Zeha Schmidtke: Wohnungstausch


Ein Hausflur. Die Tür zu einer Wohnung öffnet sich knarzend.
Aus der Wohnung: Schlager der 50er. Rocky schafft seinen
schweren Körper aus der Bude. Er ist in schlechter
Verfassung, grunzt und brummt vor sich hin.


ROCKY
Boah – was hab ich denn da für Mucke laufen?
Kommt die denn her? Egal. Meine Fresse, hab
ich einen Schädel. Wo ist denn hier der
Lichtschalter?

Er macht das Flurlicht an und schlurft durch den Flut.

Wollen wir mal gucken, wie es Oma Kowalski
geht. Die hat sich ja gestern auch gut einen
genommen, die alte Fregatte!

Er klingelt an einer zweiten Haustür.

Hoffentlich ist sie schon wach…

Die Tür öffnet sich. Aus dem Wohnungsinneren: Death
Metal.


Na, Oma Kowalski!

OMA
Joi! Junge, Du bist das! Haste schön
ausgeschlafen, Junge?

ROCKY
Sag mal – was hörst denn Du da für Musik,
Oma Kowalski?

OMA
Ich weiß auch nicht. Ich hab heute Morgen das
Radio angemacht, wie immer. Da kam das.

ROCKY
Und was hast denn du da an, Oma? Was ist
denn das für eine Lederkutte?

OMA
Ist ein bisschen zu groß, nicht?

ROCKY
Das ist meine Lederkutte, Oma Kowalsky.

OMA
Ist ein bisschen zu groß, nicht?

ROCKY
Das ist meine Lederkutte, Oma Kowalsky.

OMA
Dafür leierst Du gerade meinen Morgenmantel
aus, Junge. Du siehst ja aus. Wie eine
Riesenwurst mit rosa Blümchen.

ROCKY
Sag mal – kann das sein, dass wir gestern so
voll waren, dass wir unsere Wohnungen
vertauscht haben?

OMA
Ich trink nie mehr Eierlikör auf Wodka.

ROCKY
Hast Du beim letzten Mal aber auch schon
gesagt, Oma.

OMA
Pass auf, mein Junge: Die Oma muß noch ein
bisschen schlafen. Und du gehst auch noch ein
bisschen schlafen. Und nachher komm ich
rüber. Und dann tauschen wir die Wohnungen
wieder zurück.

ROCKY
So machen wir das, Oma Kowalsky. Du bist die
Beste.


Ende.

Welt ohne Gesicht

Spätnachmittag, ein spärlich besuchtes Cafè. Ein Gast kommt von der Toilette zurück, setzt sich auf seinen Platz und bedankt sich mit einem freundlichen Nicken bei dem Menschen am Nebentisch.  

gast

So. Danke. Bin wieder da.

Er greift zu seiner Tasche. Der Mensch am Nebentisch schlägt ihm geschwinde auf die Finger. 

aufpasser

Finger weg von der Tasche!

gast

Wie bitte? 

aufpasser

Der Besitzer hat mich gebeten, auf die Tasche aufzupassen, bis er wieder da ist. Er hat wohl mit solchen Langfingern wie Ihnen gerechnet! 

gast

Ich war das! Ich habe Sie gebeten.

aufpasser

Ihr Gesicht ist mir unbekannt.

gast

Mein Gott! Ich war doch gerade mal drei Minuten auf dem Klo!  

aufpasser

Sie stehlen also nicht nur fremde Taschen. Sie machen sich auch noch über meine Krankheit lustig.

gast

Welche Krankheit bitte?

aufpasser

Prosopagnosie natürlich. Laien sagen Gesichtsblindheit dazu. Ich bin unfähig, die Teile eines Gesichtes zu einem wiedererkennbaren Gesamtbild zusammenzufügen.

gast

So was gibt es doch gar nicht. 

aufpasser

Nur weil Ihnen Allgemeinbildung fehlt, leide ich nicht weniger darunter. Wissen Sie, wie das ist, sich sein ganzes Leben kein einziges Gesicht merken zu können? Weder Ihres noch das eines geliebten Menschen? Wissen Sie, wie das ist? WISSEN SIE DAS?

gast

Warum haben Sie mir das denn nicht vorher gesagt?  

aufpasser

Können Sie sich vielleicht vorstellen, dass ich nicht dauernd über meine Krankheit reden will? – Finger weg von der Tasche!

