Christian Knieps: Der Mann mit der Lampe

Ein-Mann-Eine-Szene-Ein-Kurzstück.

Personen

Der Mann mit der Lampe.
Der Anrufer (nur als Stimme).

Set

Neben einem Lesesessel steht eine Lampe. Eine mit einem großen Stoff-Schirm, wie sie in den Siebzigern modern waren. Nicht zu bunt, aber auch nicht zu altbacken. Der Lampenständer sollte aus einem glänzenden Material sein, z.B. Messing. Auf der anderen Seite des Lesesessels steht ein Beistelltischchen, auf dem mehrere Bücher und ein Handy liegen.

Szene

Ein Mann sitzt in dem Lesesessel und liest ein Buch. Er ist auf einer der letzten Seiten. Neben ihm brennt die Lampe und bietet genügend Licht, um gut lesen zu können. Der Mann blättert eine Seite nach der anderen um, liest. Zwischendurch lächelt er an einer Stelle, dann wieder legt er seine Stirn in Runzeln. Am Ende des Textes hält er kurz ein und starrt auf die letzte Seite, dann klappt er das Buch zu, fährt mit der flachen Hand über das Cover, nimmt es hoch, schaut wie gebannt auf den Umschlag und küsst das Buch sanft und innig. Dann schließt er die Augen, führt das Buch an seine Brust, hält es wie eine überaus wichtige Sache fest umschlungen.
Mann indem er mit geschlossenen Augen spricht; ruhig:
Wie schön wäre es nur, solch ein erfülltes Leben zu führen! Unfassbar! Einfach unfassbar! Diese Liebe! Diese tiefempfundene Liebe! Dieses Vertrauen! Dieses unendliche Vertrauen! Warum kann es eine solche Liebe, ein solches Vertrauen, ein solches Leben nicht in Wirklichkeit geben? Warum müssen wir uns damit abfinden, dass es niemals so sein wird wie im Roman? Warum kann die Welt nicht so sein, dass wir uns gegenseitig respektieren, lieben, verstehen, achten…
Das Handy klingelt; der Mann ist im ersten Moment erschrocken, legt dann aber das Buch auf seinen Schoß, nimmt das Handy, drückt eine Taste und hält es an sein Ohr.
Mann indem er recht unsicher spricht:
Hallo?!
Anrufer dessen Stimme aus dem Hintergrund gut zu hören ist:
Nun ja! Ähm! Hallo!?
Mann verwirrt:
Hallo?!
Anrufer seinerseits verwirrt:
Ja! Ähm! Hallo?! Ist da wer? Der Mann zögert kurz, dann schaut er auf sein Handydisplay. Habe ich irgendwen in der Leitung? Hallo?!
Der Mann im Lesesessel legt auf und sein Handy auf den Beistelltisch.
Mann:
War wohl ein Verwirrter! Oder einer, der sich verwählt hat! Mich ruft doch sonst keiner an! Schüttelt den Kopf und findet das Buch auf seinem Schoß, nimmt es auf und betrachtet das Cover, als das Handy erneut klingelt. Was soll das?! Indem er sein Handy aufnimmt und erneut auf die Annahme-Taste drückt. Was wollen Sie?
Anrufer:
Nun ja! Eigentlich mit Ihnen sprechen, aber…
Mann:
Aber was?
Anrufer:
Sie scheinen nicht in der Stimmung zu sein, um mit mir zu sprechen.
Mann:
Das hat nichts mit meiner Stimmung zu tun!
Anrufer:
Nicht? Womit dann? Es kommt keine Antwort. Ich kann Ihnen helfen, wenn Sie…
Mann:
Wer zum Geier sind Sie eigentlich?
Anrufer:
Habe ich mich nicht vorgestellt? Ach du meine Güte! Klar, dass Sie sich nicht wohl fühlen, wenn ich… Aber ja, klar, ich kann mich Ihnen vorstellen. Also, nun ja, ich bin… na ja, ich denke, Sie würden Gott zu mir sagen! Der Mann zögert und ist wie versteinert. Hallo?! Noch in der Leitung? Ein wenig schreiend. Hallo?!
Anstatt zu antworten, nimmt der Mann das Handy vom Ohr und legt auf.
Mann sein Handy weglegend:
Was für ein Spinner! Erst will er mir nicht verraten, wer er ist und dann das! Ich… Das Handy klingelt erneut. Nicht schon wieder! Soll es doch klingeln. Das Handy klingelt mehrfach, doch der Mann reagiert nicht. Er sitzt im Lesesessel und starrt vor sich hin; ist beinahe regungslos. Das Handy klingelt immer weiter, sodass er irgendwann nervös wird, aggressiv sein Telefon ergreift und auf die Annahmetaste drückt. Was?!
Anrufer:
Auch wenn Sie aufgelegt und mich einen Spinner genannt haben, möchte ich dennoch mit Ihnen…
Mann:
Woher wissen Sie, dass ich Sie einen Spinner genannt habe?
Anrufer:
Vielleicht, weil ich Gott bin und alles weiß! Ich weiß auch, dass Sie immer noch nicht daran glauben, dass ich Gott bin!
Mann:
Wie sollte ich auch! Immerhin…
Anrufer:
Immerhin muss man an mich glauben, was vielen nicht mehr so leicht fällt, nicht wahr?
Mann:
Irgendwie so was! Ich kann mir aber immer noch nicht vorstellen, dass Sie Gott sein sollen! Ich meine, warum rufen Sie mich an? Warum schlüpfen Sie nicht in irgendeinen Körper, kommen vorbei und reden mit mir? Oder zünden sich an und kommen als brennender Dornenbusch…
Anrufer:
Sie meinen, ich soll mich so verhalten wie in den Geschichten der Menschen, an die so viele glauben? Würde Ihnen das vielleicht helfen?
Mann mit einem Mal unsicher wirkend:
Nun ja, ich denke schon.
Anrufer:
