdigsten Zufälle gibt, und wie oft passiert genau das, was nicht passieren soll. Falls also einer der Polizisten während der Kontrolle einen Kreislaufzusammenbruch haben sollte, dann ist der Weizen-Willi auch nach einem Dutzend Hefeweizen und mehreren Sechsämter-Runden noch imstande, den Freund und Helfer qualifiziert zu betreuen. Die Tresenbesatzung weiß das zu schätzen, denn der Weizen-Willi hat noch jeden Trinker im Notfall so weit wiederhergestellt, daß er aus eigener Kraft sein Auto erreicht hat, und wenn es auf allen vieren war.

„Laßt euch nicht unterkriegen, Jungs!“ sagt Walter, der Wirt vom Pik-As, zum Abschied. „Denkt immer dran: Die Säule der Sicherheit im Straßenverkehr seid ihr!“

Walter liest regelmäßig Zeitung, und die veröffentlichten Statistiken, findet er, sprechen eine eindeutige Sprache: 2,5 Prozent aller Verkehrsunfälle, heißt es, werden von Betrunkenen verursacht. Mit anderen Worten: Die 97,5 Prozent Nüchternen sind es, die wie die Wahnsinnigen fahren.

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