Theobald Fuchs: Fliegen

Ich liebe es zu fliegen. Richtig zu fliegen, frei in der Luft, ohne Geräte, ohne Maschinen. Nur mit der Kraft meiner Arme. Dabei fühle ich mich sicher, da ich ja selbst entscheide, in welche Höhe ich steige und wohin ich segele. Da wo ich selbst hinkomme, komme ich auch wieder heil heraus und zurück und herunter. Das ist die alte Regel. Der ich vertraue. Deswegen hat eine Katze Schnurrhaare, damit sie spürt, ob sie aus einem Loch wieder herauskommt, ehe sie hinein kriecht.

Meine Mutter war dagegen, dass ich flog. Strikt dagegen. Sie wollte, dass ich etwas Gescheites lerne. Sie hatte wohl zu viele üble Geschichten gehört von Kindern, die ihren Eltern einfach davonflogen. Mein Vater hatte keine Angst deswegen, er unterstützte mich, zeigte mir auch ein paar gute Tricks wie am Rücken fliegen und in einer Wolke die Luft anhalten, damit einen keiner darin entdecken kann. Ich flog ja auch nicht einfach fort. Als es irgendwann soweit war, verabschiedete ich mich ordentlich wie es sich gehörte und sprang vom Fensterbrett aus der Küche. Meine Mutter weinte, ihr nasses Taschentuch flatterte im Wind, dabei flog ich nur ans Ende der Straße, wo die Schule stand.

Die Schule an sich war ganz o.k. Wir lernten dies und das, doch was mir nicht gefiel: es gab haufenweise unerfüllte Vorstellungen, nicht eintreffende Erwartungen, ungültige Versprechen.

»Gleich fliegst du raus!« sagten mir die Lehrer ein ums andere Mal.

Darauf freute ich mich immer, doch der Lehrer war ein Lügner. Große Enttäuschung. Zu Fuß verließ ich das Klassenzimmer, niemand beschwerte sich. Da war etwas versprochen worden, aber nicht gehalten.

Ich probierte es immer wieder, bis ich die Schule abgeschlossen hatte. Mit drei Schlössern, deren Schlüssel ich in einer Erdspalte versenkte. Und Wasser hinterher kippte. Heute ist dort das tote Meer. Das Salz darin kommt von den Tränen all der Schüler, die enttäuscht wurden. Von sich selbst, von den Lehrerinnen und Lehrern, vom Unmöglichen als solchem, das leider echt knorzengroß ist.

Doch was hülfe mehr gegen Kummer als Bewegung in der frischen Luft? Es gibt kein Problem, das sich nicht mit Fliegen lösen ließe!

Das Schönste aber ist, im Flugzeug zu fliegen. Während die anderen in ihre Sitze festgeschnallt dasitzen und Angst haben, dass die Maschine am Boden zerschellt.

Verkrampft und bleich klammern sie sich an die Armlehnen, stoßweise und gepresst atmen sie die dünne Luft in der Kabine. Nur ich bin entspannt, nur mich stört es nicht, wenn die Hände der Stewards und Stewardessen vor Angst zittern und sie den Gin Tonic verschütten und ihnen die Tränen über’s Gesicht laufen, während sie dir einen schönen Flug wünschen. Tränen, die sie um sich selbst weinen, dass sie so dumm gewesen waren und nichts Gescheites gelernt haben, etwas, worauf ihre Mütter endlos gedrängt hatten, sondern dass sie diesen Beruf ergriffen haben, der nichts anderes als ein Selbstmordkommando ist.

Ich gleite derweil sanft und entspannt über den Köpfen der Menschen von vorn bis zum Heck der Maschine und wieder zurück zur Tür, hinter der Pilot und Pilotin vor Angst Blut schwitzen und mit verkrampften Händen beten, was das Zeug hält. Immer auf und ab fliege ich, ganz ruhig, ohne Furcht. Bis wir zusammen landen, der große Vogel und ich.

Wenn ich es nicht könnte, wenn ich nicht fliegen könnte, überall hin, wo ich will, und ganz besonders im Flugzeug – ich glaube, ich hätte dann auch wie alle anderen höllische Flugangst… behauptet zumindest meine Therapeutin. Oh! Jetzt geht’s los. Hören Sie auch dieses Geräusch? Na, dieses sirrende Geräusch, das da aus dem linken Motor kommt? Ganz klar zu hören ist das, da stimmt doch etwas nicht! Ogottogottogott… wir stürzen sicher ab!

Theobald Fuchs: Tapezierer – Gefährder oder gefährdet, so viel ist unklar!

Wie gefährlich sind Tapezierer? Ist das massenhafte Auftreten von Tapezieren wirklich ein Zeichen für eine florierende Ökonische? Oder eher der Vorbote, dass die Menschen die Freundlichkeit verlernt haben?  

Aus aktuellem Anlass fragen wir: Wie gefährdet sind Tapezierer wirklich?  

Stimmt es, dass sie nicht mehr wissen wie man lächelt und daher alles »hinter die Tapete kehren« wollen? Fragezeichen…?  

Aber nein: wie ein Neuseeländisches Experiment gezeigt hat: die unkontrollierte Vermehrung des gemeinen Tapezierers bringt andere Gruppen rasch in Bedrängnis. Zum Beispiel den wandernden Kalkbrenner, die Papierschöpferin oder das nächtliche Mauerkratzerlein. Und was reimt sich schon auf Tapezierer? Richtig: Gegenieber.  

Das hat das Neuseeländische Experiment deutlich gezeigt: Die Übersiedlung der wenigen Überlebenden nach Australien – völlig sinnlos. Plötzlich flohen alle australischen Furzkissenbläser*innen über den »Leimeimer«, wie der Pazifik zwischen den Kontinentalstaaten genannt wird.  

Nun hat Neuseeland ein Problem, während in Australien alle Wohnungen schön Raufaser. Die Tapezierer jedoch, die haben sich erst noch einmal kräftig vermehrt und dann gegenseitig. So ist das eben in der Praxis.  

Scheiß auf Neuseeland. Elitäres Blumenmuster-Pack… Meine liebe Güte, bin ich heut drauf! Na ja, ganz normal. Lag heut früh schon Gefährdung in der Luft. Irgendwas mit dem Wetter, man glaubt es nicht! 