Schauen Sie zu ihrer Lampe! Indem der Mann tatsächlich seinen Kopf zur Lampe dreht, geht diese aus und wieder an. Nun, sind Sie jetzt überzeugt.
Mann:
Nicht wirklich. Ich meine, das kann auch ein billiger Trick sein, den Sie irgendwie über den Strom steuern und irgendwie so…
Anrufer:
Glauben Sie das wirklich? Sie wollen mir also sagen, dass Sie eher daran glauben, dass ich die Stromverbindung an einer Ihrer Steckdosen manipulieren kann, als dass Sie daran glauben, dass ich das bin, was Sie Gott nennen?
Mann:
Ist das eine rhetorische Frage?
Anrufer:
Glauben Sie? Beide schweigen für einen Moment. Ich könnte auch den Lampenschirm wackeln lassen. Der Lampenschirm wackelt. Oder das Licht flackern lassen. Das Licht flackert. Oder wenn Sie es verlangen, kann ich sogar die Lampe etwas singen lassen. Die Lampe bewegt sich, das Licht verändert sich und aus dem Hintergrund ertönt »I’ve Got You Under My Skin« von Frank Sinatra. Der Mann betrachtet das ganze staunend. Als die Musik endet. Glauben Sie mir jetzt?
Mann:
Ich soll Ihnen glauben, dass Sie der Gott in der Lampe sind?
Anrufer:
Von mir aus auch das! Nennen Sie mich den Gott in der Lampe! Wenn Sie damit an mich glauben!
Mann stotternd, unsicher:
Ich… Ich weiß nicht… Was wollen Sie? … Ich meine, was… Was ist der Grund… Ihres Anrufes? Ich bin doch nur ein kleines Licht! Selbst… Selbst der Schein… Der Schein dieser Lampe ist größer als mein Licht!
Anrufer:
Ich habe Sie eben beim Lesen Ihres Buches beobachtet und dachte mir, dass Sie wahrscheinlich der Richtige sind!
Mann:
Der Richtige wofür?
Anrufer:
Um wieder Liebe, Wärme, Vertrauen, Respekt und all das unter die Menschen zu bringen! Langes Schweigen. Hallo?! Sind Sie noch in der Leitung.
Mann kaum ein Wort hervorbringend:
Ja! Ich… Aber…
Anrufer:
Ich kann verstehen, dass das jetzt alles etwas zu viel für den Moment ist. Auch die anderen Propheten haben…
Mann fassungslos:
Sie wollen aus mir einen Propheten machen? Ich soll…
Anrufer:
Keine Angst. Das passiert nicht von heute auf morgen. Wir bauen das langsam auf, beginnen mit einfachen Aufgaben, ehe Sie…
Mann plötzlich aggressiv, aufstehend:
Was wollen Sie eigentlich? Wer sind Sie? Sie sind nicht Gott! Sondern irgendwer von irgendeiner Sekte, die Kontrolle über mein Stromnetz und meine Lampe… dreht sich zur Lampe Und lassen Sie meine Lampe in Ruhe! Schmeißt sein Handy auf den Lesestuhl, fasst die Lampe am Schirm, schüttelt diese. Raus aus meiner Lampe! Raus aus meinem Haus! Raus aus meiner Steckdose! So laut wie nur möglich brüllend. Einfach raus hier!
Anrufer:
Ist ja schon gut! Ich wollte doch nur…
Mann schreiend:
Raus! Sofort!
Anrufer:
Da will man den Menschen was Gutes tun und Sie zur Liebe unter den Menschen zurückführen – und was bekommt man? Unfassbar diese…
Mann schreiend:
Raus! Verlassen Sie sofort mein Haus! Sucht das Handy, stürzt sich fast auf den Lesesessel und legt auf. Ist das denn zu fassen? Was es da draußen für Irre geben muss. Hält sich die Hand vor den Mund. Ich muss aufpassen, denn nicht nur das Stromnetz scheint manipuliert worden zu sein. Auch muss es hier überall Wanzen geben. Untersucht zunächst den Tisch, dann den Lesesessel, ehe er zu der Lampe übergeht, unter dessen Schirm er sogar seinen Kopf steckt. Wo sich diese Wanzen nur verstecken? Erneut flackert das Licht und der Mann zuckt aus dem Schirm zurück. Schreiend. Das ist nicht witzig! Das ist gar nicht witzig! Aufhören! Sofort aufhören! Geht zum Schalter und schaltet die Lampe aus, doch gleich darauf schaltet sich die Lampe wieder ein. Der Mann schaltet sie noch mehrfach aus, doch jedes Mal geht die Lampe wieder an. Na warte, dir werde ich es zeigen! Indem er den Stecker zieht und beginnen will, die Glühbirne aus der Lampe zu drehen, geht die Lampe erneut an. Wundernd. Wie ist das nur möglich?
Anrufer aus dem Hintergrund; mit wohlwollender Stimme:
Ganz einfach! Weil ich dein Gott bin und nicht nur in deiner Lampe wohne! Willst du jetzt an mich glauben?
Mann für einen Moment geschockt, dann sieht er sich wie ein gehetztes Tier nach allen Seiten um und rennt aus dem Raum; dabei:
Hilfe! Hilfe! Irgendwer verfolgt mich! Hilfe!
Ab.
Anrufer aus dem Hintergrund; aufseufzend:
Noch vor wenigen Jahren wären die Menschen in Ehrfurcht erstarrt, wenn ich das mit der Lampe gemacht hätte! Wie viele haben sich vor den Ständer gekniet und den Lampenschirm als ihren Gott angebetet? Und heute? Selbst das größte Wunder bedeutet für die Menschen kaum mehr als dass sie dahinter einen Trick vermuten! Leiser, fast schon resignierend. Schöne neue Welt, in der das Wunder der Lampe kaum mehr ist als ein Trick! Leiser. Fade out. Nicht mal in einer Lampe ist Platz für mich. Ganz leise. Schöne, neue Welt, in der ich keinen Platz mehr im Leben der Menschen finde.
Alle ab.