Er schlägt dem Gast wieder auf die Finger. 

gast

Das gibt es doch nicht! Wir haben doch jetzt gerade geklärt, warum sie mich nicht wiedererkennen.

aufpasser

Wir haben geklärt, dass Sie der Besitzer der Tasche sein KÖNNTEN. Nicht, dass Sie es auf jeden Fall sind.

gast

Natürlich bin ich es!

aufpasser

Oder ein besonders dreister Dieb! Es tut mir leid. Aber es ist ja wohl nicht allein meine Schuld, dass ich Sie nicht wiedererkenne. 

gast

Ja, meine vielleicht, oder was? 

aufpasser

Wessen denn sonst? Normalerweise orientiere ich mich immer an Auffälligkeiten, um jemanden wiederzuerkennen. Ein Tick, ein Kleidungsstück, eine Körperhaltung. Aber Sie sind so was von durchschnittlich. An Ihnen ist ja nichts Wiedererkennbares! Aus prosopagnostischer Sicht sind Sie behindertenfeindlich!  

gast

Sie haben doch einen an der Klatsche!

aufpasser

Ich bin nicht verrückt, ich leide lediglich an einer unheilbaren Krankheit. Das ist ein Unterschied. Auch wenn Ihnen dafür die Sensibilität fehlt. Auch wenn Sie Menschen wie mich am liebsten entmündigen würde! Und wegsperren! Und noch Schlimmeres!

gast

Am liebsten hätte ich meine Tasche. Soll ich Ihnen beschrieben, was drin ist?

aufpasser

Das könnten Zufallstreffer sein. Man hat mir diese Tasche anvertraut. Ich nehme diese Verantwortung ernst. 

gast

Doch wohl etwas zu ernst!

aufpasser

Wissen Sie, wohin wir kommen würden, wenn sich der eine nicht mehr auf den anderen verlassen kann? Wissen Sie, wohin wir dann kommen? (düster) Das wäre kein guter Ort.

gast

Also der Tisch neben Ihnen. 

aufpasser

Ist das wieder einer Ihrer Behindertenwitze? 

gast

Ich mache keine…egal. Wie klären wir das jetzt?

aufpasser

Wir müssen wohl warten, bis alle anderen gegangen sind. Wenn kein anderer die Tasche mitnehmen will – und es findet sich auch kein lebloser Körper auf der Toilette, wer weiß, wie weit Sie bei Ihrem Taschendiebstahl gehen – dann muß es wohl doch Ihre sein.

gast

Das sind ja noch fast acht Stunden!

aufpasser

Wenn Sie wirklich im Recht sind, wird die Zeit wie im Flug vergehen.

gast

Na prima. Dann hol ich mir mal was zum Lesen.

Der Gast holt sich eine Zeitung und will sich wieder setzen.

aufpasser

Na! Da sitzt schon jemand! 

Ende.

Zeha Schmidtke: 1.10. Gärtnervater

Der Gemüsehändler fegt den Boden. Die Türglocke klingelt.

Händler
Oh, die Türglocke.

Kunde
Guten Tag. Folgendes: Ich will heute Abend richtig lecker kochen. Wir sind zu fünft. Da hätte ich gerne frischen Rosenkohl, möglichst kleine Köpfchen, und für die Vorspeise sechs mittelgroße Artischocken. 

Händler
Es tut mir leid. 

Kunde
Keine Artischocken? 

Händler
Es tut mir leid: So ein Laden, wie Sie ihn suchen, ist das hier nicht.

Kunde
Wieso? Draußen steht doch „Gemüsehandlung“. Und ich will Gemüse.

Händler
Nein. Sie wollen arrogantes Modegrünzeug. Und das gibt es hier nicht.

Kunde
Das ist ein Scherz.

Händler
Ein Scherz ist es, wie sich Ihre Artischocke benimmt, seitdem sie zur Arzneipflanze des Jahres gewählt wurde.

Kunde
Ja, Mensch. Dieses bedeutende gesellschaftliche Ereignis ist komplett an mir vorbeigerauscht.

Händler
Wie sich die Artischocke seitdem zum floristischen Dekorationselement aufbläst! Sich als Diätmittel und Wellness-Tee den Snobs und Neureichen an den Hals wirft! Dabei ist sie im Grunde ihres Artischockenherzens nichts anderes als ein Distelgewächs! 

Kunde
Aber Rosenkohl werden Sie doch haben.

