blumenleere: eingestaendnisse

einen schwamm aufziehen, der alles aufsaugt, auch was er nicht soll oder kindererziehung erschreckend gemacht: pseudoliebevoll, von einem nicht zu unterschaetzenden hauch an tiefsitzender missachtung bis gar fundamentaler furcht finster durchfurcht, nennen wir sie ja beinah schon fast allzu gerne kleine monster – & zwar eventuell just deshalb, weil sie uns schier zu frappierend aehneln, in form von etwas, was wir fuer karikaturen halten moechten, indes halten tatsaechlich eher uns sie einen nicht gerade beschoenigenden, dafuer radikal realistischen spiegel vor, wenn sie uns auf eine dermaszen treffende art & weise imitieren, dass wir ihnen – zumindest unbewusst ertappt & schwuppdiwupp profund getroffen – am liebsten lauthals, mit voller kraft & geballter faust, ins gesicht schlagen wuerden, waere da nicht unser gemeinster, heimtueckischster gegenspieler, das tabu, der soziale druck, das prophylaktische schamgefuehl, welches selbst den heiligsten zorn – in der antike eine noch wunderbar nuancierte, groszartige emotion, inzwischen scheinheilig zu den verfemten, geaechtenden degradiert – im keim erstickt. nein, wir doch nicht, lachen wir, verlogen plaerrend, innerlich peinlichst beruehrt & klopfen unsresgleichen verschwoererisch, meist leider hoechstens metaphorisch auf die widerwaertig verkruemmten schultern, & wissen dabei eigentlich ganz genau, egal, wie sehr wir zu projizieren suchen, welche bestien wir in wirklichkeit sind.

Björn Bischoff: Mitternachtsschwarze Erde


»Niemand dringt hier durch
und gar mit der Botschaft eines Toten.
Du aber sitzt an deinem Fenster
und erträumst sie dir,
wenn der Abend kommt.«
(Eine kaiserliche Botschaft. Franz Kafka.)

In dem verstecktesten Winkel ihrer Zweizimmerwohnung, dort,
wo sich die durchgesessene Couchgarnitur in eine Ecke drückt,
sitzt Sunja und blättert durch einen Stapel alter Fotos, Briefe und
Postkarten, die ihre Familie ihr schickte und hinterließ,
Erinnerungen, die Sunja begraben hatte, weil sie ihr damals
fremd waren, und die nun wieder, exhumiert, auf ihrem Schoß
liegen, als der Wolf mit ihr spricht.
Sunja hält inne. Außer ihrem Atem hört sie nur den leichten
Regen, der gegen ihr Fenster klopft.
Sie schaut auf und sucht im Wohnzimmer nach der Stimme.
Doch da ist nichts, außer den alten Möbeln mit ihrem Geruch
nach Staub und Essig.
Stille.
Einbildung, denkt sie, Einbildung, wie so oft in diesen Räumen.
Sie will den Stapel weiter durchsehen, von dem obersten Foto
blickt ihre Mutter als junge Frau sie an, diese dürre Gestalt, der
sie nie ähnelte, nicht damals, nicht heute, daneben ein Baum, der
in dem Schwarzweiß des Bildes unscharf ist, aber vielleicht sieht
sie dort nur die Zeit auf dem Fotopapier wirken, denkt Sunja, auf
jeden Fall scheint es für sie so, als ob der Baum Federn statt
Früchte trüge. Mit dem Daumen strich sie bereits mehrmals über
die Stellen, nicht sicher, was sie damit bewirkt. (Nichts.)

Sie legt das Foto auf den Stapel neben sich, dreht es um, ihr sind
die Blicke der Toten unangenehm, und, über diesen Haufen an
Erinnerungen hinwegschreitend, steigt sie in das Revier des
Wolfs.

Sunja hält eine Postkarte in der Hand, eine billige Reproduktion
eines Gemäldes vom Anfang des 20. Jahrhunderts, so viel ist ihr
vom Studium der Kunstgeschichte geblieben, dass sie das
erkennt. Noch so eine Erinnerung, die Sunja vor langer Zeit
begrub. Auf der Karte das Rotkäppchen mit leuchtenden Wangen
und knubbeligen Fingern. Gehüllt in seinen Mantel, einen
verschlossenen Korb vor sich, füllt es fast die ganze Karte, hinter
sich nur der Wald, angedeutete Bäume, die Sunja kaum erkennt,
weil sie auch gar nicht hinschaut, nur Flecken im Hintergrund,
weil sie nur Augen für den Kopf hat, der da zu Füßen des
Rotkäppchens liegt.
Der Schädel, im Dunkel der Karte, in der letzten unteren Ecke,
halbverwest, die Ohren gespitzt, umrandet vom klumpigen Fell,
die Lefzen gebleckt, obwohl ja bereits tot, offensichtlich, denn der
Rest des Wolfs fehlt. Unter dem Kopf sammelt sich Blut, in der
Lache Flecken, die Sunja nicht genauer anschauen will. Maden
ziehen durch das Fell des Wolfkopfs, so viel sieht sie auf der Karte
noch, seine Augen bettelnd auf sie gerichtet. Und während Sunja
auf ihn starrt, nach Pinselstrichen sucht, blinzelt der Wolf mit
schweren Lidern.
Der Wolf erzählt Sunja, wie er einst nicht nur Kinder, sondern
ganze Dörfer verschlang, sein Maul weitaufgerissen, ein Hunger,
der kein Ende kannte, der vor der Sonne und dem Mond keinen
Halt machte, ein Vieh, das sich durch den Himmel und die Hölle
fraß, bevor es sich mit seinem fetten Bauch unter einen der
letzten Bäume legte, wo es im Schlaf ein Mädchen überraschte.
Ein Kind, das mit einem Stein den Bauch aufschlitzte, mit seinen
kalten Händen im Inneren wühlte und den Himmel und die

Hölle, Nieren und Leber, Dörfer und Menschen, Gedärme und
Milz herausriss und auf die mitternachtsschwarze Erde unter
dem Baum legte. All das erzählt der Wolf, während aus dem
Regen vor Sunjas Wohnung ein kaum hörbares Nieseln wird.
Und dann äußert der Wolf seine Bitte.
Sunja hört genau zu. Jedes Wort. Jede Silbe. Alles, was aus dem
verrottenden Maul kommt. Zuerst versteht sie nicht. Der Wolf
würgt kurz und Sunja fragt sich, ob ihm eine Made über die
Zunge in die Kehle kroch, aber was will so ein Kopf schon allein
gegen eine Made machen? Dann erinnert sich Sunja.
Sie erinnert sich an Thomasz, den Austauschstudenten, den
Mann, mit dem sie zum ersten Mal schlief, bei dem sie zum ersten
Mal an die Liebe glaubte. Die langen Nächte, in denen sie bei
einer Flasche Bordeaux in ihrer Studentenwohnung
zusammensaßen, die Gespräche über Gott und die Welt und wie
sie beide so darüber sprachen, als ginge sie nichts etwas an. Wie
Thomasz erzählte und sich dabei mit dem Daumennagel
zwischen den Zähnen kratzte.