Theobald Fuchs: Heißgetränk.

Dieses Zeug da drinne. Gurgelt und gluckert im Glas. Es ist heiß. Heißer als heiß, (gesungen) heiß, überheiß… 

Wenn man einen Tee mit 500 Grad kochen könnte, würde er dann fünf mal stärker wärmen als? Oder würde man nur fünf mal stärker pusten müssen, damit er in der gleichen Zeit trinkbar ist in Klammern: und einen nicht tötet Klammer zu.
Trinkbar heißt: knapp unter Körpertemperatur. Besser ist das. 

Erst heizen und dann kühlen – wozu? Ich versteh’s nicht, hab’s nie verstanden, sorry.
Bin vom Typ her mehr kaltes Bier. Das ganze Thema hier, sorry, aber mir ist das zu… sagichmal: so direkt. Wäre jetzt ein Wortspiel an der Reihe, dann: zu heiß. So aber… Durchschaubar trifft’s am besten. 

Draußen ist es kalt wie ein gutes Bier, drinnen total warm, weil alle wie blöd heizen, damit sie barfuß auf dem Balkon Tiere nachtanzen können. Nackig. Weil Tiere ja auch keine Klamotten anhaben, die meisten jedenfalls. 

500 Grad im Hobbykeller, der Tee kocht von allein, bloß pusten, das musst du noch selber, und zwar fünf mal so stark, sonst dauert es fünf mal so lang. Wobei fünf noch eine Untertreibung ist, meiner natürlichen Bescheidenheit geschuldet. Sechs, sieben, das kommt schon eher an die Wahrheit hin. 

So feste pusten, dass vom Bier, das einfach nur kalt sein muss, der Schaum wegfliegt. Der Schaumfetzen im Flug gefriert, wegen des Gegenwinddingens. Irgendwohin fliegt. An eine Fensterscheibe zum Beispiel, wie eine fette Fliege zerspratzelt das, pladderadatzelt wie eine Fliege, auf die mit der Fliegenpatsche… Zosch und Patsch, voll krass! Gibt aber grad keine Fliegen, scheiß die Wand an, ist das vertrackt. Es muss in jedem Fall gefrorener Bierschaum sein, der Insektengestalt annahm. Damm it! 

Andererseits: ganz so kalt wie früher vertrage ich das Bier auch nicht mehr. Aber nicht falsch verstehen: Ich gehöre noch lange nicht zur Generation Tauchsieder. Knapp unter Zimmertemperatur, das passt, und den Schaum einfach nicht wegpusten, dann passiert auch nicht das, was. 

Und letztendlich muss ich sagen: ob heiß oder kalt – das ist dann irgendwo auch relativ.

Theobald Fuchs: Geist

Draußen brodelwarm, graue Wolkenflocken wie Asche nach Norden zu, die Hauswände gerötet vom tiefen Licht. Dann der Tisch, mit Bestimmtheit von jemand anderem gekauft, nicht von dem Typen, der jetzt und hier daran sitzt. Außerdem: eine besudelte weiße Tasse, ein Topfuntersetzer aus Kork, ein kahler dünner Ast, der sich hinter dem Mann in der Fensterscheibe hektisch schwarz verzweigt.

Seuchenstimmung in der Luft, als ob sich drei Straßen weiter ein Sumpf erstreckte, mit Augen im Schlamm lauernd, mit Händen, die Bäume unter brackiges Wasser ziehen.

»Nein«, sagt der Typ, »die Flasche bleibt zu.« Seine Stimme lässt keinen Raum für Zweifel an seiner Entschlossenheit. Zweifel brauchen Platz, so wie Kinder, sie können nicht gedeihen, wenn sie in einer Spalte zwischen zwei Grabsteinen aufwachsen sollen.

Die Frau, die Arme verschränkt, drückt ihren Hintern noch fester an die Arbeitsplatte, es sieht aus, als würde sie das Körperende, in das der Rücken schwungvoll ausläuft, tief einkerben wollen, um darin eine noch schickere Leimholzplatte zu befestigen. Sie verdreht die Augen. »Oh Mann!«, schnaubt sie. »Du wirst echt wie diese Leute… «

»Und du vergisst jedes mal wieder, was passiert, wenn… oder nicht?«

Der Typ kratzt sich den ungewaschen glitzernden Kopf und zündet sich eine Zigarette an, aber so, als ob er zum ersten Mal im Leben rauchen würde. Er wirft einen zweifelnden Blick auf den glimmenden Stengel und pustet zweidreivier Mal in die Glut.

»Na gut«, sagt die Frau und lenkt ihre Aufmerksamkeit zu mir wie den Suchstrahl eines Regenradars. Ich stehe immer noch in der Tür zur Küche, habe weder Mantel noch Fellmütze abgelegt, von meinem Spazierstock flattert feuchtes Laub.
»Tschüss!« Sie klatscht mir einen auffordernden Blick in die Fresse. Ich soll gehen. Sofort.

Doch so leicht gebe ich mich nicht zufrieden: »Nun aber mal halt. Ihr habt das Ding auf eBay gestellt, ich habe die Versteigerung gewonnen, ich habe das Geld bei mir und bin hier, um mein neues Eigentum abzuholen.«

»Tschüss!« sagt sie noch einmal. »Du weißt wohl nicht, dass du nicht so aussiehst, wie einer, der mit dem Ding umgehen kann?«

Jetzt bin ich ernsthaft beleidigt. Wenn ich etwas nicht leiden kann, dass mir jemand etwas nicht zutraut. Schließlich kann ich doch alles, nicht wahr? Ich schalte hoch auf Aggro.

»Wisst ihr, dass eine Wohnung auch immer ein auf links gestülpter Kopf ist? Ich sehe mich hier um und weiß genau, wie ihr so tickt. Nicht schlimm, gar nicht. Aber ihr könnt euch nicht vor mir verstecken.«

Die zwei schauen sich an, besprechen sich mit den Augen. Sie sind wie verändert, als hätten sie etwas verstanden, das wichtig ist für sie – mich jedoch nicht das geringste angeht.