Händler
Warum nicht gleich Königin-Der-Nacht-Kohl? Wie dekadent muss eine Pflanze sein, um einen zyklischen Blütenaufbau auszubilden!? 

Kunde
Das fragen Sie am besten den Rosenkohl selbst.

Händler
Ich frage aber Sie! Der Rosenkohl wächst bedecktsamig. Er schämt sich seiner Samen! Meinen Sie auch, man müsse sich seiner Natur schämen? 

Kunde
Nee, da gehen der Rosenkohl und ich getrennte Wege. Apropos gehen.

Händler
Dann ist ja alles klar. Hier, bitte. 

Er präsentiert dem Kunden ein paar welke Blätter schmutziges Grün. 

Kunde
Was ist das jetzt?

Händler
Ehrlicher, nahrhafter Baumspinat. Er hat sich nie in den Vordergrund gedrängt. Ein Model in diesen Schicki-Micki-Kochzeitschriften wollte er nie werden. Er bleibt bescheiden und tut seine Arbeit.

Kunde
Sieht ja schon auch aus wie Unkraut.

Händler
Kommt es denn heute wirklich nur auf das Aussehen an? Sagen Sie mir: Zählen die inneren Werte noch etwas?

Kunde
Doch, natürlich! Wie ist er denn so von innen, der Kollege Baumspinat?

Händler
Er hat ein violettes Herz. Violett ist die Farbe der Frömmigkeit und der Kunst! Wegen diesem kleinen Kerl mache ich das Ganze hier überhaupt nur. Ich bin froh, dass er in Ihre Hände kommt. Für 12,70. 

Kunde
Ja, ich bin auch froh. Dass ich jetzt nach Hause geh. Mit ihm.

Der Kunde zahlt und verlässt den Laden.

Händler
Hörst Du mich, Vater? Hast Du mir nicht immer gesagt, ich würde nie zum Gemüsehändler taugen? Ich kann sogar Unkraut verkaufen, Vater! 12,70 für Unkraut! Und morgen, Vater, verkaufe ich einen Baumstrunk!

Zeha Schmidtke – Unkenrufe

Nachts in der Gartenkolonie. Grillen zirpen. Ein paar wirklich laute Unken dominieren die Stimmung. Ein später Spaziergänger wird auf seinem Gang durch die Gemeinde von einem Nachbarn angesprochen.

nachbar

Nabend.

spaziergänger

Guten Abend.

nachbar

Na? Können Sie auch nicht schlafen bei dem Lärm, ne? Wissen Sie, was das ist? Wissen Sie, was das ist? Das ist vom Nachbarn hier.

spaziergänger

Ach.

nachbar

Ich sag immer: Gartenteich ist ne schöne Sache. Gartenteich haben wir alle. Aber das reicht dem Nachbarn ja nicht, er muß ja immer ne Extrawurst haben. „Gartenteich haben sie alle“, hat er sich wahrscheinlich gedacht: „Ich brauch was spezielles.“ Manche ticken ja so.

spaziergänger

Ja, ja.

nachbar

Er brauchte was Exklusives. Diese fetten Frösche. Aus dem Import. Solche Kawenzmänner sind das! Und das geht jetzt hier die ganze Nacht.

spaziergänger

Ach, so.

nachbar

Tun Sie mir doch mal einen Gefallen. Ich hab bisschen Probleme mit den Gelenken. Können Sie mal hier…einmal hier kurz drücken.

spaziergänger

Hier?

nachbar

Ja, ja.

Der Spaziergänger drückt auf den Knopf. Eine Explosion zerreißt die Nacht. Die Unken unken nicht mehr.

Der Nachbar lacht sich kaputt.

nachbar

Da fliegen sie! Die fetten Frösche!

Der Froschgarten brennt. Ein paar Planken fallen zu Boden.

nachbar

Jetzt sind sie ruhig. Die haben Sie wirklich sauber ruhig gekriegt.

Aus der Ferne: herannahende Sirenen: Polizei und Feuerwehr.

spaziergänger

Wieso ich?

nachbar

Ich muss dann mal los. Ihnen alles Gute!

Die Sirenen kommen näher.

Ende.

Zeha Schmidtke: Es kommt ein Wetter

Achtung, Achtung. Hier ist das Letzte Deutsche Fernsehen mit einer aktuellen Wetterwarnung.