Sie erinnert sich an einen Sommernachmittag mit ihren Eltern in
einer großen Stadt, in der ihr die Möglichkeiten endlos schienen,
obwohl sie erst elf Jahre alt war. Sunja sah in diesen Straßen die
Menschen, die lebten wie in den Serien im Fernsehen, Freunde,
Liebhaber, lange Abende in Bars und Restaurants, während an
einer Ecke jemand in seinem Erbrochenen saß.
Sie erinnert sich an ein Weihnachtsgedicht, das sie als Kind an
Heiligabend aufsagte, an ihr Stottern, obwohl nur ihre Eltern im
Wohnzimmer hockten, ihre Gesichter direkt vor ihr, und wie sie
nach der Bescherung am Tisch saßen und ihre Mutter die Haut
von der gebratenen Gans aß, weil dies der beste Teil des Vogels
sei.
Sie erinnert sich an einen Popsong, in dem es um verpasste
Entschuldigungen und zu Staub zerfallende Knochen geht, den sie so oft auf der Rückbank im Honda ihrer Eltern hörte,
während sie in den Sommerhimmel schaute und glaubte, dass sie
der Unendlichkeit nie näherkäme.
Sie erinnert sich an den Ohrfeige ihres Vaters, als er sie mit einer
Zigarette in ihrem Zimmer erwischte, danach rauchte sie nie
wieder.
Sie erinnert sich an die Hände ihres Vaters.
Sie erinnert sich an die leeren Augen ihrer Mutter, als sie im
Pflegeheim neben deren Bett stand, darin der Körper, der sie als
Kind so oft hielt.
Sie erinnert sich an die Tränen, während sie in ihrem Bett mit der
weißen Bettwäsche in dem weißen Raum lag, ihre Arme
bandagiert.
Sie erinnert sich an die brüchige Stimme ihres Bruders auf dem
Anrufbeantworter, der ihr erzählte, dass mit ihrem Vater etwas
passiert sei und sie unbedingt zurückrufen solle.
»Und?«, fragt der Wolf, der nach dem Würgen wieder zu Luft
kommt, obwohl ihm ja die Lunge fehlt. Sunja taucht auf. Sie
blickt dem Wolf in die Augen. Ihr Atem geht schnell, sie spürt
ihren Herzschlag im ganzen Körper. Sie nickt.
»So soll es sein.«
Sunja sitzt in der Küche. Ihre rechte Hand hat sie auf das
Holzbrett gelegt, in der linken Hand hält sie das Küchenmesser,
das, mit dem sie sonst das Geflügel für ihr Essen schneidet, aber
jetzt holt sie Luft und setzt das Messer an ihrem Handgelenk an.
Sie spürt die Kälte an ihrem Handgelenk. Das Messer liegt auf
ihrer Haut, zwischen Muttermalen und ersten Altersflecken.
Dann drückt sie zu.

Eine Klinge gleitet leicht.
Eine Klinge bewegt sich vor und zurück.
Eine Klinge trifft Hartes.
Eine Klinge schneidet durch das Harte. Mehrere Versuche.
Eine Klinge trifft wieder Hartes.
Eine Klinge gleitet, schneidet, sägt
Umständlich, schwer, aber sie sägt.
Mehr Kraft.
Mehr Rot. (So viel Rot, denkt Sunja.)
Dann gleitet die Klinge noch einmal kurz.
Durch.
Sunja laufen der Fleischsaft und das Blut über Kinn und die

verbliebene Hand, die ihr abgetrenntes Gegenstück hält, das
kaum noch zu erkennen ist, weil Sunja hungrig ist.
Den rechten Stumpf hat Sunja in ein Küchenhandtuch gewickelt
und notdürftig mit einem Gürtel abgebunden. Ihr läuft kalter
Schweiß über die Stirn, sie kann sich kaum auf dem Küchenstuhl
halten. Neben ihr der Stapel mit Postkarten und Briefen.
Ihr Blick verschwimmt.
Sunja rutscht vom Tisch ab, fegt den Stapel mit Briefen, Fotos
und Postkarten um, sie kann den Erinnerungen nicht mehr
folgen, sie kann nicht tiefer gehen, auf dem Boden alles ein

Haufen, der sie nicht mehr kümmert, alles Dinge, die ihr so egal,
so nichtig erscheinen, wenn sie an das schwarze Loch denkt, das
in ihr tobt, sich ausbreitet und alles mit sich nimmt, alle
Erinnerungen, alle Weihnachtsbäume, alle Liebe, alles Stottern,
alle Knochen, all den Tod, alles ins Dunkel mit sich reißt.

Vor dem Küchenfenster schiebt sich die Sonne durch die Wolken
und legt einen rostfarbenen Schleier auf die Welt. Zwischen
ihrem Stöhnen und den Schmerzen ist Sunja, als würde etwas
nahe ihres linken Ohres schmatzen.