»Nein« Der rauchende Mann bewegt sich zum ersten Mal, seitdem ich hier stehe, er bricht aus seiner Versteinerung, lehnt sich zurück, kratzt sich am Bauch. »Nein«, wiederholt er, »nimm das Scheißteil mit. Unter einer Bedingung: die Flasche bleibt zu. Dauerhaft. O.k.?«

Ich lächele freundlich.

»O.k.«, sage ich. »Geht klar. Ich interessiere mich sowieso nicht für Geister…«

Nachtrag:
Ein paar Jahre später sitze ich dann selbst in einer Küche, an der Anrichte lehnt eine Frau, die jener Frau täuschend ähnlich sieht, die mir damals die Flasche nicht überlassen wollte. Ich fühle mich ungewaschen, hocke im Unterhemd vor einer schmutzigen Tasse und rauche. Im Türstock steht ein Typ, der behauptet, die Flasche auf eBay ersteigert zu haben…

Theobald O.J. Fuchs: SEX (eine wahre Begebenheit)

Kalte Hände auf heißen Armen, Frösteln im Schatten, die Augen zusammen gekniffen.
Lichtreflexe über dem Wasser, nackte Beine, glatte Haut. So sieht das Setting aus.
Außerdem: Sich durch Badeanzugsstoffnässe drückende Brustwarzenhofkonturen.

Die Zeit steht, das Frösteln, die Helle.
Die Zeit steht, steht seit einer Weile,
Vielleicht Tage oder Wochen oder Monate,
Steht ununterbrochen.
Aber es muss ja weiter gehen.

Mit Sex. Mit Sex.

Mit Sex, nasser Haut, kühlen Füßen.
Sex wälzt Gras platt, Gras stachelt Sex an.
Gewicht hat Sex mit unseren Körpern.
Wir sind Körper, wir sind kein Gewicht.
Sex, der ganze Kopf voller Sex.

Ein Frösteln, ein warmer Luftwind,
die festgefahrene, stehende Zeit.
Still. Fest. Still. Stand.
Total geil, für immer geil.

Endstufennähe, näher geht nicht, noch näher hieße schmieden, wäre verschmolzen. Noch näher hieße, nicht mehr zu trennen, wie zwei Farben, vermischt bis zum letzten Ende.
Weißbunt. Atomblitz. Sternschlag.

Oder so: Ein Kuchenteig, den echt keiner mehr zerlegen wird in Butter und Zucker.

Es dauert noch, hält noch kurz.

Dann.

Vorbei.

Theobald O.J. Fuchs: Langeweile

… Langeweile, bleibe kurz … doch noch bei mir …. weil noch lange will ich hier … mich
nach Kürze sehnen … möcht‘ die Zeit noch dehnen … kein Wechsel, auf dem Dache
gurrt’s… eilt sie doch sowieso … du verweilest viertelfroh … so lang du willst … im Walde, wo lange … ach ganz lange Zeit … ziemlich exakt gar nichts … geschehet … denn sehet… uns war fürchterlich langweilig. Fürchterlich. Freitag Mittag schon. Dann wurde es Nachmittag, dann Spätnachmittag, dann Abend. Dann stiegen wir zu acht in Mutters Kleinwagen. Ich, mein kleiner Bruder, Volker, Bernd, Stefan, Thomas, Michael und Andreas. Acht mal schwarze lange Mäntel, acht mal schwarze Lederstiefel. Acht mal Lidschatten und rote Lippen. Acht mal verworrene Vorstellungen von Existenzialismus und die neue Platte von Cure im Kopf. Acht mal unbegrenzte Vorräte an Langeweile.

Langeweile war das stärkste Gefühl in meiner ganzen Kindheit. Ununterbrochen war nichts los. Leben hieß sich ständig langweilen, jeder, den ich kannte, tat das in Vollendung, wie mit einer umgedrehten Superkraft, die allen geschenkt war. Bis ich Menschen entdeckte, die ich nicht langweilig fand. Sondern interessant. Mädchen. Sie übernahmen das Ruder als ich etwa zehn oder elf Jahre alt war. Vorher nur Langweile. Vor allem in der Schule. Die mir darüber hinaus noch den Schlaf stahl, den Schlaf am Vormittag, den ich so sehr schätzte. Denn nur in dem einen oder anderen Action-Traum war mir für kurze Zeit nicht langweilig.

Immerhin lernte ich in der Schule andere Jungs kennen, die sich ebenfalls langweilten.
Bernd, Volker, Thomas, Stefan, Michael, Andreas. Und nun waren wir unterwegs, mit dem kleinen Auto viel zu schnell über die langweiligen Hügel, dann in das langweile Dorf im drittnächsten Tal. Eine langweilige Siedlung am Ortsrand, ein Einfamilienhaus ohne Eigenschaften, eine verendete Party, irgendwelche Bekannte von irgendwem, dessen Eltern irgendwo waren. Schauen kurz vorbei. Geht klar, kein Problem. Wir haben Bier mitgebracht. Kommt rein.

Bernd brachte sich ein paar Jahre später um. Sagte man jedenfalls, nachdem er seinen geliebten Benz auf freier Strecke am hellichten Tag an einen Brückenpfeiler. Die Party war daran aber nicht schuld gewesen. Sie war lediglich langweilig, lediglich unfassbar langweilig. Unfassbar.

Ich hatte gehofft, dass Frauen da wären. Vergeblich. Oder gutes Essen. Pustekuchen. Wenigstens eine spannende Verrücktheit. Ein seltsamer Apparat zum Beispiel, an dem in der Werkstatt gebastelt wurde. Ein Tandem-Maulwurfsgleiter oder eine Fallschirm-Video-Anlage. Ich wäre sogar mit einer dänischen Schnapsbar zufrieden gewesen, mit einer westfälischen Streckbank, einem defekten Hobby-Hochofen, einer Telefonbuch-Zerreiß-Maschine im Keller, einer Karpfenhaut-Handtaschen-Sammlung – irgendetwas nur, das nicht langweilig war.

Aber alles nichts, nur vier Typen mit langweiligen kurzen Haaren, langweiligen Jeans, langweiligen Hardrock-T-Shirts. Sie hießen Thomas, Stefan, Bernd und Michael. Es lief langweiliger Hardrock aus einer langweiligen Kompaktanlage von Quelle. Die Vier saßen auf dem Teppichboden im Wohnzimmer und spielten ein langweiliges Spiel mit Würfeln.