In großen Regionen des sozialen Miteinanders kommt es in Bälde zu extremen Verwirbelungen und höchst ungemütlichen Turbulenzen. Besonders betroffen sind Menschen ohne Rettungsschirm und Systemrelevanz. Die Nichtoptimierten und Unverwertbaren. Ihr irrlichternde Geister, Ihr Schlendriane, Du spielender Mensch: Ihr müsst vermehrt mit Niederschlägen rechnen.

Denn, ja, Lockdown. Ja, Krise, Du weißt ja selber, was das heißt: Krise heißt immer Krisengewinnler. Ihre Karawane zieht weiter, es muss ja voran gehen. Nun sind sie schon so weit weg, die Gewinnler, dass sie unsere Rufe gar nicht mehr hören könnten, selbst wenn sie wollten.

Und zu den Verlorenen spricht die Stimme, die noch jede Krise schadlos übersteht: Die Stimme der Abwicklung und Verwaltung. „Jetzt erst mal keine Sperenzien mehr“, spricht sie, als ob ihre Sprechenden jemals auch nur eine Sperenzie selbst erdacht hätten. „Verrücktheiten schön und gut. Ich trage privat durchaus mal einen frechen Hut. Aber dann muss auch gut sein.“

Und nun verwaltet und wickelt sie ab, so die Agentur für Arbeit: Transitionskurse für alle freien Kunstschaffenden. Umschulungen. Oboisten zu Lageristen. Deine Poesie ist erfolglos? Der Lieferdienst mit den grellbunten Taschen ist es nicht. Denn merke: Der gestalterische Geist gilt uns in unseren schmalen Breitengraden als nettes Hobby. Mit Stolz hingegen erfüllt uns unser Billiglohnsektor. Warum stirbt die SPD…eigentlich so langsam? Zu Staub sollt Ihr werden, weil Ihr es Euch verdient habt. Aus Eurem Kadaver soll wahrhaft links ein neues Blümelein sprießen, und zur linken Volkspartei soll es erblühen, Hallojulia und Hosihanna. Und nicht Annalena, ihre Partei war auch dabei. Trau, schau wem.

Und besondere Obacht, spielender Mensch. Schutz vor dem rauen Winde findest Du nimmermehr, wie noch ehemals gedacht, auf den Inseln und in den stehenden Festen der Kunst und Kultur. Denn auch dort haben die Eingesessenen und Gutgeförderten die Wetterfähnchen nach dem Wind gerichtet und sich auf ihre Fahnen die Steuerbescheide der letzten Jahre geschrieben: „Bewertet unser Malen nach Zahlen. Wir sind doch auch systemrelevant.“ Wohl wissend, dass sie damit gleichermaßen zum Ausdruck bringen: „Es gibt also Menschen, die systemirrelevant sind, denn sonst müssten wir das ja nicht betonen.“

Nu, ja. Wenn ich dort einen Sitz besäße, würde ich mich womöglich auch so sehr an seine Lehne klammern. Gleichwohl: Wenn es uns zur Kultur geworden ist, dieRelevanz der Menschen in Ja und Nein zu scheiden, dann werden wir wohl erst einmal kulturlos leben müssen, um zur Kunst zurückzufinden. Oh ja, da zieht etwas auf.

Nun machte Kunst aber schon immer Arbeit, bevor sie schön wird. Und dies ist immerhin ein Klimawandel, auf dem wir Einfluß haben. Also, Ihr spielenden Menschen aller Couleur und jedweder Geschlechter! Du prachtvoller Homo Ludens dieser und jeder Welt! Ihr, meine Liebsten! Salben wir uns mit Zuversicht. Lasst uns zärtlich zueinander sein. Auf unser Wohl in großen Schlucken.

Der kommende Sturm geht gegen uns. Doch wie es immer und bei jedem Wetter ist: Es dauert nur ein Weilchen. Und am Ende noch des weltenzerbrechendsten Wolkenbruchs wartet ein Regenbogen. Wir werden sehen. Wenn wir uns vorher nicht vom Blitz erschlagen lassen.

Zeha Schmidtke: Wildnis

Ein milder Dienstagnachmittag. Auf der schmalen Straße vor dem berankten Ziergartenzaun pickt eine Elster an etwas frisch Überfahrenem.