Harald Kappel: Erbarmungslos

in der flimmernden Hitze
schmilzt der Asphalt
vor meinem Fenster
und die Hoffnung
in meiner Weißen Substanz
es gibt kein Entrinnen
keinen Luftzug
Gott kennt kein Erbarmen
und keine Freunde
das Denken
ein dramatisches Zögern
in der flimmernden Hitze
schmilzt mein Verständnis
vor meinem Fenster
wartet Dein Abschied
Gott kennt
wirklich
kein Erbarmen

Harald Kappel: Spekulation

in Steinschnittlagerung
hofft Aschenbrödel
auf magisches Blut
sie weint
vor Glück
ein magischer Affront
das Aufklärungsgespräch
erzeugt Kaskaden
von Empörung
die Predigt
wird unterzeichnet
hinter den Gardinen
verstecken sich
die Gutachter
vor sich selbst
der neueste Kardinal
bestellt Buntglas
für den Beichtstuhl
der Durchblick
geht verloren
der Livestream
wird aktiviert
der Download
komplettiert
das Spekulum
rostet
Aschenbrödel
bestellt Buntglas
für das Handgelenk

Michael Schmidt: Wuiser und das Wandern

– Wo wird denn der Professor Wuiser sein?

– Warum?

– Weil er nicht da ist.

– Mei, wird er halt wahrscheinlich wo hingegangen sein.

– Ja, bestimmt. Bestimmt ist er irgendwo hingegangen. Weil daheim ist er nicht. Aber wundern tut mich das auch nicht, zumindest nicht direkt, dass er wahrscheinlich wo hingegangen ist. Der Herr Wuiser ist ja so gut wie andauernd unterwegs. Gut, wär ich auch an seiner Stelle. Ich meine, wenn ich in seiner Zwölfquadratmeterwohnung da droben hausen müsst. Da würd ich auch andauernd woanders hingehen. Aber der Professor Wuiser ist ja gerade auch darum andauernd unterwegs, weil er das im Blut hat. Der stammt ja aus einer Familie von Wanderern. Was sag ich, aus einer ganzen Dynastie! Aus einer uralten! Weil was viele gar nicht wissen, ist, dass ein Urururahne vom Professor Wuiser sogar die Völkerwanderung ausgelöst hat.

– Was Sie nicht sagen!

– Ja, wenn ich’s Ihnen doch sage! Die Völkerwanderung! Die war eigentlich als Tagesausflug geplant. Ist dann aber irgendwie eskaliert. So was ist ja in der heutigen Zeit gar nicht mehr vorstellbar. Heute schnaufen sie schon, wenn sie nicht Schlag Mittag auf einer Berghütte sind. Zum Einkehren. Die immer mit ihrem Einkehren! Und wenn sie Pech haben, setzen sie ihnen ein paar ranzige Pommfritz vor oder einen alten Leberkäs oder einen Fingerhut voll Kaffee und ganz am Ende dann eine Rechnung von 80 Euro. Aber wer hätt sich das während der Völkerwanderung schon leisten können. Die haben ja selber nichts gehabt! Was haben die denn früher generell gehabt! Nichts! Und darum, hat der Professor Wuiser gesagt, geht er grundsätzlich nie auf eine Berghütte rauf. Ja, nicht mal auf einen Berg! Sondern immer ganz weit außen rum. Oder wenn es einen Nebel gibt. Wie letztes Mal. Wie der Herr Wuiser den gesehen hat, ist er auch ganz einfach um den herum gegangen. Weil es angeblich die Berge und die Nebel gewesen sind, sagt er, die seinen Urahn mit der ganzen Völkerwanderungs-Combo so in die Irre geführt haben. Aber am Ende, ganz am Ende, sind sie halt doch bei Rom drunten ausgekommen. Zum Glück! Weil sonst wär am Ende – und da mein ich jetzt tatsächlich ganz, ganz am Ende – sonst wär da noch irgendwas passiert, bei dieser Völkerwanderung da. Sonst hätte das noch was werden können, gell.