Ja, sagte mein Bruder. Ja, sagte Thomas. O.k., sagte Stefan. Und Volker sagte: stimmt. Ein langweiliges Gespräch also.
Die Würfel klapperten ohne uns. Wir tranken schweigend Sekt, kontrollierten unsere Leningrad-Cowboy-Frisuren im Spiegel im Hausflur. Wir waren irgendwie mega… dann stiegen wir wieder zu acht ins Auto. Bernd, Volker, Thomas, Stefan, Michael, Andreas, mein Bruder und ich. Wir sagten nicht tschüss, wir fuhren solange durch die Nacht, bis wir links vorne die Stadt. Da war dann echt was los.

Theobald Fuchs: Sucht

Die Leute, bei denen ich meine Kindheit verbrachte, waren süchtig. Hochgradig süchtig. Nach Wegwerfen. Sie warfen ständig weg, was sie schon besaßen, um sich neue Dinge anzuschaffen. 

Meine früheste Erinnerung ist, dass ich mich Abends aus dem Haus schlich, um im nahen Wald ein Loch zu graben. Darin, unter einer dicken Schicht aus Nadeln, Laub und Moos versteckte ich meinen Lieblingsteddy. 

Als ich aufblickte, standen sie bereits da und beobachteten mein Tun.  

»Was machst du?« fragten sie. 

»Ich habe Angst, dass jemand meinen Teddy wegwirft.« 

»Ach so«, sagten sie, »den alten Teddy…«, und brachten mich nach Hause. Am nächsten Tag war der Teddy… Sie hatten halt nicht anders gekonnt, die Sucht war eben stärker gewesen als sie, und es musste zwangsläufig dahin kommen, dass ich, wenn man so will, eine Ko-Abhängigkeit entwickelte. Ich entwickelte einen Zwang, Dinge für immer aufzuheben. 

Seltsam war, dass die Frau niemals den Mann fortschickte und der Mann niemals die Frau. Sie waren das einzige in ihrem Leben, das sie nie gegen etwas Neues austauschten. Das mag untypisch erscheinen, gar nicht zum sonstigen Gebaren passen, aber es wird wohl ein Versehen gewesen sein, ein gewöhnlicher Fehler. Denn auch beim Wegwerfen passieren Fehler. Auch beim Wegwerfen gibt es eine Art blinder Fleck. Zum Beispiel in Gestalt eines Ehegesponses. 

Doch darauf wollte ich mich nicht mehr verlassen. Ich beschloss mit sehr jungen Jahren, absolute Kontrolle über die Gegenstände in meinem Besitz zu gewinnen. Ich lernte, das, was mir wichtig war, so gut zu verstecken, dass es niemand anderes mehr finden konnte. Die Eichhörnchen wurden meine Vorbilder, wie besessen studierte ich ihre Tricks.

Das ging soweit, dass ich genauso wie diese dämlichen Nager manchmal meine eigenen Verstecke nicht mehr wiederfand. Keine Ahnung, wie viele meiner Spielsachen noch heute dort draußen im Wald gut verpackt und sorgfältig geschützt in der Erde darauf warten, dass ich sie abhole. 

Die Kleidung, die ich mochte, lagerte ich bei einem Freund. Morgens auf dem Weg zur Schule machte ich kurz Station bei ihm, zog meine alten Lieblingsklamotten an und ließ die neuen Sachen, die ich in beim Aufstehen neben meinem Bett vorgefunden hatte, tagsüber dort. 

Ein einziges Mal noch gelang es der Frau, die wir spaßeshalber »Mutter« nannten, eines meiner liebsten T-shirts zu entsorgen. Ich hatte es nur kurz ausgezogen, um im Keller die Kohlen zu wenden, was reihum jeden Monat einer von uns zur Aufgabe hatte. 

»Wo ist mein T-shirt«, fragte ich sie, als ich mir den schwarzen Staub vom Körper gewaschen hatte. 

»Ach, dieses hässliche alte T-shirt? Was ist das schon im Angesicht der Ewigkeit! Sei froh, du kannst dir jetzt ein neues kaufen.« 

»Ich fasse es nicht!« schrie ich. »Es war mein Lieblingsshirt! Von meiner Lieblingsband! Es hat mir meine Lieblingsfreundin zu meinem Lieblingsgeburtstag geschenkt! Noch keine fünf Lieblingsjahre alt… das kann man doch nicht wegwerfen!« 

»Ach komm, vergiss den alten Kram. Niemand will den alten Kram. Der alte Kram belastet einen doch nur. Den alten Kram muss man wegwerfen. Ich freu‘ mich für dich.« 

Damit endete unser letzter Streit. Ich konnte sie mit Argumenten nicht mehr erreichen, sie hatte sich in ihren Wahn eingesperrt, in dem alles, was nicht neu war, sofort weggeworfen werden musste. Den Schlüssel zu ihrer Welt hatte sie wohl ebenfalls nach dem ersten Gebrauch zum Altmetallhändler gebracht. Von nun an machte ich keine Fehler mehr. Ich besorgte mir alle Gegenstände, die ich zum Leben brauchte und trug sie ständig in einem Tresor bei mir, den ich mit einer Kette an meinem Bein befestigte. Sogar einen Teller und ein Glas führte ich mit mir, sorgfältig in einen alten Teppich eingewickelt. Ich wurde sehr stark, der Stärkste in meiner Klasse wurde ich, da es keine Sekunde gab, in der ich nicht allen meinen Besitz mit mir schleppte. 

Dahingegen sie, die Frau, sie kochte und warf nach dem Essen alles Geschirr einfach auf den Boden. 

»Hoppla«, rief sie, »alles kaputt! Wie schön, dann können wir endlich etwas Neues kaufen!« 

Dann zogen sie los, sie und ihr Mann und kauften ein. Glücklich kamen sie nach Hause zurück, schwer beladen mit neuem Zeug. 

Die Sucht war es, die sie dazu zwang, sie konnten eigentlich nichts dafür, und niemand half ihnen. Solange sie funktionierten, solange sie damit durchkamen, solange war es für die Gesellschaft in Ordnung. Und die Behörden sahen bewusst in eine andere Richtung. 