Hinter dem Zaun ist der Kinderspielplatz heute kaum besucht. Zwei Eltern schaukeln ihr korpulentes Kind mit gemeinsamer Kraft. Eine weitere Mutter hat sich auf die Holzumrandung des Sandkastens gesetzt und beobachtet glücklich seinen Säugling, der im Sand liegt und mit den Ärmchen rudert. 

Zu ihr setzt sich ein drahtiger Fremder und beginnt mit leiser Stimme grußlos dieses Gespräch.  

– Ist das da Ihrer? 

– (zustimmend) Das ist Paul.

– Der kann ja gar nix.

– Wie bitte?

– Liegt im Sand und kann kaum den Kopf oben halten. Erbärmlich.

– Hallo? Er ist gerade mal fünf Monate alt!

– In der Wildnis wär er keine drei Tage alt geworden. 

– Aber sonst geht es Ihnen gut, ja? 

– Sie sollten sich lieber fragen, ob das gut ist, was Sie da tun. Sie erziehen Ihr Kind zu einer Beute!

– Ich pass schon auf, keine Sorge.

– Das Giraffenjunge wird bereits wenige Minuten nach seiner Geburt von seiner Mutter zum Laufen gezwungen. 

– Das kann man doch nicht vergleichen!

– Warum? Sind Sie dümmer als eine Giraffe?

– Werden Sie mal nicht pampig. Es reicht langsam!

– Sehen Sie sich die schwächliche Frucht Ihrer Lenden doch an! Wenn sich ein Raubtier mit offenem Rachen auf ihn stürzen würde, dann könnte er nicht einmal den Kopf heben, um seinen Henker zu betrachten!

– Wissen Sie: Raubtiere sind auf Kinderspielplätzen dann doch eher selten.

– Wie lang will Ihr Kind noch warten? Die Welt wartet nicht auf Ihr Kind! 

– Und Sie sind schon als Löwenbändiger auf die Welt gekommen, oder was?

– Ich war mal genau so wie Ihr kleiner Schwächling da. Aber widrige Umstände haben mich früh auf eigenen Beinen stehen lassen. 

– Tja. Wir haben halt alle unser Schicksal…

– Die Eltern von einem Lastwagen gerissen. Ich musste mich schnell allein behaupten. 

– Das ist traurig. Aber Paul ist trotzdem noch ein Baby! Wenn er in Ihrem Alter ist, dann wird er auch für sich sorgen können.

– So schnell soll aus diesem hilflosen Wurm ein überlebensfähiger Krieger werden? Sind Sie sich da sicher?

– Natürlich bin ich mir da sicher.

– Was glauben Sie: Wie alt bin ich?

– Ist mir doch egal. Mitte, Ende Dreißig. Die Ecke.

– Ich bin auf den Tag genau sieben Jahre und drei Wochen alt.

– Was?

– Ich sagte doch, dass mich die Umstände früh auf eigenen Beinen haben stehen lassen.

– Quatsch.

– Hier mein Geburtsarmbändchen mit dem Datum. Das Einzige, was mir blieb. Wenn Sie Ihrem Sohn einen Gefallen tun wollen, dann stehen Sie jetzt auf und lassen ihn hier zurück. Sonst lernt er es nie.

– Das ist doch gefälscht…

– Sehen Sie! Er isst Sand! Er beginnt bereits, für sich selber zu sorgen! Sie sind es, die ihn bremsen. Gehen Sie! GEHEN SIE!

Zeha Schmidtke: Ein Tag vor dem Abend

Ich lief durch die Felder und tollte
und streichelte zart einen Baum 
er rauschte mir zu, dass er’s wollte 
früh morgens und halb noch im Traum 

Dann biss ich mich in fremdes Leben
und liebte und wollte doch fort
wer liebt, muss die Freiheit aufgeben
gebunden an Mensch und an Ort

Wir schworen bis mittags noch Schwüre   
und gaben der Wahrheit dann Laut:
wär besser, wenn ich jetzt führe
ans Meer oder aus meiner Haut. 

Ich ging, kreuz die Stadt, ihre Knoten   
begegne dem Wahn und sei’m Sinn 
sprech mit Lebenden, spreche mit Toten. 
spür, wie müd und wie wach ich doch bin

Der Abend, der Körper braucht Ruhe
Kehre ein, find als Gast einen Platz
warmer Ort und ich öffne die Schuhe
auf dem Schoß schnurrt vom Gastwirt die Katz.