Harald Kappel: Wandertag

Al Vizz hockt mit ausdruckslosem Gesicht am Rande der Objekte, als Pinker Uhu später zurückkommt. Das Halbblut atmet noch schwer: „Ich schaffe es nicht mehr, ich schlüpfte aus dem Schatten der Gravitationen, aber konnte ihr nicht mehr den Weg abschneiden…wer hätte schon gedacht, dass sie uns folgen würde, um unsere Pferde zu stehlen?“
Dann versucht er sich im Denken. Süße Schreie dringen in sein Gedächtnis, dort heizen sie sich auf bis zur Rotverschiebung. Nichts von alledem ist Freiheit.
Scheisse! Verdammte Scheisse!
Al Vizz verzieht keine Miene: „Das wird sie noch bedauern. Doch nun müssen wir zu Fuß zurück in die Stadt. Ich lasse dich allein laufen. Wann kannst du mit einem Pferd für mich zurück sein?“ Aber Pinker Uhu schüttelt den Kopf.
„Nein, King“, sagt er. „Er ist angeschossen. Liegt im Graben und betet zum Vater. Voller Gerüche! Der wird damit rechnen, dass wir uns neue Pferde besorgen, und uns ausruhen, denn er kann nicht mehr lange im Sattel bleiben. Sie wird ihn bewachen. Immun gegen Irrtum bleiben. So wird das sein. Ich hole ihn mir. Das Nichts von Alledem ist Plan. Ich kann länger zu Fuß laufen, als er im Sattel bleiben kann. Für ihn ist es ein Driften im Whiteout. Sie können hier warten, King. Ich hole ihn mir. Dann komme ich mit vier Pferden zurück. Mit vier Pferden, King. Bleiben Sie immun, King. Bleiben sie jetzt immun!“
Al Vizz starrt ihn an.
Er ist wütend auf Pinker Uhu, denn er gibt ihm die Schuld, dass sie ihre Pferde verloren haben. Doch nun kann Pinker Uhu alles wieder gutmachen.
Zwar hätte Al Vizz Jesus Bohne gern selbst getötet. Keine Gnade im Schwerefeld! Als passende Antwort wäre außerdem hilfreich, ihm eins oder zwei in die Fresse zu hauen. Doch dazu hätte er mit Pinker Uhu einige Meilen laufen müssen.
Nein, da will er lieber warten und ihm alternativ für WesternDeutschland drei in die Fresse hauen.
Und so nickt er Pinky zu. Seine Kommunikation ist auf dem linken Ohr blind.
„Ja, geh ihm nach und töte ihn, Pinky“.

Es fällt Jesus Bohne nach zwei Meilen schwer, sich noch im Sattel zu halten. Er hat ja eigentlich fünf Wunden, wenn man die Bauchwunde unter dem Rippenbogen zu den Malen an den Händen und Füßen dazuzählt , und es ist ein Wunder, dass er überhaupt noch unterwegs ist.
Nach drei Meilen will er absitzen. Doch sie finden keinen guten Platz, von dem aus sie jeden Verfolger sehen können. Erst nach fast einer weiteren Meile erreichen sie einen bewaldeten Hügel und halten im Schatten der Bäume. Jesus Bohne gleitet stöhnend vom Pferd und legt sich ins Gras. Das tut total gut und er fällt in einen ohnmächtigen Schlaf. Denn er ist restlos erledigt.
MaryMagdaLena aber hebt den Blick zum Himmel und flüstert leise: Oh Vater im Himmel, ich danke dir, dass ich jetzt bei ihm sein kann.

Pinker Uhu trabt auf der Fährte wie ein Apache, und Apachen können hundert Meilen laufen ohne eine längere Rast einzulegen. Abends sitzen sie auf rostigem Federkern und verschlissener Kindheit.
Nach weniger als drei Meilen wird er vorsichtiger. Nun bleibt er nicht mehr auf der Fährte, sondern hält sich abseits von ihr.
Eine Fliege döst halbnackt auf einem Baum und stöhnt.
Am Rande der Ebene erhebt sich ein bewaldeter Hügel. Über dem Hügel kreisen Vögel, die sich auf Bäumen niederlassen. Dort zerhackt der Vogel Selbdritt halbnackt die letzte Stille. Pinky sieht auch einige Antilopen zum Hügel hinabziehen, dann aber ganz plötzlich in der Krümmung der Raumzeit abbiegen. Das ist ein Einstein‘sches Zeichen. Es gibt auch noch andere Zeichen, die ihm verraten, dass dort auf dem bewaldeten Hügel jemand ist. Halbnackt, öffnet sich dort nichts. Gar nichts.
Er federt den Vogel. Der schreit. Die letzte Stille.
Und so weiß er Bescheid. Denn ein angeschossener Mann kann nicht länger im Sattel bleiben.

Als es schon fast Abend ist, schnauben die Pferde. MaryMagdaLena, welche die letzten drei Stunden aufmerksam nach Westen spähte, zuckt zusammen.
Wie lebt man sich?
Ihr Verstand sagt ihr, dass die Pferde wahrscheinlich wegen irgendeines Tieres schnaubten, aber sie hat plötzlich ein ungutes Gefühl. Und besonders Pinker Uhus Schimmel schnaubt immer wieder und wirkt sehr unruhig.
Wittert das Tier seinen Herrn? Der ist nur Sand in einem Spiegel, nur Sand.
Ein Werk der Pfählung, eine Parade der Lippen.
Sie fragt es sich mit plötzlichem Schrecken. Blutjung ist der Schrecken. Blutjung.
Doch sie bleibt in der kalten Wanne sitzen, im kalten Stahl, und nimmt nur ihren Hut ab, wartet auf den Pathologen und verbirgt in der ihr zugewandten offenen Hutkrone ihre Hand mit dem kleinen Colt und eine Bibel darin. Sie ist nur eine Variante von Aas.
Bewegungslos hockt sie neben dem scheinbar noch tiefschlafenden Jesus Bohne und wartet. Das Aas.
Die Dämmerung ist hier oben unter den Bäumen schon intensiver als draußen auf der kleinen Ebene. Sie kaut auf ihrer Zunge, ein Leben lang schon, und macht ihr Bauchfell traurig.
Über den Hügeln im Osten geht das Rot der sterbenden Sonne bereits in violett über.
Traurig, am letzten Halt. Wie lebt man sich?
Aus dem Schatten der Bäume schält sich nun eine gebückt vorwärts gleitende Gestalt. Es ist Pinker Uhu. MaryMagdaLena erkennt ihn sofort.
Pinky hat sein Gewehr im Hüftanschlag. So kommt er näher und näher. Etwa ein halbes Dutzend Schritte vor MaryMagdaLena und dem scheinbar schlafenden Jesus Bohne bleibt er stehen. Lässig.
Trotz sternenklarer Nacht spiegeln sich die Gletscher in den Colt-Trommeln mit minimaler Leuchtdichte.
„Da seid ihr ja. Uns einfach die Pferde zu stehlen. Ja, das hast du gut gemacht. Was ist mit ihm? Der liegt ja da wie tot. Ich dachte, er wäre unsterblich? Hahaha!!! Staut sich seine Leber wegen Pfortaderhochdrucks, häh??“
„Vielleicht stirbt er trotzdem“, erwidert MaryMagdaLena. „Vielleicht. Lass ihn nur ruhig liegen. Der kann Al Vizz nichts mehr tun. Konkret! Nimm eure Pferde und hau ab. Zieh die Vorhänge in deinem Kopf zu und lass dir in Ruhe die Wimpern straffen. Sei kokett!“
„Aber was denkst du“, sagt Pinky und grinst. „Ich bin Al Vizz’s Gotteskrieger. Und ich bringe meine Fleischbeute zu ihm. Er wird sich darüber freuen und mir eine gute Prämie zahlen. Eine neue App auf meinen Coltgriff tätowieren. Unantastbar geloadet. Ich werde Jesus quer über seinem Pferd zu Al schaffen. In seine goldene Vitrine. Du aber solltest dich gut mit mir stellen, dann lass ich dich vielleicht laufen, Süße. Ich wollte schon immer eine wie dich haben. Als Al dich bei sich auf der Ranch hatte, da kämpften Models dort mit Schürzen und Spiegeln, charmant… aber ich war nur scharf auf dich, Süße…“. Er kommt nicht weiter. Was er auch sagen wollte, er kann es nicht mehr. Worte wie diese, Worte wie jene. Denn sie schießt durch den Hut, durch die Judasbriefe und trifft ihn gut-einmal, zweimal, dreimal. Die Kugeln stoßen ihn zurück. Er drückt sein Gewehr ab, dass er immer noch im Hüftanschlag hielt, doch seine Kugeln bleiben in der Genesis stecken.
Getroffen taumelt er zurück, schwankt, brüllt dann wild und geht zu Boden. Noch einmal möchte er hochkommen. Doch er versucht es vergebens. Dann erschlafft alles in ihm. MaryMagdaKena hört sein Ausatmen.
Er ist tot, denkt sie. Nicht schuldig denkt sie, ich bin nicht schuldig und spuckt. Lässig, lässig! Und sie fragt sich im selben Augenblick, wo Al Vizz wohl ist? Kam er mit Pinker Uhu? Wird er im nächsten Moment schon von irgendwo her schießen?
Beginnt eine lebenslange Hysterie? Lebenslang?
Doch nichts rührt sich. Das Echo der Schüsse verhalte in der Ferne. Und das Gekreische der Vögel im Wald verklang. Im Kinderbuch werden intrauterine Märchen gelesen. Über dem Saloon. In der kleinen Stadt. Es ist sehr still.
Sie hört Jesus’s Erwachen, denn sein tiefes Atmen verändert sich.
Dann klingt seine heisere Stimme, wie am Telefon: „Was ist? Waren das Schüsse? Bist du bei mir, Mary? Oder träumte ich das nur?“
„Ich bin bei dir“, erwidert sie. „Und soeben habe ich Pinker Uhu getötet. Ich weiß aber nicht, ob er allein kam“.
Er erhebt sich schwankend und wischt mit einer Hand über sein Gesicht. Eine Weile verharrt er und denkt nach. Die Blätter haben symmetrische Abdrücke von Blättern auf seinem Gesicht hinterlassen. Lebenslang.
Dann hört sie ihn sagen: „Nein, er hat Pinker Uhu geschickt, um uns die Pferde wieder abzunehmen. Der wartet irgendwo auf sein Pferd. Aber wenn es Tag ist, werde ich ihn suchen. Mir geht es jetzt schon viel besser.“
Sie möchte ihm die letzten Worte gern glauben, doch als sie zu ihm tritt und ihm die Stirn fühlt, merkt sie das Fieber. Es wachsen ihm selbstunähnlich Flügel aus Chitin und Pathologien im Schädel.
„Leg dich wieder hin“, verlangt sie. „Die Nacht bricht erst an. Und sie wird noch viele Stunden dauern. Ruhe Dich aus und häute dich rechtzeitig“.
Sie trägt eine bedauerliche Hysterie in ihrem tüchtigen Ich. Lebenslang.

Die Nacht wird auch für Al Vizz lebenslang. Er hockt die meiste Zeit auf einem großen Stein, aber als es dann kühler wird, beginnt er hin und her zu wandern
Pinker Uhu kommt nicht zurück, obwohl Stunde um Stunde vergeht.
Er beginnt seine eigenen Mandeln zu essen.
Das hatte er schon lange vorgehabt.
Als der Morgen graut, da glaubt Al Vizz, dass Pinker Uhu nicht mehr mit den Pferden zurückkommen wird. Wahrscheinlich wird er damit rechnen müssen, dass dieser Jesus Bohne kommt, um ihn zu töten.
Soll er die Flucht ergreifen, möglichst schnell nach Nutellamy zu gelangen versuchen?
Oder Briefe des Paulus aus der Amygdala schreiben?
In etwa drei Stunden könnte er dort sein,wenn er diese beschissenen Briefe vergisst.
Er stellt sich vor, wie es wohl wäre, wenn er dort staubig und schwitzend in seinen Cowboystiefeln ankommen würde.
Das wäre wie Schneefall auf der Moräne und dunkles Öl würde seinen silbernen Colt verdecken.
Es wäre sein Untergang. Es müsste den Leuten vorkommen, als wäre ein Denkmal vom Sockel gefallen.
Also muss er bleiben und auf Jesus warten.
Sein Blutschwamm würde zerbersten und sein Temporallappen autistisch. Scheisse, Scheisse.
Nein, er kann als stolzer King nicht geschlagen zurückkehren und sich in den Schutz seiner Männer begeben.
Als die ersten Sonnenstrahlen im Osten über die Heiligen Hügel blitzen, da sieht er sie kommen:
Jesus Bohne und MaryMagdaLena Magdala.
Er denkt…jetzt will sie mich sterben sehen, und es wird ihr eine Entschädigung sein für das, was ich ihr antat. Jetzt will sie triumphieren.
Doch dann tritt er vor, so dass ihn die beiden Reiter sehen können, und rückt seinen Revolver zurecht.
Jesus Bohne hält an, rutscht aus dem Sattel, und als er sich vom Pferd wegdreht, da ist in Al Vizz ein wenig Hoffnung. Denn er sieht, wie sehr Jesus hinkt und wie sein Revolverarm kraftlos in einer Schlinge quer vor der Brust liegt.
Das Hämatom im seinem Kopf eine Gnade.
Jesus hat Kot im Hosenbund stecken und seinen Colt, weil sein Holster für die andere Seite nicht geeignet ist und er ein Bett im Mohnfeld zum Erleichtern sucht.
Hinkend und stinkend kommt Jesus näher. Sie reden kein Wort miteinander, sondern beginnen gleichzeitig zu schießen, indes Jesus immer noch Schritt für Schritt näher kommt.
Aber Al Vizz schießt zweimal daneben. Denn die Entfernung ist noch sehr weit. Und Jesus wirkt wie ein auferstandener Geist in der Quantenwelt.
Im Radio haben sie gesagt, Jesus ist mit der anderen Hand nicht so gut. Auch er verfehlt Al zweimal. Doch seine dritte Kugel trifft den King ins Herz.
Er hält inne und atmet langsam aus.
Dann wendet er sich um, denn MaryMagdaLena bringt ihm das Pferd.
Die Krone der Schöpfung. Eine saure Lake aus Stammhirn und Hefepilzen.
Der Introitus schwarz von dunklen Ausscheidungen, am Gesäß rectaler Schleim, der beim Reiten stört.
Als Jesus im Sattel sitzt, fragt sie: „Und nun?“.
„Abmarsch, keine Gnade“, sagt er. Es wird alles anders werden.
Er mischt Mohn, schreibt getröstet im Galopp wortfreie Verse, kratzt eine Melodie in die Schellackplatte.
Beizt die Haut der Pferde, seine Nahrung, und horcht der Melodie des Westens.
Wieder und wieder und wieder und wieder und ….
ENDE

Frau Hunke: Monsterfakten (listicle)

KING KONG
erstmals 1933 „King Kong und die weiße Frau“ von Wasei Kingu.
Neueste Version 2017 Jordan Vogt-Roberts. Insgesamt wurden 9 King Kong Filme gedreht. In den Anfangszeiten kam er auf eine Größe von ca 15 Meter. In der neuesten Version „Kong Skull Island“ kommt das Affenmonster auf 30Meter, ähnlich wie Godzilla.

THE CLOVER
in der Filmreihe Cloverfield von J.J. Abrams handelt es sich um ein alienartiges Monster. The Clover genannt, der von U-Booten im Atlantik geweckt wurde und sein Unwesen in New York treibt. Seine Größe zu Beginn der Filmreihe belief sich auf ca 91 Meter.
2018 wuchs er in The Cloverfield Paradox auf 4000 – 6000 Meter.
KRAKEN
aus dem Film „Kamf der Titanen“ von 1981 stammt das Seeungeheuer Kraken, welches von Zeus und Hades erschaffen wurde. Das Monster war in dieser Version von Desmond Davis 15 Meter groß. In einer weiteren Verfilmung aus dem Jahr 2010 kam der Kraken schon auf 91 Meter.
GODZILLA
in der Ursprungsversion unter der Regie von Ishiro Honda von 1954 wurde der Dinosaurier aus der Jura-Periode von Atombomben aufgeschreckt. Seine monstermäßige Größe: 50 Meter.
In weiteren Verfilmungen wurde das Monster immer größer. 2014 108 Meter, 2016 118 Meter und 2017 im Anime Film „Godzilla Earth“ war er so groß wie der Eiffelturm, also 300 Meter.

DRACHEN
in „Drachenzähmen leicht gemacht“ aus dem Jahr 2010 freundet sich der kleine Wikingerjunge Hicks mit dem vermeintlichen Monster an und gibt im den Namen Ohnezahn. Ohnezahn ist ein freundliches Monster und misst ganze 158 Meter.

SANDWURM
David Lynch brachte 1984 „Dune der Wüstenplanet“ in die Kinos. Bei den auf dem Planeten Arrakis lebenden Monster handelt es sich um Sandwürmer, welche die mentale Droge -das Spice- produzieren und auf die monströse Größe von 400 Metern kommen. ( 40 Meter kleiner als das Empire State Building).
Irgendwo geistert auch eine Geschichte der Sandwürmer rum, die 2778 Meter groß sein sollen.

KRONOS
das Stein- und Lavamonster spielt in „Zorn der Titanen“ eine Rolle. Das Monster Kronos ist der Vater von Zeus und Hades und ganz 500 Meter groß.

EXOGORTH
die Monster aus „Starwars – Das Imperium schlägt zurück“ von 1980 unter der Regie von Irvin Kershner sind Weltraumschnecken. Exogorth genannt. Sie leben in Asteroiden und sind zwischen 10 und 100 Metern groß. Ein seltenes Exemplar kommt auf 900 Meter.

SUMMA-VERMINOTH
Summa-Verminoth sind Monstertiere, die in den Tiefen des Akkadesischen Mahlstroms leben und einer Art Kraken zugeordnet werden. Han Solo bekommt es mit ihnen in „Solo-A Star Wars Story“ von 2018 zu tun. Ihre Größe beträgt 7,432 Meter.

GROß A´TUIN
Die Sternenschildkröte Groß A´Tuin gehört zur Gattung Chelys Galaktica und trägt in Terry Prattchets Scheibenwelt vier Weltenelefanten, die wiederum die Scheibenwelt tragen. Groß A´Tuin gehört zu den freundlichen Giganten und ist vom Kopf bis zur Schwanzspitze 1000 Meilen lang.

MONSTERTRUCKS
in der aufklärenden Dokureihe Truckerbabes handelt es sich um Damen, die sogenannte Monstertrucks beherrschen. Einige dies Monstertruck haben ganze 400 PS und sind … nun ja das ufert jetzt aus.

Jörg Hilse: Das Monster

Am Bettgestell knackte irgend so ein Teil. Tobias fuhr hoch und sah auf die Uhr. Mist, in fünf Minuten fing die Gruppentherapie bei Frau Stein an. Das verdammte Tavor machte einen ganz malle, mit hektischen Bewegungen tauschte er die Jogginghose gegen seine schwarzen Jeans. Wenigstens der Themenhefter lag schon griffbereit auf dem Tisch. Nichts war für ihn schlimmer als zu spät zu kommen. Hastig lief er über den Flur und klopfte an die Tür vom Fernsehraum. Frau Stein machte auf, die Stühle standen wie bei Gruppentherapien üblich, im Kreis. Er setzte sich und André sein Zimmernachbar, reichte ein Blatt Papier herüber. Es handelte sich um zwei sonderbare Zeichnungen, direkt übereinander. Oben kam ein Wanderer an eine Weggabelung, linker Hand führte ein Pfad direkt zum Strand, traumhaft wie eine Südseeinsel. Doch davor stand ein Monster, eine wild zähnefletschende Mischung aus Grizzlybär und Riesengorilla. Rechts kam man an dem Vieh vorbei, aber der Weg führte durch ein weites Tal ins Gebirge über dem ein Unwetter niederging. Auf dem unteren Bild hatte das Monster nur noch die Größe eines Schimpansen und hockte frustriert auf einer Art Handwagen. Und unser Wanderer zog mit zuversichtlicher Miene den Wagen hinter sich her zum Strand.
Toby mochte das untere Bild nicht.
Das Ding sah aus wie eins dieser oberschlauen Spruchbilder bei Facebook.
Sein eigenes Monster, das waren die Leute, die zu ihm sagten, der passt nicht, den wollen wir hier nicht. Jeder Versuch Anerkennung zu finden, es allen recht zu machen, scheiterte. Und das Monster in ihm wurde größer und größer. Er merkte auch das es sich nicht zähmen ließ, man konnte es nur killen. Hemingway und Virginia Woolf hatten ihre Monster gekillt. Doch verlor er jedes Mal den Mut, wenn er zum Gleis ging und ein Zug ganz nah heran raste. Seine Hausärztin gab ihm eine Überweisung für die Klinik. „ Möchte jemand zu den Bildern etwas sagen ?“ fragte Frau Stein in die Runde. Alle schwiegen, als ob Sie darauf warteten das Tobias den Anfang machte. Neben ihm saß eine neue Patientin, und schaute, eigenen Gedanken nachhängend zu Boden. „ Ja“ begann Toby „ gibt’s sowas wie ne Bauanleitung für den Handwagen da? Die könnte ich gut gebrauchen.“ „ Genau das möchten wir ihnen hier an die Hand geben.“ sagte Frau Stein am Ende der Stunde . „ Einen Weg wie Sie mit ihrer Erkrankung umgehen können. Dafür steht der Handwagen.“
Nach dem Abendbrot las Tobias noch etwas, sah nach der Spülmaschine und ging noch mal raus. Um diese Zeit saßen immer ein paar Patienten auf der Terrasse im Innenhof und genossen die Abendsonne. Toby grüsste im Vorbeigehen. Er blieb ganz gern für sich. Plötzlich stand jemand neben ihm. Es war die Neue aus der Gruppentherapie vom Nachmittag. Sie trug ein T Shirt und ihre nackten Arme waren übersäht mit langen hellen Kratzern . Ein dunkelroter Streifen lief quer über den Unterarm, die Wunde sah frisch aus. „Magst Du zu uns rüber kommen“ fragte Sie. Tobias wusste nicht ganz wie ihm geschah. Ein Mädchen, in deren Augen er wahrscheinlich ein alten Mann war, lud ihn ein mit ihr und den Anderen zu quatschen. Kaum , saß er neben ihr kamen Hanna und Viktoria, beide von der 93/2, auf die Terrasse. Hallo Svenja, sagte Hanna und setzte sich neben Sie. Vicki will mir ein bisschen die Haare schneiden. Magst Du auch? Muss nicht, aber danke sagte Svenja und drehte sich eine Zigarette. Toby erfuhr das Sie von der 93/3 kam. Der Abend war besser als jede Therapiestunde. Hier sprach man aus, was man woanders lieber verschwieg. Toby blieb bis halb Zehn und ging dann mit einem nie gekannten Gefühl schlafen. Er war Dingen nachgerannt, hatte immer versucht irgendwo dazuzugehören. Hier gehörte er einfach dazu.
Einen Abend später, Svenja telefonierte und dabei kam irgend was in ihr hoch. Sie weinte. Man sah das oft hier. Toby wünschte sich manchmal, er könnte es. Aber in dieser Armee der Traurigen lernte man eins. Achtsamkeit, für sich und den Anderen. Dani war grossartig. Obwohl Sie oft selbst mit sich kämpfte saß Sie neben Svenja und hielt ihre Hand. Die legte den Kopf an Dani’s Schulter während immer noch Tränen über ihr Gesicht liefen. Später beruhigte Sie sich und um sie auf andere Gedanken zu bringen fragte Toby: „Sag mal Svenja, was hast Du eigentlich früher ganz gern gemacht.“ „ Du meinst, bevor ich mich geritzt hab“ gab Sie zurück. „Ja, davor.“
„Tja, ich bin ganz gern Skateboard gefahren.“
Immer Freitags fand die Visite mit dem ganzen Ärzteteam statt. Am Ende des Gesprächs sagte Dr. Grimm. „ Hier drin scheint es ihnen ja langsam besser zu gehen. Aber wir würden gerne wissen wie es so draußen für Sie ist.“ Toby überlegte, während der Arzt weitersprach. „ Wie wäre es wenn Sie diesmal das ganze Wochenende zu Hause verbringen statt nur einen Tag. Und am Montag reden wir, wie es denn so war.“ „ Einverstanden“ sagte Tobias. „ Gut, wann ist die letzte Gruppentherapie heute?“ „ Um 14 Uhr bei mir“ antwortete ihm Frau Lamprecht. „ Wunderbar, danach können Sie nach Hause fahren und das sogar vor uns“ scherzte der Doktor und wünschte ein schönes Wochenende. Etwa gegen drei stand Tobias an der Haltestelle nahm aber prompt die falsche Straßenbahn, weil die Anzeige wieder mal nicht richtig funktionierte. In Flussnähe stieg er aus. Toby lief über die Brücke und setzte sich ans Ufer. Zwei Skateboard Fahrer rollten vorbei. Tobias fiel auf das ihre Bretter etwas länger als normal waren und musste dann an Svenja denken. Abends saß er dann ziemlich lange vor dem Fernseher. Es lief noch eine Talkshow.„ Wir begrüßen einen Mann“ kündigte der Moderator seinen Gast an „der eine Trendsportart aus den USA zu einer in Deutschland gemacht hat. Herzlich willkommen, Eberhard „ Cäsar“ Kaiser.“ Der Name sagte Toby irgendwas. Die Cäsar Skateboard Läden, gab es in jeder großen Stadt. Für Tobias eine fremde Welt. Aber irgendwie steckte ihn das Charisma dieses Mannes in seinem Hoodie und der Wollmütze an. Er sprach über Begeisterung, innere Motivation, Hinfallen und wieder Aufstehen. All das, was einem die Therapeuten mit großer Mühe auch begreiflich zu machen versuchten. Nur viel überzeugender. „ Was haben Sie uns da mitgebracht.“ fragte der Moderator und zeigte auf ein längliches Rollbrett. Toby erinnerte das Gefährt ein bisschen an heute Nachmittag „ Das ist ein Longboard“ sagte sein Talkgast „ damit fahre ich morgens meine Brötchen holen. Die Kunst ist übrigens, auf dem Rückweg die Brötchentüte nicht zu verlieren“
Tobias nahm sein Tablet und fand bei YouTube jede Menge Clips übers Longboarden, auch auf Deutsch. Am Samstagmorgen stand er in der Cäsar Filiale. „Hi, was brauchst Du.“ fragte die junge Verkäuferin in lockerem Ton. „ Äh, so’n Longboard, am besten eins, äh“ Tobias guckte verlegen „ ich wills halt erst lernen“ „ Ja am Besten ist da eins wo die Achsen durchgesteckt sind. Man steht tiefer und fühlt sich sicherer .“ Sie nahm eins der Bretter aus dem Ständer. Hier, steig mal drauf ob für Dich die Breite stimmt“ Es war eine wackelige Angelegenheit, das erste Mal auf so einem Ding zu stehen. Aber Toby blieb zuversichtlich. Denn Skaten würde für ihn immer eine gute Erinnerung sein. An seinen Weg zurück ins Leben und an alle die ihn mit ihm gingen. Besonders aber an Dani und Svenja.
Dazu kam noch etwas Anderes.
So ein Board war der Wagen, auf dem sein inneres Monster keinen Platz hatte, groß zu werden.