Susanne Stiegeler: Salazar

Einmal- ich war schon erwachsen, studierte in Nürnberg, und war in Augsburg bei Mama zu Besuch, entbrannte ein heftiger Streit um Salazar, den portugiesischen Diktator.

Mama saß da und begann enthusiastisch  zu erklären: „Salazar war ein guter Diktator! Damals war es Mode, Diktator zu sein. Alle waren Diktatoren: Hitler, Franco, usw.! Sie alle waren schrecklich. Aber Salazar war gut. Er ist der einzige Diktator, der arm war, und sein Land reich hinterlassen hat. Sein einziger Fehler war, dass er zu lang an der Regierung geblieben ist! Ich selbst habe ihm einmal einen Brief geschrieben, und ihn kritisiert. Und er hat mich nicht ins Gefängnis gesteckt, sondern mit der Hand (!) zurückgeschrieben, stellt Dir vor.“ Ich widersprach natürlich vehement, daraufhin wurde sie noch engagierter in ihrer Argumentation, Lautstärke, Gestik und rief: „Er war lieb! Er hat seinen schlimmsten Feind, der Chef der ‚Kommjunischtenpartei‘ studieren lassen! Mit zwei Wachleuten links und rechts durfte er jeden Tag zur Uni gehen! Welcher Diktator hat so etwas gemacht?“

Auch hier fragte ich nach, zweifelte an, wurde ebenfalls etwas aufgeregter, stellte diese durchweg positive Ansicht in Frage und so entbrannte ein fürchterlicher Streit, an dessen Ende wir uns erbittert und verzweifelt anschrieen. Am Ende gingen wir weinend und erschöpft ins Bett.

Ich weiß noch, dass ich mir damals dachte, dass ich Salazar nun schon allein aufgrund der Tatsache verabscheute, dass er der Auslöser für einen solchen Streit war.

Susanne Stiegeler: Fit for Life 1 und 2

Irgendwann las die Mamili ein folgenreiches Buch mit dem Titel „Fit for life 1“. In diesem Buch wurde empfohlen, bis 12 Uhr nichts als Obst zu sich zu nehmen. Das wäre in vielerlei Hinsicht ‚zehr!‘ gesund, da es vor Mangelerscheinungen, Krankheiten, Fettleibigkeit und Antriebslosigkeit schützen würde. Das bedeutete, dass wir einige Wochen tatsächlich nur Obst bekamen bis Mittag.

Kurz darauf erschien das Nachfolgerbuch, „Fit for life 2“, in dem der Autor sonderbarerweise vom Obstgebot abrückte und nun den ausschließlichen Verzehr gekochter Kartoffeln bis zur Mittagszeit empfahl. Auch diese Diät wurde sofort in die Tat umgesetzt: Plötzlich standen Kartoffeln auf unserem Frühstückstisch und Mama sinnierte darüber, dass das gar nicht so schlecht schmecken würde.

Ich befürchtete immer das Aufkommen eines dritten Bandes – und was dieser dann von uns abverlangen könnte. Glücklicherweise wurde nie einer herausgegeben.

Susanne Stiegeler: Die dumme Eichhörnchenmama

Mama hatte viele Jahre lang einen Schrebergarten, den sie sehr liebte. Er war ihr Paradies: Sie verbrachte soviel Zeit wie möglich dort. Er war vielen der anderen kleinbürgerlichen, pingelig veranlagten Schrebergärtnern ein Dorn im Auge, da Mama die Bepflanzungen nicht ordentlich in Reih und Glied vornahm, sondern Blumen, Kräuter und Gemüse -zwar sorgsam gehegt und gepflegt -aber dennoch recht frei und wild durcheinander und miteinander wachsen ließ. Einige der besonders vorschriftsstrengen Gartennachbarn beschwerten sich darüber und machten Mama bisweilen das Leben zu Hölle, so dass sie sich irgendwann sogar Hilfe von einem befreundeten Anwalt, Herr Dorn, nehmen musste – von da an war Ruhe. Viele waren aber auch beeindruckt und begeistert von dem wildwuchernden, verwunschenen Fleckchen Erde, das sich Mama im Laufe der Jahre herangezogen hatte:

Im vorderen Bereich gab es einen roten Ahorn, den sie besonders mochte, daneben einen kleinen, umwachsenen Teich. Ein großer, wunderschöner, knorriger Haselbaum, Akeleien, wilden Wein, ein Quittenbaum, Beerenbüsche, Oregano, Salbei, ein Feigenbaum, Kohl, Löwenzahn, Minze, Petersilie, Rosen, Bohnen, Narzissen, Tulpen und noch viel mehr – nicht zu vergessen ihr ganzer Stolz: Die Kürbisse.

Direkt außerhalb, neben dem Garten floß der Lochbach. Das Gartenhäuschen war blau – und Mamili hatte große, gelbe Bienen auf seine Fassade gemalt. Vorne am Häuschen hing ein Vogelkasten, in dem jedes Jahr mehrmals Stare brüteten, hin- und her flatterten, piepsten, riefen und einen riesigen Aufruhr um ihre Brut veranstalteten.