Zartheit, Suche, Flucht und Verwirrung
Bot mein Tag. Als ich von ihm sprach 
zu dir. Sitznachbar. Zufallsbegegnung, 
da fragst du, was ich eigentlich mach.

Denn da war gar nix dabei, was sich rechnet
und man muss auch was tun, was sich trägt
gern gehaltvoll, solang es Gehalt gibt
das dann das, was man schafft, auch belegt
„Komm, ich kauf dir was ab“, lacht und brüllt er
von der Lyrik, da fehlt es ihm eh 
und dann wäre doch alles erfüllter:
seine Ehe und mein Portemonnaie
Einen Tag, nein, nichts halbes, wir tauschen 
Wolkenkuckucks- und Eigenheim ganz
Er wird mit meinen Geistern plauschen
und ich leb einen Tag in Konstanz.

Und da lachen wir beide so traurig
wer ist Abel und wer ist jetzt Kain?
Katze leckt mir die Hand, doch die brauch ich  
Außer: „Zahlen“ fällt mir nichts mehr ein.

Zeha Schmidtke: Ein Vogel frei

Beim ersten Knall bleiben die Dohlen sitzen. Die schmächtige ganz hinten links flattert kurz einen verschreckten Halbstart; die Ruhe des übrigen Schwarms bringt sie zurück auf den Boden. Aufgeregter als die anderen bleibt sie gleichwohl, sie pickt und scharrt und legt unter dem spinnwebdünnen Raureifglitzer das Schwarz der Ackerkrume frei.

Die nächsten Schüsse fallen ineinander, Maschinengrummel tönt dazu. Fehlzündungen und ein alter Motor sind das, von einem Schießauto, einem Scheißauto. Mit fettigem Orgeln schiebt es sich aus der sanften Kurve in Sicht, viel zu viel Lärm für das bisschen Tempo und Steigung.

Darinnen sitzt fast niemand. Vorn links so gerade mal einer, kleiner Leib inmitten übermäßig großer Dose, wie die einzig verschmähte Sardelle in einer leergefressenen Familienpackung. Das Fischlein immerhin lenkt den ganzen Wagen, Keilkissen auf dem Sitz, damit es ordentlich über das Lenkrad ragt. Der dritte Gang ist ein Problem, länger schon. Das ist kein Schalten mehr, das ist ein blindes Schieben in führungsloses Gallert, bis sich der Gang mit knarzendem Kranklaut so irgendwie noch einhakt. Jetzt, in der Kurve, dauert es fast zu lang, der Motor versäuft ums Haar, derweil er eine stinkendblaue Schmodderwolke aus dem Auspuff grunzt.

Das treibt die Dohlen nun doch in die Luft. Mit schwerem Krächz machen sie sich vom ausgesuchten Acker; der Schwarm steigt auf und ordnet sich und zieht dann feldereinwärts ab. Nur die besagte eine, die allererstens flüchten wollte, ist wieder anders unterwegs. Statt sich da einfach einzureihen, flattert sie kopflos schnell drauflos, nimmt parallel zur Straße Flugfahrt auf und schießt in blödem Bogen so nach rechts, dass es sie direkt auf die Windschutzscheibe saugt. Ein weicher Knall. Dann ist sie auch schon wieder weg. Die Scheibe ist noch ganz, ein wenig Federfett hat das Glas am Prallpunkt angeschmiert.

Die alte Karre hoppelt in den Stand. Die Tür knarzt auf, der Steuermann heraus, hektisch zurück – der Schlüssel! – wieder raus, jetzt hampelt er den Straßenrand entlang. Da liegt das bisschen Vogelkörper, das eigentlich noch brauchbar wirkt. Nur ein paar Federn staken schief in Hals und Nacken, als wären sie nicht seine.

Der kleine Mann gibt Laut; er will jetzt etwas sagen. Dass Dohlen doch angeblich solche schlauen Tiere seien. Dass sowas hier ja wohl niemals passieren darf. Nur sprechen kann er gar nicht mehr. Rotz und Verzweiflung schießen mit wilder Kraft aus allen seinen Poren, bis die Gelenke und der letzte Wille wachsweich werden und es ihn fast noch auf den Dohlenleichnam runterknickt.

Wenn wer von uns dabei gewesen wär – Du oder ich – und hätt ihn trösten wollen sollen müssen – es würde uns jetzt langsam reichen. Hör endlich auf, du feuchter Schluchz.

