Bastian Kienitz: Treibstoff zum Feuern

Masse ist gleich Treibstoff zum Verfeuern in deren Mittelpunkt
ein junger Mensch am Anfang seines Lebens steht als hätte er
A) keine andere Möglichkeit und B) die rote Pille bereits jetzt
geschluckt – K E R N B O T S C H A F T:

Macht zur Wahrheit oder Mut zum Wissen wenn die Wimpern
ausgerissen neben den Schrecken des Alltags wintern…

Carsten Stephan: Bauhaussiedlung Dessau

Terzinen

Beharrlich mied ich jene Siedlungsstraßen
Mit ihren glatten, seelenlosen Bauten,
Die vor der Stadt sich in die Felder fraßen

Und ewig weiß und gleich und fremd ausschauten,
So dass sich alle, die das Schöne lieben,
Allein beim Abbild vor dem Ganzen grauten.

Doch jüngst hat mich der Zufall hingetrieben,
Ich staunte sehr und muss die Siedler loben:
Dank euch ist wenig, wie es war, geblieben.

Statt Fensterbänder, schwarz und abgehoben,
Sah ich beglückt die goldnen Dekosprossen.
Auch saßen jene einstmals zu weit oben

Und hatten so der Siedler Blick verdrossen
Auf Nachbars Gartenzwerg und Hütchenfichte,
Den sie nun auf dem Bette noch genossen.

Das Monotone machte man zunichte
Mit Dämmungsklinker- oder Schindelfronten,
Ihr Beige stand ihnen prächtig zu Gesichte,

Zumal, wenn sie am Dache glänzen konnten
Durch Braun, so dunkel wie der Wälder Rauschen,
Und gar durch ein Geweih mein Herz besonnten.

Doch soll die Siedlung wirklich uns berauschen,
Muss sie ganz lassen vom modernen Wahn:
Die flachen gegen Satteldächer tauschen,

Und übern First: ein goldner Wetterhahn!

Harald Kappel: gebeizt

in deiner Abwesenheit
mische ich den Mohn
getröstet
schreib ich am Pult
wortfreie Verse
auf der Schallplatte
kratzen meine Nägel
eine Melodie
ein keimendes Kissen
meine Nahrung

in deiner Abwesenheit
vergesse ich meine Herzkammern
arrhythmisch
bewirte ich die Unterkühlung
auf dem Bries
eiskalte Schläge
eine Melodie
aus Rammstein
und Treppenhaus

in deiner Abwesenheit
mische ich den Mohn
schreibe am Pult
stumm und todlos
beize die Haut der Katze
meine Nahrung
in deiner Abwesenheit
ungetröstet

Theobald Fuchs: Nukleares Epos (Auszug)

Nukleares Epos (Auszug)

„Links!“ rief Dr. Hanno Sauerbrei.

Der Diplomand am Bedienpult drückte ein kleines Hebelchen nach rechts.

„Links, sage ich!“ brüllte Dr. Sauerbrei. Er lag unter dem tonnenschweren Elektromagneten des Neutronenkalorimeters und versuchte verzweifelt, ein Gewindestängelchen unter die Kettenführung zu schieben.

Der Diplomand mit der Links-Rechts-Schwäche büßte sein letztes Quantum Selbstsicherheit ein. Schweißperlen tropften von seiner Stirn. Im selben Moment, als ich hinzu sprang, um ihm die Bedienkonsole aus der Hand zu reißen, legte er erneut das Hebelchen um.

„Das war wieder die falsche Richtung“, wies ich ihn auf seinen Fehler hin, doch meine Stimme ging in dem gewaltigen Lärm unter, mit dem der Elektromagnet gegen das Strahlrohr krachte und sozusagen nur im Vorübergehen Dr. Sauerbrei zerquetschte.

Mit ohrenbetäubendem Fauchen schoss das Vakuum aus dem geborstenen Austrittsfenster am Ende des Strahlrohres, zerfetzte Kabel und Folien, schleuderte Lichtleiter und Platinen in die Halle. Sämtliche Sicherheitsventile des etwa ein Kilometer langen Ringes schlugen mit einem martialischem Knall zu.

Dann war es plötzlich wieder still. Totenstill. Nur der scharfe Geruch von Schwefelwasserstoff, der aus den gerissenen Vieldrahtkammern austrat, verbreitete sich im grünen Dämmerlicht der Notbeleuchtungen.

