Anja Gmeinwieser: Die Welt

In den Killerwalen sammelt sich die Welt. Ich meine das wörtlich, alles, alles was ist auf der Erde endet letztlich im Inneren eines Killerwales. Also, wirklich alles. Sie sind „Spitzenräuber“, ganz oben in der Nahrungspyramide, in der weltweiten Fressordnung, sie fressen Fische, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die Plankton und/oder Pflanzen fressen. Und wahrscheinlich fressen die Killerwale selbst auch ihrem Fressen das Fressen weg, fressen also auch selbst Plankton und die Fische, die Plankton fressen und die Fische, die diese Fische fressen, und die Fische, die diese Fische fressen und so weiter. In Killerwalen sammelt sich, ich sage das nochmal, ich sage das wiederholt, ich unterstreiche das: die Welt.
Deshalb können Killerwale sich nicht mehr fortpflanzen, weniger wegen dem Plankton oder den Fischen, sondern wegen den Giften in dem Plankton und in den Fischen, Dioxin, Weichmacher, Glyphosat, Erdöl.
Um über den Zustand der Welt im Bilde zu sein, blicken Sie mit mir in einen Killerwal, soeben gestrandet, unwiederbringlich, er ist von uns Menschen umringt, die es wissen, und er weiß es selbst. Ich gebe dem Wal einen letzten Kuss auf seine fischige Nasenfläche.
Er blickt uns mit traurig halbtoten Augen an, es sind ja auch halblebendige Augen, dies zur Steigerung der Laune, die angesichts sterbender Wale oft ins Melancholische driftet.
Skalpell!
Tupfer!
Nein im Ernst:
Kettensäge!
Der Bauch des Wales öffnet sich und wir blicken und finden: Klar, Blut, klar, Organe, klar, Magen, Leber, Milz, wie bei uns, nur größer. Und auch klar, darauf haben wir uns eingestellt, wegen der Nachrufe auf gestrandete Wale in den Medien: Wir finden, Plastikplanen, klar, Autoreifen, klar, Surfbretter, klar, Bagger, klar, Abrissbirnen, klar, Bügelbretter, klar, Kräne, klar.  CO2, klar, Angsthormone, klar, alte Geldscheine, klar, Gliedmaßen unserer Artgenossen, klar.
Und jetzt – q.e.d. – auch den Rest der Welt: Winzige Zeichen von – man könnte fast sagen, „Hoffnung“, aber das wäre so pathetisch wie übertrieben – also winzige Zeichen von Intaktheit, eine Flaschenpost,  die die Liebe zur Welt in verschwommener Tinte in den Wal hineingespült hat, eine Waldlichtung, mit Tautropfen im Gras und Himbeeren an ihrem Rand und tatsächlichem Wald außenherum, ein Bienenschwarm auch und natürlich ein Imker, und hier und da Neugründungen bisher unbekannter Ökosysteme, außerhalb eines Killerwales so nicht vorstellbar, Symbiosen aus Bobbycars, Rankgewächsen und Dachsen und insgesamt ganz neue Lebensformen, bisschen wie Axolotl, aber eben keine Axolotl, genau so, aber anders.
Steht und schaut und staunt.
Und ihr werdet denken, wir werden einen Gedanken denken, einen Kollektivgedanken, und er wird sein: Wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, und der letzte Fisch gefischt wurde, dann gibt es im inneren des letzten Killerwales immer noch den allerletzten Baum, den allerletzten Fluss und den allerletzten Fisch. Und erst, wenn der letzte Killerwal unfortgepflanzt versiecht ist, erst dann werden wir merken, dass die Welt kein Abflussrohr hat.
Vielleicht.
Das dauert aber noch.
Bestimmt bis 2050.
Mindestens.
Und Killerwale sind jetzt auch nicht so gut erforscht.
Nee.
Da geht was, da geht schon noch was.

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