Harald Kappel: ohne Drachenfell

es war einmal
draußen 
im Erwachen
zogen Glasfasern gen Süden
ich rutschte auf dem Vorjahreslaub hinterher
verschluckte den Frost
mit klopfendem Herzen
ein unbedeutender Corvus
ohne Drachenfell
schnell jagte 
ich im ersten Licht
deine Silben
als ich jedoch die Daten berührte
hinterließen sie Bites
auf meiner Haut
mein Körperschatten erbleichte
zu Pfützen aus Sehnsucht
deine Silben rasten
wie Kometen ins All
uneinholbar
für einen unbedeutenden Ritter
ohne Drachenfell

Bastian Kienitz: MENSCHLICHE SCHLACHTEREI

(Blankosonett)

auf bleicher Leinwand schwimmen Überreste
vom Wind verweht, was durch die Steppe zieht
semihumid mit Löss aus karger Quelle
der von der Tundra Kälte mit sich bringt

die strömt hinunter in die Südgefilde
und leckt mit ihrer scharfen Zunge Fleisch
das von den Rippen fällt, die Nahrungsspitze
wird umgekehrt und schreit die ganze Nacht

Verzweiflung drängt aus jeder Fieberpore
und schwitzt sich aus, bis sie von innen friert
nennt sich selbst Unmensch dieses Innenleben

das nichts als nehmen und Ermordung kennt
heißt Schlächter in den Tiefen seiner Seele
wir sehen uns in Wald und Höhle selbst


»nennt sich selbst Unmensch« Zitat: aus dem Drama Faust – Der Tragödie erster Teil, Wald und Höhle von Johann Wolfgang von Goethe. Das Gedicht wurde zudem von dem gleichnamigen Bild MENSCHLICHE SCHLACHTEREI von WOLS inspiriert.

Bastian Kienitz: SPLATTER

(dt. Spritzer, Blankosonett)

die Schütte Splatter auf dem weißen Leinen
trägt keinen Namen, doch es riecht nach Blut
aus alten, längst verwaisten Regentagen
Film ab, jetzt sag zur Horrorshow: Beginn

und höre selbst wie Tropfen lautstark klopfen
mit jedem Spritzer Klatsch lautmalerisch
zu einem Kunstwerk, deinem Opfer werden
in dem die Kraft der reinen Seele steckt

du fließt und mit dir fließen lauter Worte
im Zeilenabstand, der jetzt leiser wird
und anfängt todeswund abstrus zu röcheln

bis du dich selbst in einem Wort erkennst
und deine Flügel auseinanderfaltest:
du unterzeichnest dich und fliegst davon…


»du unterzeichnest dich« in Anlehnung an den Vers „Du unterzeichnest dich mit einem Tröpfchen Blut“ aus Faust 1, Studierzimmer II von J.W. Goethe. Des Weiteren ist das Gedicht von dem gleichnamigen Werk SPLATTER von Hermann Nitsch inspiriert worden.

Simon Borowiak: Atheistische Glaubenskrise

Eine Frage, Gott:
Warum hast Du mich verlassen?
Doch wenn ich dann so um mich schaue:
Du musst die Menschheit ganz schön hassen.
Du machst sie dumm und pöbelnd und gemein,
zerstörst die Schönen, fällst die Gesunden.
Insofern muss die Eingangsfrage eigentlich lauten:
Mein Gott,
warum hast Du mich gefunden?

Harald Kappel: im Labor

ich traf Dich gestern
im Labor
nachmittags
wurde der Igel überfahren
seine Mutter gefressen
Hunde und Katzen
sahen zu

ich traf Dich gestern
beim Hochsprung
nachmittags
wurde Dir die Haut abgezogen
der liebe Gott gekreuzigt
Menschen und Ratten
sahen zu

ich treffe Dich
nicht mehr
nachts
weine ich
wegen Deiner Geburt
keiner und niemand
sieht mir dabei zu