Wie die Bilder eines fernen Traums zogen die Warnhinweise des Gassicherheitsbeauftragten an meinem inneren Auge vorbei. Leicht entzündlich, als Gemisch mit Luft hochexplosiv, nicht einatmen, Hautkontakt vermeiden.

„Oh Mann“, sagte der Diplomand, „jetzt brauche ich eine Kippe.“

Dann zückte er sein Benzinfeuerzeug.

(aus: Hinter jedem genialen Wissenschaftler steht ein Heer von Vollidioten, Streitschrift, Genf / Hamburg, 1987, 600 Seiten, eins-neunundneunzig im Wühltisch bei der Norma)

Carsten Stephan: November

Gelbgrün schwärt an graue Ufer Tang,
Kalte Regen sprühen in das Meer.
Möwen müde kreischend um sich her
Bringen Fischer ein den letzten Fang.

Mit dem Wind erstirbt der Männer Sang,
Ihre Schritte sind landeinwärts schwer.
Dann ist wieder alles menschenleer,
Nebel äsen fern am Kiefernhang.

Und den Wandrer fasst ein Schauder an,
Seine Glieder sind schon lang ertaubt,
In die Züge gräbt sich Elegie.

Treibholz schlägt ihm jählings an den Spann,
Kormorane stürzen auf sein Haupt,
Im Gerölle sinkt er in die Knie.

Theobald Fuchs: Schwimmende Erinnerung

1, ein Tag im Sommer, die beiden Grazien – wie hießen sie nochmal? Ilka und Ingrid, Anja und Anette, Sabine und Sonja? -, zwei ganz unterschiedliche, frische Jungmädchen in schwarzen, nass glänzenden Badeanzügen, die eine noch flach wie ein Junge, die andere schon mit wogendem blonden Walkürebusen. So paddelten sie am Beckenrand, schauten hoch zu den horny boys, wohl wissend, dass sie Lichtjahre voraus waren in jedem Aspekt der Geschlechtlichkeit. Wie weiß doch ihre Haut war, damals, dass man meinen möchte, es habe in jenen Sommern die Sonne nie geschienen. Als wäre schon damals der Himmel über den nackten Leibern und den saftigen grünen Wiesen verdunkelt gewesen von den atomaren Wolken, deren Eintreffen wir tagtäglich aus dem Osten erwarteten, wo das Reich des Bösen unser Leben bedrohte. Als wären unsere Alpträume von der nuklearen Apokalypse nur Erinnerungen gewesen und wir hätten uns arrangiert mit allem, dem Tod, der Traurigkeit, den vergeblichen Mühen, indem wir uns außerhalb des Schwimmbades in schwarze Klamotten hüllten und uns heftig betranken so oft wir alle zusammen und ein jedes für sich einsam waren. Tanzend betranken, nie ohne die Bierflasche in der rechten Hand, mit der linken die Gitarren in den Lautsprechern dirigierend, ein Bein nach vorne, eines fest im Springerstiefel am Boden, so tanzten wir, vor und zurück, vor und zurück, jeder für sich. Und am folgenden lichtlosen Tag wieder die Begegnungen unter der nicht existierenden Sonne, am Schwimmerbecken, und auch unsere Badeklamotten waren schwarz, traumschwarze Hosen, Bikinis, Badeanzüge. Schlappen besaß noch niemand, nur die Handtücher – jeder ein anderes, ein persönliches Exemplar, und es gab keinen traurigeren Anblick als die auf die Wiese unregelmäßig hingeworfenen bunten Streifen Frottee, nichts zeigte mehr unsere absolute Hoffnungslosigkeit.

2, der Stern unseres Lebens war in rot auf eine Rakete gemalt, die vor Sonnenaufgang aus der unendlich-unerforschlichen Gegend heranflog, welche irgendwo hinter der Oberpfalz lag. Da wo sich die Amerikaner regelmäßig tage- oder wochenlang mit ihren Panzern und Kanonen austobten. Unser einziges Ziel war, die Sache so schnell wie möglich hinter uns zu bekommen. Endzeitschauder, nukleare Holocaust-Sehnsucht, Verliebtheitsmassensterben, Atomblitzlust, letzte Liebe im Hitzehagel. Ab ins Bad mit der Dauerkarte für die frischen Hormone. Wozu noch abwarten, dachten wir, wir fühlten uns doch eh schon so durchsichtig, als stünden wir in einer Strahlung, die uns an die Wand des Sanitärkomplexes projizierte. Der helle Tag hatte nicht die geringste Chance, das Dunkel aus unseren Köpfen zu vertreiben, aber unsere Herzen glühten, so wie das Wasser, die Luft, das Gras, die Vögel. Nichts ist trauriger als jung zu sein und schöner zugleich.

