Anja Gmeinwieser: Donnerstag 07:44 bis 08:00 – 18. Mai 2018

Ich weiß nicht, seit wann genau, aber seit einer Zeit steht vor dem Kiosk an der Pfütze, die nie ganz versiegt, ein Mann und starrt dort in die Pfütze hinein. Dabei hat er eine Mimik aufgesetzt, in der ich mir irgendwas zwischen Gleichgültigkeit und Abscheu erstarrt denke. Schön ist er nicht, der Mann, ich würde sogar sagen, ganz im Gegenteil, und das halte ich nicht allein für ein Geschmacksurteil. Das Gesicht aus Tränensäcken hängt gerade noch über einer jägergrünen Jacke mit ausgebeulten Taschen, eine eigenartig neu wirkende Fotokamera hängt an einer ebenfalls hängenden rechten Schulter – dass sie ihm nicht gestohlen wird. Das Bild, das er abgibt, bestätigt sich selbst noch in seiner viel zu orangenen Mütze und einer Körperhaltung, die ich kaum als solche bezeichnen möchte, es ist eher eine Häufung von Körperabschnitten, aufeinandergehalten von Glück und gutem Wetter.
Erst habe ich gedacht, kann sein diese Lache zeigt den Mann in schöner, kann sein sie schmeichelt seinen Konturen mit Benzinschlieren oder leichtem Wellengang. Aber ich habe nachgesehen: Die Pfütze ist ehrlich. Dazu, das meine ich festgestellt zu haben, sieht der Mann gar nicht sich, sondern nur den Himmel, und mich, wenn ich auf einer anderen Seite der Pfütze stehe. Ich mache das daran fest, dass ich, blicke ich in die Pfütze, nicht mich, sondern nur den Himmel sehe, und ihn.
Seit ich den Mann zum ersten Mal gesehen habe, das war am 4. April, seitdem sehe ich ihn immer. Nach gut einer Woche habe ich mich gefragt, ob er die Pfütze je verlässt. Ich sehe nun zu verschiedenen Uhrzeiten nach. Mittags um 12. Nachts um halb vier. Morgens um viertel vor sieben. Ich habe auch zu absurd unorthodoxen Zeiten nachgesehen, wie 22:37, um ihn beim Abwesendsein zu erwischen. Er ist immer da. Immer wenn ich da bin, mindestens. Ich verlasse zu Unzeiten das Büro, um mich auf den halben Weg nach Hause zu machen, verlasse zu Unzeiten Bett und Wohnung, um mich auf halben Weg ins Büro zu machen, ich habe extra meine dienstägliche Joggingstrecke umverlegt, dehne meine Mittagszigarette extra 5 Minuten länger aus, nur um an der Pfütze vorbeizukommen, die schon so eine Art Fixpunkt in meiner täglichen Routine geworden ist und dort treffe ich immer auf ihn und er würdigt mich keines Blickes. Ich treffe – auch das beobachte ich – auch auf niemanden, der ihn eines Blickes würdigt. Ich blicke mit in die Pfütze, manchmal tue ich das. An schönen Tagen liegt ein gleichmäßigblaues Stück Himmel mit einem unvorteilhaften Männergesicht auf dem Asphalt. Dann wieder jagt eine einzelne Wolke über den Boden. Anderntags, wenn die Pfütze geschrumpft ist, schweben Schmutzflocken wie gestockte Seife am Grund, und darunter zeigt sich schemenhaft ein kleines quadratisches Abflussgitter, das scheinbar seinen Dienst verweigert. Ich wage nicht, ihn anzusprechen, wage das nie. Meine Gedanken kreisen ständig um Pfütze und Mann. Es ist, als wäre die Zeit an dieser Pfütze für diesen Mann angehalten, oder er hat sich im Innehalten selbst angehalten und ist jetzt mit sich, dem Himmel und dem Abflussgitter gefangen. Ist das eine Hölle oder Meditation?