Er ist allein. Er lässt es laufen, bis zum Versiegen, vier Autostunden weg von seiner Hause in Berlin. Denn das ist auch das Schlimmste: Es gibt ja nicht mal einen Grund für seine Reise. Nur, weil er wieder mal nicht schlafen konnte. Statt sich zu wälzen, fährt er lieber, nächtelang. Die paar Penunsen, die er hat, tauscht er dann ein für Kraftstoff und Bewegung. Manchmal parkt er noch irgendwo und schläft im Fond. Das Häuflein, das nicht Elend heißt und doch kein Fisch ist, sondern Mensch. Der es so gern bis hierhin nicht gebracht hätt, an einem Donnerstag, um 05 Uhr 43.

Da geht die Sonne auf.

Zeha Schmidtke: Das Märchen von der Ameise und der Grille und ihrem gemeinsamen Feierabendpilz

Eine Grille hatte den ganzen Sommer über musiziert, während die Ameise für den Winter Getreide sammelte.

In Wahrheit nun taten es beide längst schon im Gefühl des zeitlos Immergleichen. Zu jeder Zeit und an allen Orten waren sie verfügbar für Königin und Publikum. Die Ameise durfte ihre Königin sogar duzen und fuhr mit ihr auf teambildende Erlebniswochenenden. Die Grille fiedelte auf den Bällen ihrer vermögenden Fans lustig zum Buffet. Selbst wenn sie insgeheim so manches Mal alledem schrecklich müde waren: Solange sie gebraucht wurden, konnten sie nicht untergehen im Mahlstrom des Weltengewimmels. So war ihr Glaube, und er stand fest.

Da aber kam ein Virus in die Welt, angsteinflößend unbekannt. Bilder von Toten und atemlos Kranken machten die Runde, und Sorge fuhr in alle Glieder. Das Leben blieb fortan daheim. Die belebten Plätze waren’s nimmermehr. Selbst im Ameisenhaufen wimmelte jede nurmehr noch für sich, allein in ihrer kleinsten Zelle. Und das Rad des Alltags, das niemals stillgestanden hatte, kam so schnell zur Ruh, dass jede Kreatur sich ungläubig die Augen rieb. Hatte es nicht immer geheißen, dass sein Schwung auch die Welt in Drehung hielt? Zum ersten Mal herrschte die Stille, und sie summte in den Ohren, als wären alle Nashornkäfer zugleich auf Paarungsflug.

„Nun also“, sprachen Grille und Ameise gemeinsam, „ein Neues ist ja stets auch Chance. Lasst uns fürs Erste Vorräte ausgeben; wir sind hier ja beileibe nicht arm.“ Als nun aber die Säcke zu den Wartenden gebracht wurden, da blieb’s doch wieder recht beim Alten: Wer vorher schon sehr viel besaß hatte, erhielt nun viel zum Ausgleich. Wer vorher aber wenig hatte, dem wurde nun noch weniger zuteil. „So hat es für alle einen Verzicht“, erklärten die Ameisen von der Ebene Verteilung, „und so sind wir es auch gewohnt. Wir wollen ja schließlich, dass es weitergeht.“ Da kam über die kleinste unter den Grillen ein bergegroßer Zorn. Sie hatte stets allein musiziert, in den allerkleinsten Ackerfurchen, wo immer man sie nur ließ, doch stets im Geiste für alle. Und alle wussten das, dessen war sie gewiss. Doch nun hatte man ihr aus dem Vorrat grad mal einen freudlosen Klumpen Hartz zum Mümmeln zugedacht. „Ging Euch Euer täglich Tun im Takte meiner Melodien nicht leichter von der Hand?“, fragte sie mit bitterer Zunge. „Und habt Ihr Euch nicht meine Verse vorgetragen, wenn Ihr von Liebe spracht? Und wenn mein Lied dann lief und ohne jeden Cent, spracht Ihr dann nicht: Sie spielen unser Lied?“ „Jawohl“, riefen da alle Grillen zum ersten Mal gemeinsam, „wir füllen Eure freie Zeit rund um die Bullshit-Jobs mit Poesie und Rausch. Mit Hoffnung, Sehnsucht, Lebenssinn. Wenn wir nicht wären, hättet Ihr längst vergessen, dass es das Streben nach dem Schöneren gibt. Wo hat es noch Momente, die nicht zweckgebunden sind? Nur in der Kunst und nicht in Eurem Alltagsleben! Und ist Euch das so wenig wert? Wollt Ihr all das schlicht verlieren? Es wird ein böses Ende nehmen, wo es den Freigeist bräuchte und doch die Krämerseele federführt.“

Diese Worte aber weckten in der mittelmäßigsten der Ameisen eine unbezähmbar speiende Glutwut: „Warum denn sollen wir Eure Künste höher preisen, als Ihr es selber tut? Ihr stellt Euch doch auf jedes Brett und unter jedes Licht, wenn man Euch nur ein Publikum verspricht. Und als das Virus kam, habt Ihr da nicht höchstselbst all Eure Kunst gleich online preisgegeben, bevor man auch nur Lockdown sagen konnte?“ – „Und gab es Elend vielleicht früher nicht?!“, führten es die anderen Ameisen eifrig weiter. „Gab’s vorher keine, unter Euch und unter uns, die still und heimlich längst schon nur am Krümel Hartze nagten? Habt Ihr die aufgefangen? In ebendieser Solidarität, nach der Ihr jetzt krakeelt, da es nun auch die Lauten von Euch trifft? Freilich, der Mensch ist so, dass ihm erst eignes Elend als unerträglich scheint. Doch sagt Ihr ja, dass ihn die Kunst verändern kann. Wo sieht man das bei Euch? Was ist denn die Lobpreisung Eurer hehren Kunst noch anderes als Preisen heiliger Ablassware? Spirituelle Krämerseelen, die Ihr seid, habt Ihr an dieser Welt genau so mitgewirkt.“      

Wild fuchtelten Insektenbeinchen durch die Luft und vor den starren Augenpaaren. Ameisenpiss schoss durch die Luft, man hörte Grillenzangen schnappen, und Kampfeshass nahm schnell Gestalt. An Mindestabstand dachte niemand mehr.

Da trat ein seltsam Wesen zwischen sie in ihre Mitte, von platter Art in der Gestalt und sprach über das heiße Schwirren: „Hört, hört. Ihr kennt mich gut. Mein Name ist in aller Munde. Ich bin die Wanze Systemrele und ohne Neigung zu einer Partei. Drum lasst Ihr mich im Ring hier richten. Für meine Arbeit will ich nichts. Es reicht mir, dass Ihr aufeinander schlagt. Denn so erkennt Ihr an, dass es auch weiterhin so bleibt. Und ich mich an Euch laben kann, was Wanzen nunmal tun, hurra, die Runde Eins.“ Und dann, schon gar so kurz vor Zwölf, dass es niemand mehr glauben könnte, wenn das hier nicht ein Märchen wär, da kam Moral in die Geschicht’ – und zwar vom Grunde her. Der Boden öffnet sich und spricht: „Das, was Ihr Boden nennt, auf dem ihr kraucht, bin alles ich. Ich bin der Pilz, der größte, ält’ste Organismus hier, ich muss jetzt schließlich sprechen. Weil Ihr nun nicht erkennen könnt, dass Euer Unterschied Ergänzung heißt. Dass es das Spiel und seine Wartung braucht. Das Daheim und das Wolkenkuckucksheim. Die Wild- und die Geborgenheit. Ameisengrillen in der Welt, mit ernstem Spaß. Sonst wird das nix.

Nun hatte ihr ja so viel Zeit, Ihr Evolutionierten, dass es heißt: Es ist schon nix geworden. Mein fungizider Vorschlag also, gutes Ende, das noch kommen kann: Ihr macht nun einfach alle weiter. Oder auch nicht. Macht’s, wie Ihr wollt. Und ich wachse gemächlich drüber. Und füge uns zusammen. Zu der Gemeinsamkeit, die Ihr alleine nicht schafftet. Das tut nicht weh und kostet nichts.“

Und seitdem ist es also so. Wir machen weiter oder nicht. Und Pilz gibt uns die Sporen. Denn jener Virus, vom dem hier zu sprechen war, das ist nicht dieser aus dem Hier und Jetzt. Nein, die Geschichte ist schon eine Weile her, wie jedes Märchen. Und heut ist längst schon mittendrin im Einigwerden. Du kannst den Hautpilz gern noch einmal niedersalben, auch am Fuß. Auf die paar Tage kommt’s nicht an.

So gibt es dann zum guten Schluß, zum Feierabend Pilz für Dich, mich, jede, jeden. Und wenn wir nicht gestorben sind, sind wir dann endlich alle einig eins.