Harald Kappel: Abwehrhaltung

habe genug gelitten
lasse mich ohne Gegenwehr erschlagen
weil
ich es mir verdient habe
mein Haus ist graugrün
wie letztens
der trübe Urin
was bist du nur für ein Mensch
sagte sie
mach was aus deinem Leben
sagte sie
so ein Wahn
dachte ich
ja was denn?
habe genug gelitten
dachte ich
keiner begreift
was ich will
es geht alles durcheinander
wie schmeckt ein Kuss?
ja wie denn?
was erwartest du?
lecke am Rasierwasser
weil
ich es mir verdient habe
im Totenbuch steht
dass die Möglichkeiten
verwirkt werden
irgendwann
möchte mal wissen
was das bedeutet
für mich
möchte das mal wirklich wissen
das ist doch kein Spass
das Saufen
nun mach schon
wie letztens
ohne Gegenwehr

Carsten Stephan: Musikantenstadl

In matten Augen glänzt die Studiosonne,
Ein Rüschenbalg kräht im Tapetenwald.
Und alles schunkelt sich in beige Wonne.
Ein Hirschhornknopf von einer Hose knallt.

Ein Mottenschwarm entflieht den Kampferdünsten.
Ein Jodler schlüpft aus einem Dekolleté.
Der Saalschutz fantasiert von Feuersbrünsten.
Ein Stützstrumpf blickt verliebt auf ein Toupet.

Carsten Stephan: Bimbam

Schilleroulipo

Der Marsch muß hinaus
In den feindlichen Leichtsinn,
Muß wirken und streben
Und pflanzen und schaffen,
Erlisten, erraffen,
Muß wetten und wagen,
Den Grad zu erjagen.
Da strömet herbei das unendliche Gas,
Es füllt sich die Spitze mit köstlichem Halfter,
Die Rechtshänder wachsen, es dehnt sich der Heide.
Und drinnen waltet
Das züchtige Heilkraut,
Der Nachtdienst der Klarheit,
Und herrschet weise
Im häuslichen Krokodil,
Und lehret die Manager
Und wehret den Kode,
Und reget ohn’ Entwicklung
Die fleißigen Hascherl,
Und mehrt die Glasfaser
Mit ordnender SMV.
Und füllet mit Schermäusen die duftenden Laptops,
Und dreht um das schnurrende Springseil die Fanfare,
Und sammelt in der reinlich geglätteten Schürfwunde
Den schimmernden Yuppi, das schneeigte Lichtjahr,
Und füget zum Hahn den Glücksklee und die Schleimhaut,
Und ruhet nimmer.

Elias Hirschl: Was normal ist

eine Produktion von „moïs“ (Katrin Rauch mit Elias Hirschl)

Es ist normal der Sau eins mit dem Holzscheit über den Schädel zu ziehen. Es ist normal die Sau bis ins Wohnzimmer schreien zu hören. Es ist normal die Sau ausbluten zu lassen. Es ist normal die Schweineborsten mit einer Metallkette abzurubbeln. Es ist normal die Schweinehälfte neben der Waschmaschine zu zerlegen. Es ist normal das Schweineblut in einem erwärmten Eimer aufzufangen und tüchtig durchzurühren damit es nicht gerinnt. Es ist normal etwas Salz hinzuzufügen. Es ist normal die Muskelabfälle vom Zuschneiden des Schlegels zusammen mit dem Fett in Wasser vorzukochen, den halbweichen Speck in Würfel zu schneiden und die Fleischabfälle mit der Schwarte und den vorgedämpften Zwiebeln durch den Fleischwolf zu jagen. Es ist normal Gewürze dazuzugeben. Es ist normal zusätzliches Salz hinzuzufügen falls das Blut zu süß schmeckt. Es ist normal die Därme auszuschaben mit einem Spachtel. Es ist normal die dickflüssige Blut-Muskelabfallmasse nach dem Abschmecken in die vorbereiteten Därme zu pressen. Es ist normal die Därme nach dem Abbinden zurück in die heiße Kochbrühe zu tun und sie bei 70 bis 80 Grad eine halbe Stunde ziehen zu lassen. Es ist normal die Därme mit einer Nadel anzustechen um zu sehen ob kein Blut mehr heraustritt. Es ist normal die Därme dann aus dem Wasser zu ziehen und sie zum Abtrocknen über Stangen zu hängen und sie nach Belieben etwas anzuräuchern. Es ist normal die Därme dann einzukühlen um sie in ein paar Tagen der Hochzeitsgesellschaft zu servieren.