Ich kaufe heute morgen eine Zeitung, ZEIT, 18. Mai. Bilde mir ein, dass die Kioskbesitzerin – sie habe ich nie richtig bemerkt, es ist eine mittelalte, mittelfüllige, mittelgut gekleidete, mittelergraute, mittelgebräunte Dame – mich mit Skepsis mustert. Herrgott, bis jetzt hätte ich noch nicht einmal sagen können, dass es eine Frau ist, die in diesem Kiosk arbeitet. Den Kiosk selbst mag ich. Grün gestrichen, freistehend, jemand hat sich die Mühe gemacht, die Kaffeekarte mit Setzbuchstaben zu machen, ein Kiosk, der sich seiner Kioskhaftigkeit angenehm bewusst ist, ausgezeichneten Kaffee anbietet, um nachfüllbare Kaffeebecher bittet, der Umwelt zuliebe. Die Frau, die so gar nicht zu diesem Kiosk passen will, wird geradezu verschluckt von der Präsenz des bulligen kleinen Baus. Diese Frau also begegnet mir mit Argwohn, statt Freundlichkeit, wie es unser Dienstleisterin-Kundenverhältnis mir eigentlich versprechen würde. Ich geselle mich zu dem Mann an der Pfütze, die einen spiegelverkehrt grauen Himmel zeigt, konzentriere mich aber aus den Winkeln meiner Wahrnehmung auf den Kiosk. Mit der nächsten Kundin tuschelt die Frau und nickt – meine ich – zu mir herüber. Mich befällt es heißkalt. Werde ich meinerseits beobachtet, während ich beobachte?Warum, muss ich mich fragen, hat sie nicht mit mir über ihn getuschelt, er steht da doch die ganze Zeit und starrt in diese Pfütze, dass das meine Faszination, meine Fragen erregt, wird doch wohl selbst dieser Kioskfrau nachvollziehbar sein. Natürlich, sie hat mir voraus, dass sie von ihrem Kiosk aus immer alles beobachten kann, ohne dass es jemand wundert, ohne dass es überhaupt jemand bemerkt, während ich für meine Beobachtungen diesen Ort erst eigens aufsuchen muss. Die Blickachsen sind bestimmt durch die räumlichen Gegebenheiten: Was sich bewegt, auf dem offenen Platz wird gesehen, betrachtet, bespitzelt, wohingegen nicht beachtet wird, was sich hinter einem Wall aus Butterbrezeln und Kreuzworträtseln verschanzt.
Meine Nervosität spitzt sich zu. Ich versuche im Geiste zu sehen, was die Frau sieht: Zwei Männer, einer mit Mütze, Kamera und Tränensäcken, der andere jünger, auch mit Mütze, einem dichten Bart und einem kastigen grünen Rucksack. Vielleicht malt sie sich eine Beziehung zwischen uns aus. Vater und Sohn. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, denkt sie vielleicht, und dass ich auch irgendwann immer da stehen könnte. Sozialarbeiter und Drogensüchtiger. Wobei ich natürlich mich in der Rolle des Sozialarbeiters sehe, selbst in ihren Gedanken, die sicherlich vor keiner Unterstellung halt machen. Vielleicht zieht sie Schlüsse, aus der Ähnlichkeit vom Grün des Rucksacks mit dem Grün der Jacke. Oder zwischen den Formen unserer Mützen. Ich nähere mich, einer plötzlichen Idee folgend, dem Gesicht des Mannes um Anzeichen von Bärtigkeit zu finden. Ich rieche Rasierwasser, wie sonderbar.
Vielleicht ist sie seinen Anblick schon so gewöhnt, dass sie ihn nicht mehr, mich aber sehr wohl wahrnimmt.
Um ihre Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken, beginne ich ein flüsterndes Gespräch mit ihm. Als willkommenes gemeinsamen Thema wähle ich die Pfütze, deren verschiedene Gesichter wir ja beide zu gut kennen, und die heute wegen des trüben Wetters enttäuschend wirkt. Der Mann rührt sich keinen Millimeter, der Blick der Kioskbesitzerin dagegen schärft sich noch mehr. Ich blicke verlegen in die Pfütze. Irgend Vögel flitzen tief über den Himmel, die Wolken verschieben sich millimeterweise zueinander und erfinden neue Töne von Grau. Wenn ich mich weiter vorbeuge, um in mein eigenes Gesicht zu blicken, sehe ich, dass es durch das nach vorn und unten gebeugt sein ein wenig hängt, die Wangen hängen ein wenig vor den Lippen, die Tränensäcke treten stärker hervor, die Augen wirken kleiner. Ein wenig älter sehe ich aus, nicht? Ich sehe so nicht aus, nicht? Es sind die Wellen in der Pfütze, die mein Gesicht so wirken lassen, nicht? Plötzliches Unbehagen: ohne aufzublicken, oder auch nur die Augen zum Spiegelbild des anderen zu bewegen, spüre ich seine Abwesenheit. Wann er gegangen ist, ich könnte es nicht sagen.

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