Und als ob das nicht schon genug gewesen wäre! Später, als ich schon ausgezogen war, traten sie einer Partei bei und wurden erfolgreiche und angesehene Politiker. 

Als ich sechzehn wurde, verkündete ich im Kreis der zahlreichen Leute, die in jenem Haus versammelt waren, dass ich ausziehen würde und dass ich eine Lehre als Restaurator beginnen würde. Der Lehrherr hätte eine Gesellenwohnung voller alter Möbel für mich, erklärte ich und verabschiedete mich – nicht überschwenglich, aber auch nicht unhöflich knapp. 

»Wie schön!«, rief die Frau, die mich jeden Morgen geweckt hatte, damit ich rechtzeitig in der Schule saß, »Ein Esser weniger, dann können wir uns ja noch einen neuen Hund anschaffen, sobald wir den alten ins Tierheim gebracht haben! Jetzt gleich!« 

Der Hund kapierte sofort, was los war, verkroch sich unter dem Sofa. Natürlich half ihm das. Nicht. Im geringsten. 

Einmal noch kehrte ich zurück, da ich für eine Bewerbung ein altes Schulzeugnis brauchte. Ich hatte zwar wenig Hoffnung, vielleicht, so dachte ich, machen sie bei offiziellen Dokumenten eine Ausnahme… Nun, was soll’s. Hatte ich doch schon vor einiger Zeit einen sehr geschickten und dabei überaus preisgünstigen Fälscher kennengelernt, der mir dann weiterhalf. Immerhin erfuhr ich angelegentlich des Besuches, dass die Leute, die mir im Rahmen ihrer Sucht Obdach und Nahrung gegeben hatten, bei den letzten Wahlen einen großen Sieg errungen hatten. Sie waren Bundeskanzlerehepaar geworden.

Ihr Erfolg gründete darauf, dass sie Verwaltung und Parlamente gründlich ausmisteten. Sie warfen alte Gesetze genauso weg wie alte Beamte. Ganze Ministerien flogen auf den Kehricht, jahrhundertealte Strukturen in Verwaltung, Parlament, Justiz – alles wurde hinaus geschmissen und nagelneu angeschafft. Das brachte ihnen anfangs große Sympathien ein, in den ersten Monaten war die Bevölkerung hellauf begeistert von ihrer Arbeit. Eine regelrechte Welle des Ausmistens schwappte durchs Land, vor den Städten wuchsen Müllberge, höher als das Ulmer Münster und an etlichen Orten halb so groß wie das Saarland. 

Doch wie das mit Süchtigen eben so ist: sie konnten nicht mehr aufhören. Sie machten sich daran Bahnstrecken und Flughäfen, Wasserwerke und Krankenhäuser, Sozialwohnungen und die Polizei. Das hatte nichts mehr mit freiem Willen zu tun, sie verloren vielmehr die Kontrolle, so wie ein Autofahrer, der bei 200 Stundenkilometern das Lenkrad abbeißt und zum Fenster hinausschleudert. Sie waren kurz davor, wirklich alles wegzuwerfen, den Himmel, die Erde, die Menschen, Tiere und Pflanzen und so wäre die ganze Welt beim galaktischen Schrotthändler gelandet, wenn sie nicht im letzten Moment, wirklich nur wenige Augenblicke, ehe sie die Existenz alles Seienden sowie die Nicht-Existenz alles Nicht-Seienden ausgelöscht hätten, innehielten und erkannten, dass ihr Werk nur dann vollendet und zum Abschluss gebracht werden konnte, wenn sie sich selbst zum Schrott bringen würden. 

Da gingen ihnen die Augen auf, wie einem das Land verschlingenden Drachen, der alles gefressen hat außer dem eigenen Schwanz, und, während er daran schnüffelt und ein oder zwei Mal abschleckt, begreift, dass es jetzt vielleicht genug ist. (und er dringend eine Dusche bräuchte, was sich bei Drachen allerdings häufig als schwieriger als gedacht darstellt.)

»Gut ist’s, oder?«, fragte sie, und der Mann, den wir spaßeshalber »Vater« gerufen hatten, antwortete mit denselben Worten. »Ja, gut ist’s«, sagte er und nickte mit dem Kopf und nahm ihre Hand und ging zusammen mit ihr los Richtung Sonnenuntergang, der aber auch ein Sonnenaufgang gewesen sein könnte, so genau kann man’s auf dem Foto nicht erkennen, und von da an waren sie geheilt und befreit von ihrem Zwang und lebten wie wir alle als ganz gewöhnliche Messis noch ein paar Jahre vor sich hin, auf zwei Zimmern, Küche, Bad im vierten Stock zwischen Kisten und Möbeln, zwischen Kleidern und Elektroschrott, bis sich auch für sie das Schicksal erfüllte und sie den Ruf an der Tür hörten: »Lassen Sie mich durch, verdammt nochmal, ich bin doch die Person von der Entsorgungsfirma…« 

Untot in Gostenhof: (6) Ida im Büro

Ida überragte die füllige Sekretärin, die am Kopierer stand, um eineinhalb Kopflängen. Die Dame kopierte mühsam Seiten aus einem Buch und stellte sich dabei so ungeschickt an, dass die Kopien zur Hälfte komplett schwarz waren. 

»Hübsch sieht das aus«, sagte Ida, »aber brauchen Sie noch lange?« 

»Ich wollte eigentlich erst Mittag machen und danach dann fertig …« 

Ida hatte keine Eile. Sie schlenderte zurück in ihr Büro. Die Sekretärin setzte sich an ihren Tisch und begann ein Butterbrot zu kauen, wobei ihr Brösel aus dem Mundwinkel rieselten. 

Etwa zwei Stunden später machte Ida einen weiteren Anlauf. Diesmal war der Kopierer frei, aber der Papiereinzug war hoffnungslos verstopft, weil der letzte Benutzer der Maschine, anstatt den Papierstau zu beseitigen, hemmungslos immer wieder versucht hatte, eine weitere Kopie anzufertigen. Ida telefonierte mit dem Haustechniker. Sie wählte die Nummer aus dem Gedächtnis, denn die Nummer, die am Gerät angeschrieben stand, war, wie sie aus eigener Erfahrung wusste, falsch. 