Wenn Mama im Sperrmüll oder Flomarkt weggeworfene Plastik- oder Porzellantiere fand, oder wenn zuhause ein Kreuz oder eine Marienstatue kaputtging, dann brachte sie sie in ihren Garten und stellte sie dort auf: In die Wiese, zwischen eine Astgabel oder in ein Blumenbeet. Die Figuren verblieben dort bei Wind und Wetter, während aller Jahreszeiten, verwitterten, verwuchsen mit den Pflanzen, gingen teilweise weiter kaputt und verliehen dem Garten einen märchenhaften, etwas morbiden, eigenartigen Charakter: Es gab ein Reh ohne Beine, zwei Schwäne mit abgebrochenen Schnäbeln, ausgebleichte Portugal- und Deutschlandfahnen, Marienstatuen mit abgefallenem Heiligenschein, violett bemalte Schaufensterpuppen mit ausgehöhlten Köpfen, Hasen ohne Ohren, Hähne, Bären, Vögel. Diese Armee der ausrangierten Plastikwesen bevölkerte den Garten, genau wie Salamander, Schnecken, Käfer, Amseln und Eichhörnchen.

Und Mama fuhr auf ihrem Dreirad meistens schon in aller Früh hin, wenn noch keiner der anderen Schrebergärtner dort war, betrachtete sich jedes Gewächs, zupfte hie und da Unkraut, sammelte Schnecken und erntete und pflegte alles mit Hingabe. Im Sommer und Herbst ernährte sie sich fast ausschließlich von den Erträgen des Gartens. Wenn sie ihre tägliche ‚Inspektionsrunde‘ erledigt hatte, setzte sie sich in einen Stuhl vor ihr Häuschen, las, betete und war einfach nur glücklich.

Am meisten Freude bereitete es ihr, die zahlreichen Tiere zu beobachten. Eines Tages rief sie mich an und berichtete von einem Abendteuer mit einer „Eintschörnschenmama“ und ihrem Baby: Sie war wohl wieder auf ihrem Stuhl gesessen, als sie ein Eichhörnchen beobachtete, das versuchte, mit ihrem Jungen im Maul über den Lochbach zu springen. Das Junge fiel herunter und konnte sich gerade noch am Rand des Baches festkrallen – schaffte es aber nicht mehr hinauf; die Mutter rannte aufgeregt hin und her und konnte scheinbar ebenfalls nichts machen. Ohne Hilfe würde das winzige Geschöpf wohl bald kraftlios ins Wasser fallen und jämmerlich ertrinken.

Sofort sprang Mama auf und raste zum Ort des Geschehens: Wildentschlossen, das arme, dem Ertrinken geweihte Eichhörnchenbaby zu retten. Sie zog es unter großen Mühen (das Ufer des Lochbachs ist recht hoch, steil und eingewachsen) heraus und legte es ins Gras.

Daraufhin muss es die Eichhörnchenmutter wieder ins Maul genommen haben, um abermals über das Wasser zu springen, wobei sie das Kleine nochmal verlor! Soviel Leichtsinn konnte Mamili beinahe nicht ertragen: „Diese Eintschörnschenmama! Sie war dumm! Dumm! Dumm!“  Sie rettete natürlich das kleine Eichhörnchen trotz dieser himmelschreienden Blödheit ein zweites Mal aus dem Wasser und brachte es dann aber vom Ufer in ihren Garten. Dort legte sie es in ein altes, verlassenes Vogelnest, das sie mit Taschentüchern polsterte: „Damit die Mutter sieht: SO geht man mit einem Baybie um!“

Die Eichhörnchenmutter nahm diese Lehre wohl an: Sie holte ihr Kleines aus dem Nest, und versuchte den gefährlichen Sprung nicht nochmal, sondern verschwand mit ihm im Wald. Vorher aber, so erzählte Mamili gerührt, muss sie vor ihren Stuhl gehüpft sein, und sie direkt angeschaut haben, so, als wolle sie sagen: „Entschuldigung, dass ich so dumm war! Danke für Deine Hilfe!“

Susanne Stiegeler: Das, was Könige nicht sehen

Manchmal weckte uns Mama ganz früh am Morgen und sagte: „Kommt Kinder, aufstehen! Zieht Euch an! Heute werdet Ihr etwas sehen, was sogar die Könige nie sehen!“

Dann ging sie mit uns in die Natur: Auf ein Feld, um den Sonnenaufgang zu beobachten, oder in den Wald, um zu sehen, wie die Natur und alle Tiere des Waldes nach und nach erwachten. Es war immer wunderschön, friedlich und irgendwie zauberhaft. Sie erzählte uns, dass wir das schon gemacht hätten, gemeinsam, als Papa noch lebte; und dass unser Opa Joao in Portugal mit dieser Tradition begonnen habe.

Könige bekämen diese wunderbaren Schönheiten nie zu sehen, weil sie immer viel zu lange schliefen…

Susanne Stiegeler: Gewitter

Mama hatte große Angst vor Gewitter. Angeblich hatt sie in ihrer Jugend zwei Menschen gekannt, die von einem Kugelblitz getroffen starben und zumindest durch Verbrennungen entstellt worden waren. Und so war sie ständig auf der Hut: War der Himmel nur auf trügerische Weise blau? Verhießen die Wolken am Horizont nicht ein nahendes Gewitter?

Man durfte keinesfalls und unter absolut überhaupt gar keinen Umständen außerhalb seiner Wohnung sein, sollte ein Gewitter losbrechen. Und selbst dann war man keinesfalls in Sicherheit: Die mussten die Fenster unbedingt geschlossen bleiben, die Stecker aus den Steckdosen gezogen. Es kam häufig vor, dass sie bei schönstem Sonnenschein in Befürchtung eines Gewitters aus ihrem Garten nach Hause floh. Oder sie rief mich an, um mich vor der Bedrohung zu warnen: „Susaninha! I habe gesehen, bei Euch gibt es gleich ein Gewitter! Bleibt zuhause! Geht nicht raus!“

Sogar der Hund fürchtete sich vor Gewitter: „Das Mädschen hat Angst, Angst, Angst! Sie zittert und versteckt sich unter dem Bett!“