3, kalte, feuchte Haut, der Geruch nach Chlor, die feinen, beinahe durchsichtigen Härchen auf dem Unterarm, die sich aufstellten, wenn der Wind einen kriegskalten Gruß aus dem Osten schickte. Doch wie war es umgekehrt? Wie dachten sie, die da im Wasser plantschten und die wir anhimmelten, ohne es zu zeigen, wodurch wir uns natürlich noch viel mehr offenbarten, denn unsere vorgespielte Selbstsicherheit und unsere aus dem Fernsehen übernommene Arroganz waren so leicht durchschaubar wie das blassblaue Wasser, durch das sich Linien und Kanten schlängelten, wenn die Schimmer heftig aus roten Mündern prustend ihre Bahnen zogen? Vielleicht war es ganz anders und umgekehrt, und wir waren die letzte Hoffnung der Jungmädchen? Was natürlich fast ebenso traurig gewesen wäre wie überhaupt keine Hoffnung zu haben. Ohne Zweifel: jeder von uns hätte es am Ende dann doch sein können, der Gefährte, die starke Schulter, der verlässliche Partner – wenn uns nur jemand einmal verraten hätte, dass auch wir dazu in der Lage waren, tatsächlich. Was wie Selbstliebe daherkam und mit durchgedrücktem Rücken unendlich lässig am Beckenrand schlenderte oder sich gegenseitig begleitet vom unvermeidbaren stimmbrüchigen Kreischen zwischen die fluchenden Schwimmer ins Wasser schubste, war alles andere als das. Wir waren freilich nur mit uns selbst beschäftigt, hatten nicht die geringste Idee, wie man sich in die Träume von Jungmädchen hineinverliebt, selbst wenn wir es gewollt hätten, um zur richtigen Zeit die richtigen Worte zu sprechen. Oder die falschen unausgesprochen wieder hinunter zu schlucken, ein Mund voll Chlorwasser schmeckte widerlicher.

4, wir waren unfähig, das Gegenüber zu erkennen, aber das lag an der unbeschreiblichen Überlastung, die es bedeutete, hier und jetzt in dieser Gestalt unter dieser Sonne an diesem Becken bei diesen Jungmädchen in diesen schwarzen Badeanzügen mit diesen gelben Locken und jenen geschmeidigen Fingern zu stehen, mit denen ein paar elegante Tropfen Chlorwasser am Hals und im Nacken verrieben wurden, so dass die buschigen Haare in der Achselhöhle einen Blick nach draußen warfen und auf einen selbst deuteten. Es war nicht haargenau so, dass wir sie enttäuschten, und sie uns, aber nahe daran kam dieses Gefühl schon, das wir erst Jahre und Jahrzehnte später in uns entdeckten, wie eine hinter dem Sofa verlorene staubige Salzstange, das Relikt einer Geburtstagsparty vor 1000 Leben. Wie komisch: wir spürten nicht die Zeit, die verlief, keiner von uns könnte sagen, wie lange damals ein Sommer dauerte – drei Monaten, fünfzehn Monate, fünf Jahre, eine ganze Schulzeit lang –, wie viele Sommer an sich es waren, wie viele Stunden, Tage, Wochen wir am Beckenrand standen und mit den Jungmädchen Blicke tauschten, weil nichts, worüber wir sprechen wollten, sich in Worte fassen ließ, und abgelenkt von der eigenen Ungelenkigkeit flutschten uns die Gefühle aus den Händen wie Fische, die dem Fänger entwischen und wieder eintauchen in das Wasser ohne Tiefe, in dem alles versinkt, die jungen Sommer, die nassen straffen Körper, kühl und fest, unsere lächerlichen Tänze und Handtücher, die Zeit der vergessenen Hoffnung. Und wer weiß, vielleicht ist der letzte Schmerz, den wir empfinden werden, die Trauer darüber, dass am Ende die Welt doch nicht unterging. Wie schön wäre es doch gewesen, jung und kraftvoll und in schwarzen Klamotten in den Tod zu tanzen.

Carsten Stephan: Eichendorff auf Abwegen

Wenn Blüten stille träumen
Im sanften Mondenschein,
Kann ich nicht länger säumen,
Ich wetz das Messerlein.

Im Lenze muss ich reisen
Wohl jede Nacht aufs Neu.
Manch Lieb lauscht meinen Weisen,
Noch jede blieb mir treu.

Des Tages Sorgen schwinden,
Von Nachtigallen schallt’s.
Beglückt schneid ich in Rinden
Und in den zarten Hals.

Durch sternbeglänzte Auen
Zum steilen Fels hinan!
Von drunten Äuglein schauen
Mich endlich selig an.

Wird sich Aurora heben,
Summt goldengrün es just.
So pflanzt der Frühling Leben
In jede müde Brust.

Theobald Fuchs: Be-Fra-Gung

Alle Fragen sind eindeutig mit ja oder nein zu beantworten.

Eine Unterlassung der Antwort führt automatisch zum Abbruch des Verfahrens und der Ausweisung des Antragstellers.

Zur Beantwortung der Fragen sind keinerlei Hilfsmittel zulässig, es darf keine Hilfestellung anderer Befragter noch etwaiger zufällig anwesender Personen in Anspruch genommen werden, jede Form des Unterschleifs führt zur unmittelbaren Ausweisung, Bestrafung oder Hinrichtung, je nach erstinstanzlicher Entscheidung des örtlichen Entscheidungsträgers.

Frage 1: Werden Sie sich bedingungslos dem totalen Kapitalismus hingeben? Ja oder Nein.

Frage 2: Werden Sie sich wirklich bedingungslos dem totalen Kapitalismus hingeben? Ja oder Nein.

Frage 3: Werden Sie jegliche Art von Psychopathen, Narzißten, Schulhofschlägern, Alpha-Männchen, Selbstdarstellern, Massenmördern, Arschnasen, Drecksäcken und ähnliche mehr in Führungspositionen akzeptieren und sich ihnen kritiklos unterwerfen? Ja oder Nein. 

Frage 4: Glauben Sie an Geld, nur an Geld, nichts anderes als Geld und ewiglich an Geld? Ja oder Nein. 

Frage 5: Glauben Sie wirklich an das Geld – mit aller Kraft, inbrünstig liebend und für immer? Ja oder Nein.

Frage 6: Nehmen Sie alle Nebenwirkungen in Kauf, verzichten auf jegliche Form der Haftung und Wiedergutmachung, enthalten Sie sich jeglicher Kritik oder Fehleranalyse, bekämpfen Sie alle Versuche, Solidargemeinschaften zu bilden und sinnlos Gerechtigkeit zu schaffen? Alle Punkte zusammen Ja oder Nein. 

Frage 7: Werden Sie stets versuchen, der erste zu sein, vorne dran zu stehen, alle anderen zu übervorteilen, werden Sie niemandem sonst Vortritt gewähren, alle Futtertöpfe für sich selbst beanspruchen, mit Ellenbogen Kranke, Alte, Arme, Gehandicapte und Schwache wegzustoßen, ihnen dabei so weh tun, dass sie Ihnen für immer aus dem Weg gehen, sich in die erste Reihe durchschlagen, über berstende Knochen und stöhnende Eingeweide trampeln, dort alles an sich raffen, was da ist, ohne Maß und Grenze aufladen, einstecken, klammern, abgreifen, einsacken was geht, nur weil es da ist und sie den anderen ums Verrecken nichts und auch nicht das allerklitzekleinste winzi Bisschen übrig lassen wollen? Ja oder Nein. 

Frage 8: Können Sie sich ja denken – können Sie?! Oder nicht? Oder was?! Ja oder Nein. 

Frage 9: Wirst Du im Namen des Kapitalismus‘ ein Werkzeug nach dem anderen entwickeln, das dann im Namen des Geldes eingesetzt werden kann, um Feinde zu töten, Schwächere zu unterdrücken, arglose Mitmenschen zu betrügen und den Reichtum der Wenigen ins Unermessliche zu steigern? Ja oder Nein. 

Frage 10: Denn ist es nicht würdig und recht – einzugehen unter ein Dach, das da gebaut ist aus purem Gold, zu schützen den Verdienst und die Steigerung des Profis, zusammengehalten vom Gehirnschweiß der tausend und einem Gottesleugner, diesen nützlichen Idioten? Ja oder… verdammt noch mal, nur Ja, nichts als Ja, es gibt kein Nein, zum Teufel!!