»Sie wissen, weshalb ich anrufen?« sagte Ida, als am anderen Ende der Leitung jemand abhob. Damit war das Gespräch dann auch schon wieder vorbei. 

Ida ging in ihr Büro und begann zu warten. Sie kramte aus der Seitentasche ihres schwarzen Kleides eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug. Sie rauchte ungestört, denn sie war noch am selben Tag, als das runde Kästchen montiert worden war, auf den Schreibtisch gestiegen und hatte dem Feuermelder an der Decke eigenhändig die Drähte abgezwickt. 

Ida war lange genug bei der Firma, um aus den Geräuschen, die vom Flur her zu ihr drangen, schließen zu können, dass der Haustechniker kam, einen ellenlangen Fluch ausstieß, als er die Schweinerei im Kopierer erblickte, und dann das Problem innerhalb von zwei Minuten behob. Leider hörte Ida auch, wie sofort, kaum dass sich die Tür hinter dem Haustechniker geschlossen hatte, der Sachbearbeiter, der ein Büro schräg über den Gang bewohnte, zum Kopierer eilte. Sie würde noch ein wenig warten müssen. Ida langweilte sich noch einen Tacken mehr und griff zum Telefon, um ihre Tante Mathilda anzurufen. 

»Hallo, Tante Mathilda«, sagte sie. »Ich kann leider noch nichts Genaueres berichten, mir sind hier ein paar Dinge dazwischen gekommen.« 

»Ach Ida, bin ich froh, dass du anrufst! Dein Onkel Serban ist heute mal wieder kaum zu ertragen! Er will seinen schattenlosen Doppelgänger zu den Leuten ins Vorderhaus schicken, weil die gestern Nacht wieder bis drei Uhr früh gefeiert haben …«, begann Tante Mathilda zu lamentieren. 

»Aber was ist daran verwerflich? Serban will nun mal nachts in Ruhe seine Zeitung lesen, und der schattenlose Doppelgänger hat sich doch bewährt?«, fragte Ida und bemühte sich um Sachlichkeit. 

»Bei den Russen – ja, aber die von gestern sind sicher keine orthodoxen, ich fürchte, es sind sogar Italiener!« rief Mathilda in äußerster Verzweiflung. 

»Beruhige dich, Tantchen!«, sagte Ida knapp. »Ich schaue heute nach der Arbeit bei euch auf einen Sprung vorbei, und wir überlegen in Ruhe, wie wir die Leute im Vorderhaus quälen können, o.k.? Ich muss jetzt weitermachen, sonst läuft mir die Zeit davon – bis später!« 

Ida legte auf, atmete tief durch und machte sich zum dritten Mal an diesem Tag auf zum Kopiergerät. Aber auch sonst hätte sie nichts zu tun gehabt. Der Fotokopierer stand diesmal verlassen da, als ob er sich schon den ganzen Tag genauso wie Ida langweilen würde. Ida klappte den Deckel, der die Mechanik des automatischen Einzugs in sich birgt, nach hinten weg. Auf der Glasplatte für die Vorlagen lag ein Brief, den ihr Kollege von schräg gegenüber offensichtlich vorhin vergessen hatte. Er hatte es wohl eilig gehabt, dachte Ida, denn der Brief war an ihn adressiert und stammte von einem Inkassobüro, das ausstehende Spielschulden anmahnte, die er in einem Spielautomaten-Center gemacht hatte. Ida überflog das Schreiben und lächelte, als sie das Wort »Pfändungsbefehl« las. 

Sie legte den Brief auf das nebenan stehende Faxgerät, damit noch viele weitere Kollegen ihn lesen konnten, griff tief in ihr schwarzes Kleid und zog vorsichtig ihre Hand wieder heraus, die sie um etwas Kleines, Empfindliches geschlossen hatte. Behutsam setzte sie eine zerzauste Fledermaus auf die Glasplatte und breitete mit ihren dünnen, weißen Fingern die Flügel des Tieres aus. Sie klappte den Deckel der Maschine wieder herab, achtete jedoch darauf, dass zwischen diesem und der Glasplatte ausreichend Raum für das kleine Lebewesen blieb. 

Zehn Minuten später saß Ida wieder an ihrem Schreibtisch. Aus dem Aschenbecher stieg ein dünner Rauchfaden fast senkrecht nach oben, doch Ida war so vertieft in die Fotokopien der kleinen Fledermaus, die sie wieder sicher unter ihrem Kleid verstaut hatte, dass sie gerade nicht an ihre Zigarette denken konnte. 

»Da haben wir es ja schon«, murmelte sie. »Den tausend heulenden Höllenhunden sei es gepriesen!« 

Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer ihrer Tante Mathilda. 

»Ich weiß jetzt, was dem kleinen Hermann fehlt«, berichtete Ida. »Er muss einen Zahn gefressen haben, der ihm im Magen liegen geblieben ist. Wie ich es mir erhofft hatte, hat die Lampe des Kopierers deinen kleinen Schatz wunderbar durchleuchtet. Ich konnte das Ding in der Fotokopie ganz deutlich erkennen, es ist ein menschlicher Backenzahn.« 

»Das sind wenigstens einmal gute Nachrichten«, sagte Mathilda am anderen Ende der Leitung, und Ida konnte die Erleichterung in ihrer Stimme hören. »Zwei Tage Diät werden genügen, und schon ist er wieder auf dem Damm. Bei deinem Onkel hat das bisher auch jedes Mal funktioniert, wenn er sich überfressen hat.« 

Ida verließ ihr Büro kurz nach fünf. Draußen war es schon dunkel, aber sie behielt ihre Sonnenbrille, die sie schon den ganzen Tag getragen hatte, auf der Nase. Sie fischte ihren Schlüsselbund aus der Tasche, an dem die Knochen erlegter und erlegener Geschöpfe baumelten. Dann stieg sie in ihr silbernes Auto und startete den Motor. Als sie den Rückwärtsgang einlegte, seilte sich vom Dachhimmel eine kleine schwarze Spinne ab und blieb direkt vor ihrer Nase hängen. 