Philip Krömer: Gute Zeiten für Baba Jaga


Freitagabend, wenn andere noch im Berufsverkehr feststecken, stapft ihr Haus, unbehelligt von Ampeln und Staus, querfeldein bergan. Auf meterhohen Hühnerbeinen ist es unterwegs. Baba Jaga, die Hexe, wohnt hinten im Meilwald, weil die Bäume da so schön hoch wachsen, dass der Giebel ihres Hauses nie über die Wipfel spitzt, selbst wenn es aufrecht steht. Und weil es zwischen den Stämmen immer dämmert.
Dort im Halbdunkel geht ihr bisweilen ein unvorsichtiger Spaziergänger in die Falle. Der landet im Kochtopf, sie ist eine Hexe, was kann sie dafür? Seit sie in der Walpurgisnacht mit dem Leibhaftigen Unzucht trieb (Hand aufs Herz, ein schöner Mann ist das, den von der Bettkante zu stoßen, dazu hätte es größter Selbstbeherrschung bedurft) schmecken ihr weder Schäuferle noch Kloß. Mensch muss es sein. Und die Erlanger sind, weil entspannt und gepflegt (dieses Durchschnittseinkommen!), einfach am zartesten. Die kann sie nur empfehlen.
Wenn es dann aufs Wochenende zugeht, unternimmt sie einen ihrer Jagdausflüge den Burgberg hinauf. Sie pflanzt ihr wandelndes Haus oben in den Garten einer Villa. Dort steht es und leuchtet rot aus den Fenstern, bis der Villenbewohner, der vielleicht geerbt oder einen hochdotierten Posten innehat, um sich die Wohnlage leisten zu können (diese Quadratmeterpreise!), den Flackerschein bemerkt und nachsehen geht. Er nähert sich, einen Golfschläger als Prügel erhoben, der seltsamen Hütte. Hat seine Frau, während er im Büro war, flugs ein Gartenhaus aufstellen lassen? Sie monierte, dass sie eines bräuchten. Aber warum bloß hat sie sich für dieses Modell entschieden, das schon jetzt morsch aussieht?
Nun schwingt die Tür auf und, leger im Rahmen lehnend, erwartet ihn ein Schemen. „Wer da?“, ruft der Bewohner. Gegen das aus dem Inneren fallende Licht sind keine Details erkennbar. „Maria?“ Denn so heißt seine Angetraute. Eine Antwort bekommt er nicht. Dafür schlägt beim Nachbarn ein Hund an. Und der Mond scheint hell.
Maria hat auch gar nichts mit dem Häuschen zu schaffen, sie kommt selbst spät vom Pilates und findet keine Spur von ihrem Mann, obwohl sein Auto im Carport steht. „Heiner?“, ruft sie. Doch der Heiner schwimmt, sauber aufgebrochen, zerteilt und filetiert, in Baba Jagas Kochtopf. Die Brühe schwappt wild, während das Haus auf hohen Beinen den Hang wieder hinabsteigt und heimkehrt in den Meilwald.
Tags darauf schnappt sich die Hexe einen ausgebüxten Hund, den kocht sie mit, für die Würze. Oder einen Mountainbiker, der sportlicher aussieht, als er schmeckt. Selten, in besonders nebligen Nächten, befiehlt Baba Jaga ihrem Haus, bis runter in die Innenstadt zu wandern, der knackigen Studenten wegen, die fast alle hier unten wohnen und kaum einer am Berg (diese Mieten!).
Einer von ihnen macht sich etwa als letzter einer Gruppe Feierwütiger vor Trunkenheit stolpernd auf den Heimweg. Er sieht Baba Jagas Haus zwischen zwei Altbauten hocken, wo sich eigentlich eine Hinterhofeinfahrt befinden sollte. In diesem Viertel kennt er sich nicht so gut aus. Das Unerhörte der Situation entgeht ihm. Er glaubt, hinter den rot erleuchteten Fenstern erwarteten ihn weitere nächtliche Zecher, eine WG-Party vielleicht, zu der man auch ungeladen auftauchen kann. Seit dem folgenden Morgen wird er vermisst.
Ihre Nase ist warzenbesetzt, ihr Hut ist spitz. Ihre Kräfte sind ungeheuerlich, ihr Hunger ist schier unermesslich. Zwischendurch lässt sie ihr laufendes Haus auf einem Hänger platznehmen, spannt einen betagten Geländewagen davor und zieht es auf den Schlossplatz. Dort verkauft sie aus dem Fenster heraus Konserven. Ein Zauber verbirgt das Hexenhafte in ihrem Gesicht, damit niemand Verdacht schöpft. Der Hut hängt am Ständer. Auf den Dosen steht „Hausmacherwurst“ und „Frühstücksfleisch“ und „Leberaufstrich“. Darin ist aber ein Fußgänger, ein Hund, ein Mountainbiker, ein Student und der Heiner. Entbeint und gesotten. Für eine Baba Jaga allein ist die Ausbeute eh zu üppig, egal wie groß ihr Hunger ist.
Indem sie den Erlangern die eigenen Mitbürger zu Fraß vorsetzt, zeigt sie sich dem Leibhaftigen als fleißige Adeptin des Bösen, dem sie sich verschrieben hat. Und die Erlanger greifen gerne zu. Wo sie doch so zart sind, so unendlich zart.

Margit Heumann: Nostalgisches Rezept

Man nehme seine frühen Erlebnisse,
und bestreiche sie mit einer Krem
aus Subjektivität und Idealisierung.
Nach einer üppigen Verjährungsfrist
von mehreren Dekaden
staple man sie hübsch übereinander
und ziere nach Belieben
mit geriebener Übertreibung,
schiftelig geschnittenen Floskeln
oder feinblättrigem Pathos.
Vor dem Servieren bestreue man sie
mit reichlich Zucker
der verklärenden Erinnerung.
Guten Appetit.

Elisabeth R. Hager: HARAKEKE

Te harakeke
Te korari
Nga taonga whakarere iho
O te rangi
O te whenua
O nga tupuna
Homai he oranga mo matou
Tihei mauri ora1

Das dunkle Deckhaar der Ärztin wippt strähnig vor und zurück, während sie dem Paar, das hinter ihr aus dem Behandlungszimmer tritt, zum Abschied zunickt. Im Hintergrund dudelt ein Weihnachtslied, dabei ist heute schon der zweite Januar. Das Paar – er Surfbuddy mit Basecap, sie strahlende Yoga-Augen, winziger Bauch – winkt uns im Vorbeigehen zu. Die Ärztin bleibt einen Moment von uns abgewandt stehen. Ich spüre, wie fertig sie ist. Dann dreht sie sich her.