(Dieser Fragebogen wurde kurz nach Weihnachten im Brustbeutel eines minderjährigen Spermiums gefunden. Es hatte Unterschlupf im hohlen Rumpf eines Schokoladen-Nikolaus‘ gesucht, dem der Kopf abgebissen worden war. Da es offenbar das Rennen schon verloren hatte, ehe es begonnen hatte, konnte man nichts mehr tun. Es wurde in eine entsprechende »Einrichtung« verbracht. Über die Herkunft des Zettels konnte es keine Angaben machen, weil einfach jung und noch viel, viel, viel, viel, viel zu unschuldig.)

Theobald Fuchs: Sabinchenstadt

Wir hatten uns überlegt, dass man ja von Berlin aus auch mal mit dem Fahrrad nach Nürnberg fahren könnte. Und dann kam es wie es kommen musste: wir machten es wirklich.

Es gäbe viel zu berichten, über die drei Flüsse Havel, Elbe und Saale, und über die drei Bundesländer Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Thüringen, die wir durchquerten. Und über ein paar – ich mache jetzt mit den Händen Anführungszeichen in der Luft –  interessante Begegnungen. Aber nichts davon, kein Wort über Ostdeutschland und die Ossis – es soll hier lediglich über Treuenbrietzen gehen.

Ich sagte, als wir bei der Abfahrt im Grunewald einen Blick auf die Route warfen, noch: Haha, das ist doch diese Kleinstadt, die in dem Lied vorkommt, wo der kranke Typ die Frau umbringt, weil sie aus Liebe zu ihm ihren Arbeitgeber bestohlen hat. Und sechs Stunden später? Steht astrein und noch vor dem ersten offiziellen Ortsschild das erste Plakat mit der Aufschrift: »Treuenbrietzen – Sabinchenstadt«.

Ich vermute, dass nicht alle Hörer*innen von Radio Z diesen Song parat haben, der aus unergründlichen Tiefen der Zeit herstammt und bis zum heutigen Tage praktisch ein Dauerschlager ist. Zumindest in einschlägigen Kreisen. Erstmals abgedruckt laut wikipedia 1849 in der Liedersammlung »Musenklänge aus Deutschlands Leierkasten«.

Musenklänge.

Deutschlands Leierkasten.

Schöne Begriffe, aber ganz klar heute nicht mehr wirklich regelmäßig in Gebrauch. Ein Problem für die Sprachhygieniker der diversen Gesellschaften zum Schutz der Deutschen Sprache, die sich ja gerne auch über die bösen Anglizismen und besonders heftig über gendergerechte Ausdrücke aufregen wie die kleinen Autos. Die können mich allerdings eh gern haben.

Auch in der Mundorgel, einer Liedersammlung von 1984, die der eine oder die andere noch aus dem Zeltlager kennen könnte, ist das Sabinchenlied enthalten.

Wir hören eine Version gesungen von Claire Waldoff. Frühe 1920er Jahre, aber recht progressiv wie ich finde. Claire Waldoff übrigens eine Art Superstar damals, Helene Fischer Hilfsausdruck. Obacht: Krasse Stimme! 

Nun, da sind natürlich schon ein oder zwei Stellen im Text, die wir heute befremdlich finden sollten.

Zunächst ist das ganze ja ein Schmählied auf eine bestimmte Berufsgruppe, den Schuster. Schuster waren unverzichtbare Dienstleister, ohne die es keine Stiefel und Schuhe gab. Spätestens im Winter absolut unverzichtbare Gebrauchsgegenstände. Ein Mensch ohne Schuhe ist in unseren Breiten nicht wirklich überlebensfähig. Warum also dieser Hass auf Schuster, der in diesem völlig unverfrorenem Mobbing gipfelt? Ich vermute hier einen zeitgenössischen Witz, den wir heute einfach nicht mehr begreifen können. Irgendwie so etwas wie: Treffen sich zwei Schuster, sagt der eine… oder: Geht ne Frau zum Schuster… Irgend so etwas.

Dass Sabinchen in frühkapitalistischen Verhältnissen lebt, eine Ausgebeutete ist, die für das obere Ein-Prozent der Bevölkerung arbeiten muss, die sich Silberlöffel leisten können – geschenkt.