»Na, Göring? War dir langweilig?«, fragte Ida. »Mir auch, aber jetzt geht’s nach Hause!«

Die Spinne wippte an ihrem Faden, als ob sie nicken wollte, und Ida fuhr los.


Erzähler: Carsten Striepe
Ida: Julia Gruber

Mathilda: Verena Schmidt
Sekretärin: Viktoria Solner

Buch:
Theobald O.J. Fuchs
Regie/Schnitt:
Lukas Münich
Titelmusik:
Andreas V. Weber


Untot in Gostenhof: (5) Kindervergrämer

»Du musst auch einmal raus aus deinem Kellerverlies«, sagte Tante Mathilda nachdrücklich. Großonkel Vladimir, dem dieser Ratschlag galt, knurrte einen vergeblichen Protest.

»Ich sehe keine Veranlassung dazu, irgendwohin zu gehen …«, schimpfte er.

Doch Mathilda schob ihn mit sanfter Gewalt auf den Beifahrersitz von Idas silbernen Auto, während Ida sich ans Steuer setzte. Im hellen Licht des Tages tanzten Milliarden Staubkörnchen um Vladimirs kahlen Schädel. Sein Gesicht hatte eine wachsgelbe Farbe und sein Anzug war über und über bedeckt mit Spinnweben und Staubflusen. 

»Wenn Mathilda sich etwas in den Kopf gesetzt hat, ist Widerstand zwecklos, Vladimir, das solltest du am besten wissen«, sagte Ida und zündete sich eine Zigarette an. »Wir machen jetzt zusammen eine kleine Einkaufstour für Onkel Serban, trinken noch ein Bierchen in einem Café und schon sind wir wieder zu Hause.« 

»Kauf nicht zu viele von diesen Dingern, mein Schatz«, sagte Mathilda flehentlich. »Du weißt, dass dein Onkel Serban dazu neigt, maßlos zu übertreiben, insbesondere, wenn er die ganze Nacht durch Schnaps getrunken hat.« 

»Verlass dich auf mich, Tante!« Ida startete den Motor und fuhr los. 

»Wie … krchkchkch«, begann Vladimir, doch seine Worte blieben in einem heiseren Husten stecken, das klang, als kratzten eiserne Sohlen über Kopfsteinpflaster. »Wie kommt der kleine Serban darauf«, fuhr er mühsam fort, als er wieder ein wenig mehr Luft bekam, »sich einen Vorrat dieser idiotischen … Kchkchkchrrch …« 

»Du scheinst wirklich ein bisschen frische Luft brauchen zu können«, sagte Ida, »Der Schimmel im Keller ist auf Dauer nicht gesund …« 

»Unsinn!« maulte Vladimir und kurbelte das Fenster herunter. »Dieser Serban – wie kommt er nur immer auf diese Schnapsideen?« 

Ida seufzte, warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel und riss das Steuer hart nach links, so dass das Auto mit quietschenden Reifen um eine Ecke schlitterte. Hinter ihnen blökte ein Rudel wütender Hupen. 

»Serban hat doch diese Spekulationsmaschine erfunden«, erklärte Ida. »Der Koffer aus rotem Leder im Gästezimmer, mit den schwarzen Beschlägen, fast so groß wie ein Schrank und drei mal so schwer.« 

»Stimmt – den habe ich schon mal gesehen. Habe mir überlegt, wer wohl da drin wohnt.« 

»Niemand wohnt da drin. Es ist ein komplizierter Mechanismus. Auf der einen Seite befindet sich eine Klappe, wenn man einen Gegenstand über Nacht hinein stellt und am anderen Morgen wieder heraus holt, kann man erkennen, ob der Gegenstand in nächster Zukunft an Wert gewinnt oder verliert: Ist der Gegenstand größer – wird er teurer, und umgekehrt. Die Maschine ist Serbans Meisterwerk!« 

»Dieser Narr«, meckerte Vladimir, während Ida den Wagen parkte und sich eine weitere Zigarette ansteckte. 

»Ich bin sofort wieder da, o.k.? Verhalte dich unauffällig!« sagte sie und tätschelte liebevoll Vladimirs mageres Knie.

Eine Staubwolke stieg auf. Ida schnappte sich ihre Handtasche und entfernte sich entschlossenen Schritts in Richtung der nächsten Querstraße. Als sie eine knappe Viertelstunde später aus einem Ramsch- und Allerlei-Geschäft trat, trug sie einen großen braunen Pappkarton, in dem sich schwarze Vögel türmten – Plastik-Raben, die als Taubenvergrämer dienten. Ida hatte alle Vogel-Imitate, die im Laden vorrätig gewesen waren, aufgekauft, da Serbans Maschine in der nächsten Balkon-Saison ein großes Geschäft prognostizierte. Als sie um die Ecke bog, sah sie schon von Weitem eine Gruppe Jugendlicher neben ihrem Auto stehen. Sie schienen sich um das Beifahrerfenster zu drängen. 

Plötzlich begannen die jungen Leute zu schreien, das schrille Kreischen der beiden Mädchen hob sich deutlich von dem übrigen Gebrüll ab. Unmittelbar danach begannen die Jugendlichen zu rennen. Als ob der Leibhaftige persönlich hinter ihnen her wäre, hetzten sie den Bürgersteig herunter in Idas Richtung. 

»Nichts wie weg!« brüllte der Junge, der an der Spitze rannte. Fast wäre er mit Ida und der überquellenden Kiste zusammengestoßen.

Er bemerkte sie im letzten Moment und prallte mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen zurück. Der Anblick der bleichen Frau mit der großen dunklen Brille im Gesicht, die einen Berg schwarzen Vögel vor sich her schleppte, gab der Schar den Rest – in heillosem Schrecken stoben die Jugendlichen auseinander und waren im Handumdrehen in irgendwelchen Nebengassen verschwunden. 

»Was ist passiert?« fragte Ida, als sie beim Wagen angekommen war, Vladimir, der seelenruhig auf seinem Platz saß. Die Scheibe der Beifahrertür war herunter gekurbelt und Vladimir steckte seinen Ellenbogen ganz lässig aus dem Fenster. 