„Hello, Tommy Tuwhare and Rosmarie?“

„Schweiger.“

Ihr von Zähnen gerahmtes Lächeln macht kurz Pause, dann setzt sie umso freundlicher an: „Happy new year to the three of you.“

„Happy new year to you too,“ sagt Tommy.

„Please follow me“, sagt die Ärztin und tritt vor uns ins Behandlungszimmer.

Beim Blick auf ihren fettigen Haaransatz bekomme ich Gänsehaut. Wahrscheinlich liegt es an der aufgedrehten Klimaanlage. Ich greife nach Tommys Hand. 

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Wir stehen im Halbkreis um den Flachsbusch herum, zwei junge Französinnen, Kristin, ich und in der Mitte Heather, unsere Lehrerin. Die Nachmittagssonne knallt  herunter und überzieht das Gestrüpp vor uns mit einem mattweißen Film. Wir sind hier, um die Grundtechniken des Harakeke² zu lernen, des traditionellen Flechtens der Maori. Es war Kristins Idee, aber ich bin nicht komplett dagegen. Besser als daheim in der Badewanne sinnlos vor mich hinzuschrumpeln.

Die Flachsblätter ragen als biegsame Lanzen in die Höhe. Manche sind geknickt wie Strohhalme. Ich schaue zu Heather hinüber. Alles an ihr wirkt dunkel, großporig, fleischig. Ihre Beine in den Shorts, die Schultern im grellgelben Tank Top, die knollige Nase. Der Pounamu³ um ihren Hals ist groß wie ein Faustkeil. Heathers Locken bauschen sich unter einem geflochtenen Haarband. Ihre Finger sind flink wie Tentakeln. Sie wandern die Blätter entlang, scheinen Längen zu messen, Breiten zu erfühlen. Heather nickt, dann bückt sie sich, setzt andeutungsweise die Klinge ihres sichelförmigen Sägemessers an und nimmt mit jeder von uns Blickkontakt auf.

„To harvest Harakeke you need strong arms.“

Keine von uns hat Arme wie Heather, aber es wird schon irgendwie gehen.

„And something else: Are any one of you ladies having your moon-days?“

Die Französinnen werfen einander entrüstete Blicke zu. Kristin schüttelt den Kopf. Ich mach es ihr rasch nach.

„It’s just: Girls who are having their period are not allowed to cut Harakeke. It’s tapu4.“

Die Augen der Französinnen weiten sich. Heather wirft ihnen einen ernsten Blick zu.

„So you two girls don’t bleed either, ey?“

Sie winden sich noch ein bisschen, schütteln dann aber auch ihre Köpfe.

„Okay then, let’s get started. Just watch my movements, then take the knife and copy me. But before we start, I want everybody to silently thank the plant“, sagt Heather.

Sie murmelt ein paar Sätze auf Tereo5. Dann beginnt sie zu sägen.

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„There’s nothing in here about former scans for baby?“ sagt die Ärztin und schaut mit hochgezogenen Brauen vom Mutterschaftsheft auf, erst zu Tommy, dann zu mir.

„Rosi is from Austria“, springt Tommy mir bei. „She’s been here for just a few months and didn’t get medical treatment on her tourist visa. We got clearance on the 23rd, so we made the appointment for today.“

„I see“ sagt die Ärztin. „A little Christmas present from our New Zealand government“, und fletscht wieder die Zähne.

„How do you feel, Rosi? Your’e at thirteen weeks I guess?“

„Fourteen weeks. I feel good. Just tired, but the sickness is gone.“

Die Ärztin sagt etwas, das ich nicht verstehe, und deutet mir, mich hinzulegen. Sie zieht mein Kleid hoch und schmiert kaltes Gel auf meinen Bauch. Dann klappt sie einen Screen in meine Richtung.

„You guys must be really excited to see baby for the first time.“

Wir nicken. Die Ärztin lächelt. Dann fährt sie mit einem grauen Joystick über meinen Bauch. Tommys Hand ist vor Aufregung feucht. Er lächelt mir zu, dann sehe ich sein schönes, ernstes, auf den Bildschirm gerichtetes Profil, konzentriert wie bei einer Sportübertragung.

„Your baby must be hiding very well“, sagt die Ärztin, während sie auf meinem Bauch Pirouetten dreht. Plötzlich bekommen ihre Bewegungen eine Unwucht. Sie nimmt das Gerät von der Haut, setzt es wieder an. Macht ein paar Fahrer, hört wieder auf. Kommentarlos klappt sie den Bildschirm von mir weg und zieht nun ganz langsam und mit zusammengepressten Lippen Kreise um meinen Bauchnabel.

„Not sure… Not sure, what that actually…“

Dann bricht ihre Stimme und die Bewegung erstarrt.

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„Look at the plant. See those tiny leaves in the middle? That’s what we call the baby. It’s protected by its father on the right and its mother on the left side. Cutting Harakeke you’ll always go for the grandparent-leaves and let alone the parents and the baby. If you regularily cut the elders you’ll get a beautiful, healthy plant.“

Heather lacht, dann wird sie ernst.

„Here, Rosy! Have a go!“

Ich knie mich unter den Strauch und beginne von außen nach innen Blätter abzusägen. Eine Spinne seilt sich vom Blatt auf meine Hand. Ich schüttle sie ab und setze die Klinge neu an. Es dauert ein paar Sekunden bis ein Blatt durchgesägt ist. Dann fällt es schwer und lang zu Boden.

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Die Ärztin fängt sich wieder, doch einen Augenblick lang sehe ich deutlich ihr Entsetzen. Tommys Augen sind unbewegt auf den Bildschirm gerichtet. Die Ärztin deutet mit spitzen Fingern auf etwas, setzt zu sprechen an, zögert. Schließlich sagt sie es doch: „I haven’t seen this in a long time.“

Ich hebe den Kopf und stemme den Oberkörper hoch, um Sicht auf den Bildschirm zu bekommen. Was ich sehe, ergibt keinen Sinn. Das da auf dem Monitor sieht nicht aus wie ein Baby. Es sieht wie aus ein aufgequollenes Gummibärchen, das in einer engen Wasserhülle schwimmt.

„Very rare“, sagt die Ärztin nach langem Schweigen. Dann entschuldigt sie sich. Mir schießen Tränen in die Augen. Ich höre Tommy und die Ärztin reden. Schnell und hektisch und besorgt. Immer wieder höre ich, englisch ausgesprochen, die Worte Hydrops fetalis.

„Hydrops fetalis“, sagt die Ärztin wieder. Und ich kann nicht anders als denken, dass die Sau sich nicht mal die Haare gewaschen hat, bevor sie mir diese Scheiße antut.

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Jede von uns braucht zehn Blätter des Hakareke-Buschs für unser erstes Werkstück. Wir schleppen die Blätter auf eine große, geflochtene Matte, die Heather auf dem Rasen vor ihrem Häuschen ausgebreitet hat. Ein alter, dunkler Mann in einer ausgebeulten Jeans trägt unter jedem Arm einen blau-weiß gestreiften Sonnenschirm aus dem Schuppen zu uns herüber. Auf seinen Wangen prangen in grünlichen Spiralen Tā moko7, dünn tätowierte Linien.

„Say Hi to my pupils, Nathan, you old fart“, lacht Heather.

Nathan hebt die Hand, spreizt die Finger, bleckt die Zähne und sagt: „Hi folks!“

Während er die Sonnenschirme in die Ständer hievt, kommt ein etwa siebenjähriger Junge mit wippendem Haarschopf aus dem Haus gelaufen, ein Tablett mit fünf Saftgläsern in Händen.

„Thanks Mokupuna6“, sagt Heather lächelnd, als er bei ihr ankommt, und nimmt sich ein Glas.

„This is my grandson Witi. He’s a good boy. Help yourself!“

Ich nehme mir ein Glas, bedanke mich mit einem Nicken bei Witi und Heather und nehme einen Schluck. Kaum hat Kristin sich das letzte Saftglas genommen, rennt der Bub wortlos mit dem leeren Tablett ins Haus zurück, während der alte Mann noch ein paar Augenblicke um uns herum flattert und die Schirme aufspannt. Dann verschwindet auch er wortlos im Schuppen neben dem Haus.

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Auf der Rückfahrt brennt die Sonne durch die Windschutzscheibe. Ich habe gelesen, dass man in Neuseeland sogar durch Fensterglas einen Sonnenbrand bekommen kann. Wir treffen hier ständig Leute mit Sonnenbrand. Viele der Älteren haben Hautkrebs. Irgendwann bricht es aus mir heraus: „What are we going to do now?“

Ich sehe den Horror in Tommys Augen. Erst jetzt, schießt es mir durch den Kopf, lernen wir uns kennen. Und Tommy ist einer, der den Schmerz einfach verschluckt.

„Further examinations“, sagt er nach einer langen Pause. Dann biegt er in den schmalen Weg zur Selbstbedienungstankstelle ein, steigt aus und bleibt ein paar Herzschläge lang wie ausgeknipst neben der Tanksäule stehen. Während der Schlauch Benzin in Tommys Auto pumpt, schaue ich auf einen kreisrunden Vogelschiss auf der Windschutzscheibe.

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Heather zeigt uns wie wir die Blätter knicken müssen, damit wir gleich große Hälften bekommen. Dann reißen wir unter ihrer Anleitung Flachsstreifen ab. Sie dreht sich eine Zigarette und lässt genüsslich ein paar Minuten verrauchen, während wir uns mit dem Flachs abmühen. Ich brauche ewig, bis ich die Blätter zu zwanzig, zirka gleich dicken Streifen verarbeitet habe. Als wir fertig sind, nimmt Heather die stumpfe Seite ihrer Sichel und zieht die Unterseite des dünnen Streifens kraftvoll drüber: „It’s a bit like wrapping up your christmas presents. Remember? You hold the strip on one side and pull it over the edge to get the juices out and make our strips soft and bendy.“

Ich halte den Flachsstreifen in der einen Hand und ziehe ihn über die Klinge. Hellgrüner Saft dringt aus den Poren.

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„Tu dir das nicht an“, sagt meine Mutter am Telefon, als ich ihr erzähle, dass ich warten will, wie sich mein Baby im Bauch entwickelt.

„Tu dir das bitte nicht an“, sagt sie noch einmal und stößt einen endlosen Seufzer aus. Dann erzählt sie von ihren Schwangerschaften. Sie rückt mit Geheimnissen raus. Überhaupt rücken die Frauen in meiner Umgebung plötzlich alle mit Geheimnissen raus. Hinter der Welt, die ich kenne, mit ihren Gesetzmäßigkeiten und Regeln, schält sich eine zweite heraus: schleimig, stinkend und monströs. Eine Welt, in der Frauen einander traurige Geschichten zuflüstern, die der offiziellen Welt nicht zumutbar sind. Ich will das Fenster aufreißen und rausschreien, was mit mir ist. Ich will die offizielle Welt, die Welt der Regeln und Gesetze, mit meinem stinkenden Schleim überziehen. Ich will, dass sich die Welten begegnen. Auf dem Flachsbusch vor dem Fenster sitzt ein Tui und lässt sein stranges Gezwitscher hören, diesen typisch neuseeländischen Synthesizer-Sound. Dann höre ich den Rasenmäher. Unser Nachbar hier, ein pensionierter Busfahrer, der uns immer mal wieder eine Gurke aus seinem Garten vor die Haustür legt, fährt seinen Mähtruck aus der Garage. Er winkt. Hier winken immer alle so freundlich. Wo stecken die nur ihre Leichen hin? Ihre Totgeburten? Ich versuche ein Lächeln, hebe den Arm. Dann gehe ich zur Couch zurück, ohne den Nachbarn und seine Welt aus Regeln und Gesetzen mit meinen Geschrei zu verstören, das von ganz unten kommt, aus dem Erdkern zwischen meinen Beinen. Stattdessen mache ich Youtube an und singe leise mit.

It must be that old evil spirit /
So deep down in the ground /
You may bury my body /
Down by the highway side/
You may bury my body/
Down by the highway side.

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Wir sind bei Tommys Familie zum Essen. Von allen Seiten wird mir Fleisch und geröstete Kumara8 auf den Teller gelegt. Wir erzählen nichts von den Untersuchungen. Tommys Mutter soll sich nicht unnötig aufregen. Sie hat ein leichten Herzinfarkt hinter sich und wälzt sich auch so schon im Schlaf hin und her. Der Termin in Auckland ist in drei Tagen. Ich weiß den ganzen Abend nicht, was ich sagen soll und stopfe Unmengen an Fleisch und Kumara in mich hinein. Der Großteil der Leute, denen ich hier begegne, hat mittleres bis schweres Übergewicht. Niemand, der es nicht weiß, bemerkt, dass ich schwanger bin. Stattdessen loben alle meine schlanke Figur.

Tommy hat seine eigene Strategie mit dem Ganzen fertig zu werden. Er redet nur das Nötigste und spielt in jeder freien Minute Minecraft auf dem Tablet. Das ist das Spiel, bei dem man alles Mögliche aus würfelförmigen Blöcken bauen kann. Übers Wochenende hat er eine riesige, goldene Pyramide gebaut. Im Inneren soll eine Krypta entstehen, wo er, falls unser Baby stirbt, eine Gedenktafel anbringen will. Ich weiß nicht warum, aber neben der Pyramide hat Tommy eine Gartenanlage mit einem großen Spielplatz gebaut.

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Das Krankenhaus von Auckland ist riesig. Es dauert fast eine Viertelstunde bis wir im richtigen Stock vor dem richtigen Behandlungsraum stehen. Bei der Untersuchung, zu der wir gehen, wird ein stricknadeldickes Werkzeug durch die Bauchdecke der Patientin gestoßen. Ich hab es mir vorher im Internet angeschaut. Es besteht eine zwei bis vierprozentige Chance, dass der Fötus beim Eingriff verletzt wird oder stirbt. Wir müssen vorher unterschreiben, dass wir dieses Risiko eingehen. Wir diskutieren lange, unterschreiben dann aber doch. Während wir warten, spielt Tommy Minecraft auf dem Tablet. Ich schaue ihm zu, wie er Blöcke hin und her schiebt, zerstört und wieder neu anordnet. Als er meinen Gesichtsausdruck sieht, macht er das Tablet aus und nimmt mich in den Arm.

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„Are you alright?“ Heather schnippt die Finger vor meinen Augen. Ich nicke und starre erst auf ihren abstehenden, grünverfärbten Daumen, dann auf die beiden Flachsbänder, die sie in der anderen Hand hält.

„If you want to weave a basket, just looking at what other people do, doesn’t help. Your body must learn the movements.“

Ich nicke und lege die beiden Bänder so nebeneinander, wie sie es mir gezeigt hat. Dann beginne ich zu flechten. Ich knicke ein Blatt um und schiebe ein zweites darunter. Ich lege ein Drittes daneben und webe es unter die anderen. Und immer so weiter, eins nach dem anderen, gewinnt das Körbchen an Tiefe und Raum.

Während wir die einzelnen Stränge verweben, erzählt Heather uns alte Maori-Legenden. Es wirkt, als wären die Geschichten Teil des Programms, das sie bei jedem ihrer Workshops abspult, aber interessant es ist trotzdem. Ich erzähle nicht, dass ich keine echte Touristin bin und viele der Geschichte von Tommy kenne. Ich höre einfach zu und flechte. Hauptfigur der Sagen ist Māui te tikitiki a Taranga, einer der Söhne von Ranginui und Papatūānuku, Vater Himmel und Mutter Erde. Heather erzählt die Geschichte, wie Māui die Sonne mit einem Seil gezähmt und die beiden Hauptinseln Neuseelands mit dem magischen Backenknochen seiner Großmutter an Land gezogen hat

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„I’m not a breeder“, hat Tommy ganz am Anfang unserer Beziehung einmal gesagt. Für mich war das in Ordnung. Die Vorstellung, selbst Mutter zu werden, fand ich bis Anfang Dreißig absurd. Ich wollte studieren, reisen, Politik machen. Doch wenige Tage nachdem Tommy mich in Auckland vom Flieger abgeholt hat, ist mir nach dem Yoga schwindlig geworden. Dann haben die Brüste begonnen, so komisch zu spannen. Zwei Wochen lang dachte ich noch, es läge am Jetlag. Dann hab ich doch einen Test gemacht. Und als ich Tommy die beiden Striche drauf gezeigt hab, konnte ich an seinem Gesicht ablesen, dass er doch ein Breeder ist.

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„Māui has not just fished up New Zealand. He also tried to conquer death“, sagt Heather und richtet ihr Werkstück auf dem Schoß neu aus. Dann erzählt sie, wie er nach vielen anderen Heldentaten Hine nui te Po, die Göttin der Nacht und des Todes bezwingen wollte. Seine Freunde, die Vögel des Waldes, begleiteten ihn. Als sie bei der Göttin ankamen, schlief sie tief und fest. Māuis Plan war es, den Geburtsvorgang umzukehren, durch die Vagina in den Körper der Göttin einzudringen und sich einen Weg bis zum Mund hinauf zu bahnen, sie zu töten und den Tod so zu besiegen. Er bat die Vögel, still zu sein, um die Göttin nicht zu wecken und kroch langsam in ihre Vagina. Alle Vögel waren still, nur einer, der Fantail, konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Da machte die Göttin die Augen auf, presste erschrocken die Schenkel zusammen und zerquetschte Māui.

„This is the reason why humans are mortal“, sagt Heather und knüpft eine letzte Reihe Flachsstränge zusammen.

„And it’s also the reason why in Tereo we call the vagina ‚Whare o Aitua or Whare o Mate‘, house of misfortune and disaster.“

Sie bricht in ein schallendes Lachen aus, das nur langsam verebbt. Dann schaut sie uns herausfordernd an: „Now ladies, I’ll show you how to finish your baskets.“

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Ich träume, die Abtreibungsärztin ist eine hünenhafte Fa’afafine9 mit Knoten auf dem Hinterkopf und Blume im Haar. Unterm weißen Kittel trägt sie ein Abendkleid. Während wir über die Diagnose reden, hält sie meine Hand. Erst jetzt wird mir klar, wie sehr ich mich schäme, dass mein Körper seine Kraft und Liebe in den Versuch investiert, ein nicht lebensfähiges Wesen herzustellen. Und dass ich dieses kaputte Ding trotzdem schon liebe. Die Ärztin erzählt von ihrer Kindheit als Junge in Samoa, vom Rugbyspielen und den Ringkämpfen, an denen sie teilnehmen musste, um den Vater nicht zu enttäuschen. Und vom Mut, sich schließlich zu erlauben, sie selbst zu sein. Im Moment bevor ich aufwache, sehe ich ihre rotgeschminkten Lippen in Großaufnahme vor mir. Sie flüstert mir mit tiefer Stimme ins Ohr: „If you fuck up a cake, you bake another one.“

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Nachdem unsere Körbchen geflochten sind, sitzen wir noch eine Weile auf der ausgebreiteten Matte um Heather herum, nippen an den Saftgläsern und hören zu, während sie erzählt, wie sie vor einem halben Leben von ihrer Großmutter das Flechten gelernt hat. Die anderen beratschlagen, wofür sie ihre Körbchen verwenden und was sie darin aufbewahren wollen. Ich kann nicht sagen, wofür ich meines brauche, aber ich bin zufrieden. Mein Körbchen ist schön. Hinter den Harakeke-Büschen beginnt es zu dämmern, rosa Wolkenschwaden treiben über den Himmel. ‚Die Engel backen Kuchen‘, hat meine Mutter mir als Kind beim Blick auf das Abendrot erklärt. Irgendwann stehe ich auf, gebe Heather die zwanzig Dollar und verabschiede mich.

„Take care, Sweetheart“, sagt sie und steckt den Geldschein in die Hosentasche.

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Auf dem Spielplatz an der Taupiri Avenue spielen noch ein paar Kinder. Ich bleibe etwas entfernt an einem der großen Pohutukawa10 Bäume stehen und schaue ihnen zu. Zwei Buben im Vorschulalter turnen auf den Geräten herum, ein dickes, blondes Mädchen schaukelt. In der Ferne ragen Palmen auf wie Staubwedel, durch die der Wind fährt. Zwei Häuserzeilen, dahinter ist schon das Meer. Es brandet direkt an mein Ohr. Plötzlich kommt aus einem der Häuser, im Halbdunkel, ein kleiner weißer Hund gelaufen. Er springt auf das Mädchen zu, lässt sich von ihr streicheln, wirft sich auf den Boden vor der Schaukel. ‚Tu dir das nicht an‘, höre ich meine Mutter sagen. Ich stelle sie mir vor, wie sie mit in Sorgenfalten gelegter Stirn in unserer vertäfelten Tiroler Stube steht, auf der anderen Seite der Erdkugel, und sich das graue Telefonkabel, ohne es zu merken, um den Arm wickelt. Im Kachelofen ein Feuer. Vor dem Haus zwei Meter Schnee. ‚Tu dir das nicht an.‘

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Am nächsten Morgen fahren wir ins Krankenhaus. Die Tablette, die ich vor dem Einschlafen genommen hab, scheint zu wirken. Ich weine nicht, spüre nur eine Leere in mir, Vorbotin der noch größeren Leere, die mir bevorsteht. Das geflochtene Körbchen liegt auf meinem Schoß, so feierlich, als läge unser totes Baby schon darin.

„I told you a few legends about Māui“, sagt Tommy in die Stille hinein und deutet mit der Hand, die nicht am Lenker liegt, auf das Körbchen.

„Yeah.“

„But did I tell you how he was born?“

Ich schüttle den Kopf. Zum ersten Mal seit Wochen sehe ich Tommy lächeln.

„When Taranga, Māuis mother, gave birth, she thought Māui was dead. She thought her son was stillborn. So she cut off her hair, wrapped it around him and gave his body to the sea.“


Sprecherin: Verena Schmidt
Regie: Lukas Münich
Schnitt: Andreas V. Weber

Glossar:

1 Karakia (Gebet) vor dem Flechten von Harakeke. Der Karakia ist eine Anrufung der Harakeke-Pflanze, ein Lob ihrer Eigenschaften & ein Dank dafür, dass sie ihre Blätter gibt. Karakia werden traditionell nicht wörtlich übersetzt.

² Harakeke: Neuseelandflachs

³ Pounamu: dunkelgrüner Stein, der als Anhänger um den Hals getragen wird (Maorijade)

4 Tapu: Tabu, etwas Heiliges

5 Tereo: Sprache der Maori

6 Mokupuna: Kind/Sohn

7 Tā moko: traditionelle Tätowierung der Maori

8 Kumara: weißliche Süßkartoffel der Maori

9 Fa’afafine: eine Person, die sich der Einteilung in zwei Geschlechter entzieht (körperlich werden Fa’afafine meist als „männlich“ gelesen, sozial aber als „weiblich“)

10 Pōhutukawa: Baumart mit schönen, roten Blüten (Eisenholzbaum)

Margit Heumann: Schlagerschnulze

Einst war ich eine verlassene Frau
es wäre für mich der Supergau
wenn ich unbemannt bliebe.

Was tut eine Frau, wenn es wirklich hakt
auf der Jagd nach dem Liebeskick?
Sie googelt und tindert und sucht Kontakt
und findet im Netz ihr Glück.

Einen Gentleman hab ich gefunden
wie‘s ihn nur einmal gibt,
Hals über Kopf in wenigen Stunden
war ich in Hannes verliebt.

Es folgten Zeiten voller Glück,
Hannes war in allem mein Held,
drum gab ich ihm alles und hielt nichts zurück,
Weder Liebesbeweise noch Geld.

Nicht lang, denn kaum war das Konto leer,
auf den letzten Cent geräumt,
da war er weg, der feine Herr,
und mein Liebestraum ausgeträumt.

Und die Moral von der Geschicht‘:
Bist du auf Männersuche,
trau keinem Gentleman nicht
sonst schlägt das Minus zu Buche.

Michael Schmidt: Wuiser und die Legenden

„Also, ich weiß nicht. Diese Heiligen, das sind schon lauter seltsame Leut. Kennen Sie einen Heiligen? Ich meine, persönlich? Nein? Dumme Frage auch von mir. Weil Heilige, denen sieht man’s zu Lebzeiten auch gar nicht an, dass sie welche sind. Die werden ja erst dann heiliggesprochen, wenn sie schon lang tot sind. Trotzdem denk ich mir, kann’s ja sein, dass man schon mal einem begegnet ist, hier im Bus herinnen oder in der Sauna oder im Wirtshaus und so weiter. Anmerken tut man es ihnen halt nicht unmittelbar. Und einen Heiligenschein, den kriegen sie auch erst nachher. Als Voraussetzung, dass man ein Heiliger werden kann, muss man ja erst einmal ein paar Wunder gewirkt haben. Nachweislich! So wie der Herr Hämmlein zum Beispiel. Der studiert mittlerweile schon seit 26 Semester, und trotzdem studiert er allweil noch und kommt darum auch immer wieder dem Arbeitsamt aus. Dass der das überhaupt schafft, ist für uns alle ein Rätsel. Und dass er in seinem Alter dann auch noch fünf Nächte pro Woche durchmachen kann, grenzt schon an ein Wunder. Dass der das überhaupt so aushält, mein ich! Ist ja nicht normal. Schon fast übermenschlich! Nach 23 Semester allweil noch studieren, das ist ja schon extrem, aber nach 26! Also, wenn dem das nicht mal als ein Wunder ausgelegt wird, würd mich das tatsächlich wundern. Ein anderes Wunder, von dem auch eine Legende umgeht, ist das von dem einen Vorfahr da vom Professor Wuiser. Dem ist eines Tags einmal ein Zweig aus dem Hirn gewachsen. Wie von einem Zwetschgenbaum so einer. Ja! Tatsache! Kommt in der Früh so auf und denkt sich: Mensch, was hab ich denn da am Hirn oben! Hab ich mich da gestern im Rausch etwa noch wo angerannt? Nein, weil wie er da dann so abtastet, stellt sich heraus, dass da ein Zwetschgenzweig aus seinem Hirn rauskommt. Der hat dann natürlich gleich die volle Panik gekriegt, aber mit der Zeit kann man sich ja bekanntlich an alles gewöhnen. Noch dazu, weil ihm der Pfarrer gesagt hat, dass das halt ein Wunder ist und für Wunder nichts Seltenes, dass einem da oder dort wo was rauswächst, mit dem man gar nicht gerechnet hat. Und der Vorfahr vom Herrn Wuiser hat dann halt damit gelebt. Hat recht bald sogar die Vorteile da gesehen und von den Leuten Geld bekommen, damit sie ihn sehen und dieses Wunder anbeten dürfen. Und wie der Zwetschgenzweig auch noch getragen hat, hat er daraus einen Schnaps gemacht und auch den verkauft. Ist reich geworden damit! Und darum geht noch heut die Legende vom Wunder-Wuiser um. Nur der Professor Wuiser selbst, der winkt nur immer wieder ab, wenn wir drauf zu sprechen kommen. Der glaubt nicht an das Zeug, sagt er immer wieder. Außerdem glaubt der eh gar nichts. Der glaubt ja nicht einmal, dass der Herrgott damals barfuß übers Wasser gegangen ist.“

Margit Heumann: Vom Sautreiben

Pass auf, wenn du eine Sau im Stall hast. Sie braucht ein weiches Bett aus Stroh, will gefüttert, gestriegelt und gestreichelt sein. Und halte sie von fremden Sauen fern, sie könnten sie mit Krankheitserregern infizieren. Du sieht, Ihr Wachsen und Gedeihen erfordert deine ganze Aufmerksamkeit und jede Menge Lernbereitschaft, denn deine Nachbarn werden dich mit guten Ratschlägen über Futterqualität, Antibiotika, Wachstumshormone überhäufen, die Nachbarn haben das alles schon hinter sich und angeblich beste Erfolge damit erzielt. Am Ende hast du alles ausprobiert und weißt nicht mehr, was deiner Sau gut getan und was ihr geschadet hat und fürchtest schon, dass sie eines viel zu frühen Todes stirbt.

Sei vorsichtig, wenn du Sauen anderer Züchter bewertest. Studiere zuerst die gängigen Zuchtziele, lerne alles über Ertrag und Fleischqualität, bevor du über Fruchtbarkeit, Krankheitsresistenz, Stresstoleranz und Magerfleischanteil schwadronierst. Wundere dich nicht, wenn deine Ansichten belächelt, ja als unqualifiziert abgetan werden, weil Einigkeit darüber herrscht, dass es dir nicht ansteht, das Maul soweit aufzureißen.  

Gib acht, wenn du deine Sau auf den Markt treibst. Du musst damit rechnen, dass man dir deine schöne Sau neidet, den Erfolg missgönnt, dass es ein Spießrutenlaufen wird, es hagelt Hiebe von allen Seiten und du kannst noch von Glück sagen, wenn es nur Ruten sind und keine Schwerter, die deine Sau in Stücke hacken, bis sie faschiert im Dreck der öffentlichen Missgunst liegt. Da kannst du nur den Kopf einziehen, dich ducken und so schnell wie möglich in den Stall zurückrudern.

Und du hast wieder etwas gelernt: Wenn nächstes Mal eine Sau durchs Dorf getrieben wird, wirst du unbedingt zu denen gehören, die Spalier stehen und Ruten haben.

Sabrina Marzell: Legenden

Ihre Nase blutet schon wieder. Vergiss nicht zu spucken und schau dir die Wolken an. Ich wühle so lange im roten Sand nach deinem Zahn.  Der Boden zieht mich an 


Die Fliegengittertüre schnalzt. Jemand zerhackt Kreide. Als ich in die Chipstüte greife, klatscht Steffi´s Hand in mein Gesicht. Sie wird mit dem Schimmelreiter untergehen 


Im Schatten der Reben. Der größte Idiot im ganzen Viertel zündet gerade die Parkbank an. Seitdem teilen wir uns zweieinhalb Quadratmeter Balkon 


Mein erster Bezug zur Form ergab sich aus dem formen von Matschfiguren. Meine Brust pochte und ich schüttelte den Kopf, als ich die übrig gebliebenen Körperteile (kleine Zweige) in der Pfütze liegen sah 

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Ungläubig verließ ich den Ort