In den kinderreichen Familien der damaligen Zeit wurden Töchter, die als überflüssig und nutzlos angesehen wurden, einfach so entsorgt. Ab in ein Ausbeutungsverhältnis, Menschenrechte waren vor allem Männersache. Zum Glück hat sich das ja geändert und alle Menschen sind heute gleichberechtigt, frei und … naja.

Sehr modern hingegen mutet die toxische Beziehung zu dem chauvinistisch-patriarchalischen Schuster an (»wollte Sabinchen besitzen«), in die sie sich verstrickt. Der Schuster beutet Sabinchens starke emotionale Bindung zu ihm gnadenlos aus, er ist ein Trinker, ein Gewalttäter. Wir können nur spekulieren, wie es soweit kam, dass er ein so unausstehlicher Mensch wurde. Das Lied schweigt sich aus, Ursachenforschung in Treuenbrietzen nicht gefragt. Wobei man spätestens jetzt bemerken sollte, dass nur der  Schuster aus Treuenbrietzen stammt, Sabinchen und die Dienstherrschaft allerdings überall sonst angesiedelt sein könnten. Meine persönliche Vermutung ist Berlin, dort gab es Silberlöffel und dunkle Keller in ausreichender Menge. Mit anderen Worten: Treuenbrietzen schmückt sich mit einem Liedtext, der die Stadt als Herkunftsort eines Meuchelmörders ausweist. Das wäre ungefähr so ähnlich wie „Hitlerstadt Braunau“ oder „Julius Streicher-Stadt Nürnberg“. Womit wir bei der rätselhaften Zeitangabe „Aha-achzehn Wochen“ wären. Was um Himmels Willen steckt da dahinter? Genauso gut könnten es doch sechzehn oder neunzehn oder zweiundsechzig Wochen sein, ohne dass man gleich das Versmaß ändern müsste. Wir wissen nicht, wie der Diebstahl rauskam, aber vermutlich dann, als die silbernen Löffel gebraucht wurden. Heißt, sie wurden volle viereinhalb Monate nicht gebraucht! Und der Schuster brauchte in der ganzen Zeit kein Geld mehr. Sonst hätte Sabinchen ja noch mehr Löffel klauen müssen, damit der Schuster noch mehr Geld versaufen hätte können, wovon aber nirgendwo die Rede ist. Ich selbst hätte ja vermutet, dass der Schuster die paar Löffel innerhalb von genauso viel Tagen in Schnaps und Bier umsetzte, so dass recht bald die nächste Eskalationsstufe erreicht worden wäre.

Woher also diese rätselhafte Achtzehn. Nun, wir Menschen des 21. Jahrhunderts sind uns freilich dessen gewahr, dass die Achtzehn ein Code sein kann für den ersten und den achten Buchstaben im Alphabet, für das A und das H, das wiederum für den abscheulichsten Massenmörder aller Zeiten steht.

Und hier liegt wohl der Schlüssel zur Lösung des Rätsels begraben: Der Texter oder die Texterin dieses Songs kannte Adolf Hitler und den Neonazi-Code. Wir haben es hier nämlich mit einem Zeitreisenden zu tun, jemand, der ins Treuenbrietzen des späten zwanzigsten Jahrhunderts gereist war und wieder zurück, um dieses Lied zu schreiben, das dann die Heimatstadt eines Frauenmörders abfeiert. Jemand, der das Treuenbrietzen der Zukunft nicht mochte und auf raffinierte Weise schon über Hundert Jahre früher sein bashing preparte.

Ganz unspektakulär allerdings kommt die geradezu modern anmutende Nicht-Verurteilung zum Tode daher. Selbst angesichts dieser heimtückischen Mordtat verzichtet das Gericht auf die atavistische Strafe und begnügt sich mit Verrottenlassen des Delinquenten in einem dunklen Keller. Quasi Aufklärung pur, Verkündung der Menschenrechte Hilfsausdruck. Oder – leider doch wieder nur ein Fall von Misogynie? Dass man für den Mord an einer Frau nicht so schlimm verurteilt wurde?

Ich denke, wir sollten alle nochmal über dieses Lied nachdenken.

Meine vorläufige Gesamtbewertung allerdings: ein großer Hit, geniales Songwriting, die Melodie hooked sofort im Ohr und geht nicht mehr raus wie das abgebrochene Ende eines Ohrenstäbchens. Was ein Dreckslied. Passt alles.

… daramm dada daramta, daramm, daramm, daramm…