»Nichts.« 

»Irgendetwas muss passiert sein! Diese Kinder sind davon gerannt, als gälte es ihr Leben!« 

»Ich bin wohl eingeschlafen. Die Hitze ist heute auch drückend wie der Bleideckel auf einem Sarg. Auf einmal hörte ich Stimmen neben meinem Ohr, aber ich dachte, sie gehörten in meinen Traum. ›Hey, guck mal, da sitzt ein Toter‹, sagte jemand. – ›Quatsch, da schläft einer!‹ sagte eine zweite Stimme. ›Schau dir das mal an! Der Anzug total verstaubt, das Gesicht ist ganz gelb und die Augen stehen halb offen – das ist eine Schaufensterpuppe.‹« 

»Hast du wieder mit offenen Augen geschlafen?« sagte Ida in einem vorwurfsvollen Tonfall. 

»Kann sein«, erwiderte Vladimir unwirsch, »aber das geht wohl niemanden etwas an!« 

»Was geschah dann?« 

»Zwei oder drei sagten: ›Total cool! Eine Schaufensterpuppe im Auto!‹ und ein anderer meinte: ›Wisst ihr was? Der drücke ich eine Dose Bier in die Hand!‹« Vladimir verstummte und machte keine Anstalten, in seiner Erzählung fortzufahren. 

»Das war alles?« fragte Ida schließlich. 

»Ja. Dann bin ich aufgewacht und hab mir die Typen mal genauer angesehen.« 

Ida schnalzte mit der Zunge. »Das kann ich mir lebhaft vorstellen … aber sei’s drum. Unser Auftrag ist erledigt, wir können heim fahren.« 

Sie wuchtete die Kiste mit den Plastik-Raben auf den Rücksitz und nahm hinter dem Steuer Platz. »Es ist in der Tat verdammt heiß heute«, stöhnte sie. 

»Willst du einen Schluck Bier?« fragte Vladimir und streckte ihr seine dürre wachsgelbe Hand entgegen, in der er eine Dose hielt. »Ist sogar noch kalt.«


Erzähler: Carsten Striepe
Ida: Julia Gruber
Großonkel Vladimir: Arthur Roscher

Regie/Schnitt:
Lukas Münich
Titelmusik:
Andreas V. Weber



Theobald O.J. Fuchs: Frühstück

Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages. Die Zeitung ist ein wichtiger Bestandteil des Frühstücks. Nicht der wichtigste, aber schon sehr wichtig. Aber die Zeitung kommt heute sehr spät. Durchs Küchenfenster sehe ich die Zeitungsfrau auf ihr Rad steigen und weiter fahren. Ich gehe hinaus, ziehe die Zeitung aus der grünen Plastikröhre, die außen an unserem Jägerzaun befestigt ist. Ich will schnell zurück ins Haus, weil das Frühstück wartet. Im Gehen werfe ich einen Blick auf die Schlagzeilen und bleibe überrascht stehen. Da steht: »Verdacht bestätigt – erster Todesfall seit 143 Jahren!«

Drinnen stehen für mich auf dem Küchentisch dreizehn Sorten Marmelade und elf Sorten Wurst bereit. Ich habe noch nicht einmal angefangen und will doch von allem essen. Von jeder Marmelade einen Löffel. Himbeere, Schlehe, Erdbeere, Zwetschge, Kirsche, Orange, Apfel, Rhabarber, Pfirsich, Johannisbeere, Quitte, Mandarine und Radieschen. Von jeder Wurst eine Scheibe: Bierschinken, Stadtwurst, Gelbwurst, Mettwurst, grobe Leberwurst, feine Leberwurst, kalte Bratwurst, Pfefferbeißer, Bauernseufzer, Räucherschinken und kalte Frikadelle. Immer nur diese Sorten, keine anderen. Und das jeden Tag.

Die Meldung in der Zeitung bringt mich aus dem Tritt, meine Routine ist unterbrochen, ich bin verwirrt. Seit einhundertdreiundvierzig Jahren ist das Rezept für die Unsterblichkeit bekannt. Sofort, nachdem die Formel für ein ewiges Leben bekannt wurde, begannen alle Menschen so zu leben wie die Wissenschaftler es rieten. Im Grunde war es ganz einfach, die Zutaten waren alle längst bekannt, jeder konnte sich einfach und billig mit dem notwendigen Zeug eindecken: Dreizehn Sorten Marmelade und elf Sorten Wurst. Jeden Morgen von jeder Sorte Marmelade einen Löffel, von jeder Wurst eine Scheibe. Dazu Kaffee oder Tee, was man eben bevorzugt, und ein Brötchen, kein Problem. Auch ein Ei oder ein Stückchen Käse – da gibt es keine Vorgaben. Hauptsache Marmelade und Wurst, in der richtigen Menge, die richtigen Sorten. Das Resultat: Unsterblichkeit.

Und nun das: Ein Todesfall, irgendwo in Kanada, in einem kleinen Dorf. Dort ist zum ersten Mal seit einhundertdreiundvierzig Jahren wieder ein Mensch gestorben. Schnell gehe ich ins Haus, setze mich an den Frühstückstisch, beginne Wurst und Marmelade zu essen. Immer abwechselnd, ein Löffel hiervon, eine Scheibe davon, dazu Kaffee und ein Bissen von der Semmel. Wie immer, wie jeden Tag. Wie gestern, vorgestern, vorvorgestern. Wie seit einhundertdreiundvierzig Jahren, jeden Tag. Immer dieselben dreizehn Sorten Marmelade und elf Sorten Wurst.

In der Zeitung steht, der Mann in Kanada ist gestorben, weil er keine Wurst mehr sehen konnte. Weil ihm die Marmelade zum Halse hinaushing. Weil er es nicht mehr ertragen hatte, jeden Tag dasselbe zu frühstücken. Seine letzten Worte hätten gelautet: »Ehe ich noch ein einziges Mal Gelbwurst und Rhabarbermarmelade auch nur anschaue, will ich lieber sterben.«

Das hat er nun davon, denke ich. Hätte sich halt nicht so anstellen brauchen. Selber schuld. Mir schmeckt’s jedenfalls. Mir schmeckt’s sehr gut, jeden Tag, immer dasselbe.
Weil: Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages.