Welt ohne Gesicht

Spätnachmittag, ein spärlich besuchtes Cafè. Ein Gast kommt von der Toilette zurück, setzt sich auf seinen Platz und bedankt sich mit einem freundlichen Nicken bei dem Menschen am Nebentisch.  

gast

So. Danke. Bin wieder da.

Er greift zu seiner Tasche. Der Mensch am Nebentisch schlägt ihm geschwinde auf die Finger. 

aufpasser

Finger weg von der Tasche!

gast

Wie bitte? 

aufpasser

Der Besitzer hat mich gebeten, auf die Tasche aufzupassen, bis er wieder da ist. Er hat wohl mit solchen Langfingern wie Ihnen gerechnet! 

gast

Ich war das! Ich habe Sie gebeten.

aufpasser

Ihr Gesicht ist mir unbekannt.

gast

Mein Gott! Ich war doch gerade mal drei Minuten auf dem Klo!  

aufpasser

Sie stehlen also nicht nur fremde Taschen. Sie machen sich auch noch über meine Krankheit lustig.

gast

Welche Krankheit bitte?

aufpasser

Prosopagnosie natürlich. Laien sagen Gesichtsblindheit dazu. Ich bin unfähig, die Teile eines Gesichtes zu einem wiedererkennbaren Gesamtbild zusammenzufügen.

gast

So was gibt es doch gar nicht. 

aufpasser

Nur weil Ihnen Allgemeinbildung fehlt, leide ich nicht weniger darunter. Wissen Sie, wie das ist, sich sein ganzes Leben kein einziges Gesicht merken zu können? Weder Ihres noch das eines geliebten Menschen? Wissen Sie, wie das ist? WISSEN SIE DAS?

gast

Warum haben Sie mir das denn nicht vorher gesagt?  

aufpasser

Können Sie sich vielleicht vorstellen, dass ich nicht dauernd über meine Krankheit reden will? – Finger weg von der Tasche!

Er schlägt dem Gast wieder auf die Finger. 

gast

Das gibt es doch nicht! Wir haben doch jetzt gerade geklärt, warum sie mich nicht wiedererkennen.

aufpasser

Wir haben geklärt, dass Sie der Besitzer der Tasche sein KÖNNTEN. Nicht, dass Sie es auf jeden Fall sind.

gast

Natürlich bin ich es!

aufpasser

Oder ein besonders dreister Dieb! Es tut mir leid. Aber es ist ja wohl nicht allein meine Schuld, dass ich Sie nicht wiedererkenne. 

gast

Ja, meine vielleicht, oder was? 

aufpasser

Wessen denn sonst? Normalerweise orientiere ich mich immer an Auffälligkeiten, um jemanden wiederzuerkennen. Ein Tick, ein Kleidungsstück, eine Körperhaltung. Aber Sie sind so was von durchschnittlich. An Ihnen ist ja nichts Wiedererkennbares! Aus prosopagnostischer Sicht sind Sie behindertenfeindlich!  

gast

Sie haben doch einen an der Klatsche!

aufpasser

Ich bin nicht verrückt, ich leide lediglich an einer unheilbaren Krankheit. Das ist ein Unterschied. Auch wenn Ihnen dafür die Sensibilität fehlt. Auch wenn Sie Menschen wie mich am liebsten entmündigen würde! Und wegsperren! Und noch Schlimmeres!

gast

Am liebsten hätte ich meine Tasche. Soll ich Ihnen beschrieben, was drin ist?

aufpasser

Das könnten Zufallstreffer sein. Man hat mir diese Tasche anvertraut. Ich nehme diese Verantwortung ernst. 

gast

Doch wohl etwas zu ernst!

aufpasser

Wissen Sie, wohin wir kommen würden, wenn sich der eine nicht mehr auf den anderen verlassen kann? Wissen Sie, wohin wir dann kommen? (düster) Das wäre kein guter Ort.

gast

Also der Tisch neben Ihnen. 

aufpasser

Ist das wieder einer Ihrer Behindertenwitze? 

gast

Ich mache keine…egal. Wie klären wir das jetzt?

aufpasser

Wir müssen wohl warten, bis alle anderen gegangen sind. Wenn kein anderer die Tasche mitnehmen will – und es findet sich auch kein lebloser Körper auf der Toilette, wer weiß, wie weit Sie bei Ihrem Taschendiebstahl gehen – dann muß es wohl doch Ihre sein.

gast

Das sind ja noch fast acht Stunden!

aufpasser

Wenn Sie wirklich im Recht sind, wird die Zeit wie im Flug vergehen.

gast

Na prima. Dann hol ich mir mal was zum Lesen.

Der Gast holt sich eine Zeitung und will sich wieder setzen.

aufpasser

Na! Da sitzt schon jemand! 

Ende.