Es ist normal sich davor zu fragen, ob man wirklich nicht mit dem Bräutigam verwandt ist. Es ist normal den Bräutigam vor seiner Hochzeit halbnackt in einen fahrbaren Käfig zu sperren. Es ist normal den Bräutigam an einer Holzleiter festzubinden. Es ist normal ihn mit einem Feuerwehrschlauch abzuspritzen. Es ist normal dem Bräutigam mehrere Flaschen Schnaps mit einem Schlauch einzuleiten. Es ist normal die Hose des Bräutigams um Mitternacht zu verbrennen. Es ist normal die Braut zu entführen und ihre Schuhe an einen Baum zu nageln. Es ist normal am nächsten Tag die Blunzn der Familie zu servieren. Es ist normal den Schweinekopf aufzuheben, um ihm bei der nächsten Gelegenheit einem unverheirateten Mann zum 30. Geburtstag in den Vorgarten zu werfen.

Es ist normal nach sechs Monaten Ehe ein Kind zu gebären, was einen sehr wundert, weil man ja bis nach der Eheschließung gewartet hat mit dem ersten Mal. Es ist normal ein Haus zu bauen und sich eine Katze zuzulegen. Es ist normal den ungewollten Katzenwurf in einen Sack zu stecken und in einen Eimer Wasser zu tunken bis keine Luftblasen mehr kochkommen. Es ist normal dem neugeborenen Baby Ohrlöcher stechen zu lassen damit es schon mal welche hat, nur zur Sicherheit. Es ist normal das Kind von klein auf mit ordentlicher Hausmannskost großzuziehen. Mit Blutwurscht, Blunzngröstl, Wiener Schnitzel, Schnitzelsemmel, Tafelspitz, Beuschl, Kaspressknödel, Grammelknödel, Hascheeknödel, Leberknödel, Milzschnitten, Geselchtem, Lammgulasch, Schweinsgulasch, Rindsgulasch, Kartoffelgulasch mit Rindfleischeinlage, Kalbsrahmgulasch, Backhendl, Backhendlsalat, Schlutzkrapfen, Kärntner Kasnudeln, Reindling, Zwiebelrostbraten, Topfenknödel, Germknödel, Tiroler Gröschtl, Hirschgulasch, Wildschweingulasch, Schinkenfleckerl, Krautfleckerl mit Schinken, Bauernschmaus, Brettljausn, Entenbraten, Altwiener Suppentopf mit Rindfleisch, Saumaisen, Mühlviertler Speckknödl im Reindl, Schweinsbraten im Reindl, Kärntner Laxn, Burenwurst, Käsekrainer, ein Hamburger um 1,40, 3,20 im Menü mit Pommes, Saftgulasch, Gulaschsaft, Ei im Glas, Gulaschsaft im Glas, Grammelschmalzbrot, Kaiserschmarrn mit Zwetschgenröster, Wammerl, Rindfleischsalat, Wurschtsalat, Saure Wurscht, Selchroller, Rollmops, Surbraten und Krenfleisch.

Es ist normal vor dem Essen ein Tischgebet zu sprechen. Es ist normal zu sagen: Lieber Gott im Himmel, wir danken dir, dass du uns das Blunzngröstl bescheret hast. Danke lieber Gott für das Beuschl. Danke lieber Gott für den Schlutzkrapfen. Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir, gebenedeit ist deine Brettljause, gebenedeit sind deine Saumaisen, gebenedeit ist dein Gulaschsaft, deine Selchroller, deine saure Wurscht mit rohen Zwiebeln, dein Verdauungsschnaps, dein zweiter Verdauungsschnaps.

Es ist normal sich von den Kindern heimfahren zu lassen weil man zu besoffen ist selber zu fahren. Es ist normal sich in der Weihnachtszeit als Teufel zu verkleiden. Es ist normal fremde Kinder in einen Sack zu stopfen und mit einer Gerte zu verdreschen. Es ist normal, wenn einem mal die Hand ausrutscht. Es ist normal, wenn das Kind ein bisschen abgehärtet wird, ein bisschen aufs echte Leben vorbereitet. Es ist normal dem Kind zu sagen, dass es nicht weinen soll. Es ist normal, ihm für den Kirchtag ein Dirndl anzuziehen, auf dem mit der Position der Schleife ausgeschildert ist, ob es vergeben, single oder Jungfrau ist. Es ist normal, dass der Ehemann nicht mehr ich liebe dich sagt, man sagt ja auch selber nicht mehr ich liebe dich. Es ist normal nicht mehr geliebt zu werden. Es ist normal nicht mehr zu lieben. Es ist normal den Kontakt zu seinen Kindern zu verlieren. Es ist normal keinen Besuch mehr zu bekommen. Es ist normal, dass sich mehrere ehemalige Schulfreunde besoffen mit dem Auto tot fahren. Es ist ja auch normal, dass man selber besoffen fährt, jetzt wo die Kinder weg sind. Es ist normal noch einmal mit den Kindern Silvester feiern zu wollen, Schwarzpulver in Kartonröhren anzuzünden, sie in den Himmel zu schießen und dabei zuzuschauen, wie sie in bunten Farben explodieren.

Es ist normal Biskuits in Fischform zu essen und Sekt mit kleinen Plastikschweinchen darin zu trinken. Es ist normal geschmolzenes Blei vom Löffel ins Wasser fallen zu lassen und aus den entstehenden Formen die Zukunft vorherzusagen. Es ist normal sich Vorsätze fürs neue Jahr zu machen. Es ist normal einen Streit mit den Kindern anzufangen. Es ist normal seine Tochter anzuschreien, dass die Globuli sehr wohl etwas helfen, weil damals haben die ja auch gegen die Erkältung geholfen und die Bachblüten gegen die Prüfungsangst und immerhin hat sie ja jetzt ihren Schulabschluss, also soll sie nicht so undankbar sein. Es ist normal, dass der Ehemann währenddessen mit der Gerti schmust, weil es ist ja schließlich Silvester. Es ist normal, dass der Ehemann in letzter Zeit immer später von der Arbeit kommt. Es ist normal, dass der Ehemann einem vorwirft, dass man selber Schuld daran sei. Es ist normal, dass er sich die Aufmerksamkeit, die Spannung, die Aufregung bei der Gerti sucht, weil die Gerti eben aufmerksamer, spannender und aufregender ist, so wie die Susi damals aufmerksamer, spannender und aufregender war, so wie die Sabine damals aufmerksamer, spannender und aufregender war, so wie man selbst früher aufmerksamer, spannender und aufregender war. (Es ist normal sich Vorsätze fürs neue Jahr zu machen. Einen Strich ziehen, ein neues Jahr, ein neues Ich.)

Es ist normal, am nächsten Morgen früh aufzustehen und den Polterkäfig vom Dachboden zu holen. Es ist normal dem Ehemann eins mit dem Holzscheit über den Schädel zu ziehen. Es ist normal ihn bis ins Wohnzimmer schreien zu hören, während man frühstückt. Es ist normal die Sau ausbluten zu lassen und das Blut in einem vorgewärmten Eimer aufzufangen. Es ist normal, die Sau durch den Fleischwolf zu jagen. Es ist normal, die Sau in die eigenen Därme zu stopfen und eine Stunde ziehen zu lassen. Es ist normal, sich das Dirndl der Tochter anzuziehen und mit der Position der Schleife bekannt zu geben, dass man jetzt wieder single ist. Single and ready to mingle. Es ist normal, den Kopf der Sau in den Vorgarten zu werfen, auf den Rasenmäherroboter und im Liegestuhl sitzend zuzuschauen, wie er herumfährt zwischen dem gestutzten Unkraut, zwischen den Kürbissen und Zucchinis und den Gartenzwergen.