Andii Weber: Mondgesicht

  PUNKT

Er weiß es noch nicht, aber seine Haut hat sich bereits von seinem Körper gelöst und wartet darauf, abgestreift zu werden, damit er endlich wachsen kann, Kreise im Sand ziehen und die Sonne verschlingen. Ein Haarriss im Glas, das Spiegelbild verdoppelt sich, dann ein Sprung, befreit, bereit. Endlich die Logik, die Formel, die Kurven, das alles verstanden. Er streckt seine Arme und Beine aus, schmatzt, und macht sich auf, in die Nacht.

Neulich sah ich eine Meme, das die sich über die Jahre verändernden Designs des Toys-R-Us-Giraffen-Maskottchens „Geoffrey“ zeigt. Alle Darstellungen des Maskottchens waren im klassischen Comicstil gehalten. – Nur unter “2001” wird Geoffrey durch ein gefiltertes Foto einer echten Giraffe dargestellt. 

Das meme behauptet nun in der Unterschrift, es sei unmöglich, Toys-R-Us’ Geschichte zu erzählen, ohne zu erwähnen, dass Geoffrey durch 9/11  für einen kurzen Moment die Unschuld verlor; Einen kurzen Moment gerissen aus der Comicwelt, aus den Versprechungen des ausgehenden Milleniums – ein Glitch in der Matrix, un-heimlicher Realismus. 

Seit der Mitte der Nullerjahre wird Geoffrey wieder zur klassischen Illustration, diesmal allerdings ohne die dicken, schwarzen Outlines, die Geoffrey bis 2001 zusammengehalten hatten. Weg sind die Linien, die Kurven, der Halt. Ein Blick in den Abgrund, wenn man so will. Zeitgenmäße, chice Farbflächen formen jetzt das erbarmungslose Giraffengrinsen.

mit 13 Jahren hatte ich einen eigenartigen existentialistischen Ekel, ausgelöst durch gedruckte, fröhliche Comicfiguren, zum Beispiel auf Lebensmittelverpackungen; Ich kam irgendwie nicht klar mit diesem Lachen, für immer gefroren auf dem Plastik, erbarmungslos den Kontext ignorierend, vollkommen sinnentleerten Frohsinn senden müssend, im Endeffekt nur, um Kinder zum Quengeln zu animieren – oder gar zum Weinen? 

Dieses fassadenhafte Lachen bedeutet für mich vor allem eins: Grausamkeit. Ein fröhlicher Clown in der Lunge einer Schildkröte, ein anthropomorpher Tigerkumpel in einem Autowrack, aus dem verflüssigte Menschen heraustropfen, ein hüpfender Elefant in Turnschuhen und Baseballcap vergilbt von der UV-Strahlung (viel zu hoch allerweil) während es schon lange keine Rüsseltiere mehr gibt. Wie soll man das als Kind ertragen, geschweige denn als Erwachsene:r?

PUNKT

Das mit der Euphorie ist eigentlich recht einfach erklärt. stell dir zwei sinusfunktionen vor: f1(x)=sin(x+ϕ) und f2(x)=sin(x). “ϕ” bezeichnet hier jeweils die verschiebung der ersten kurve auf der x achse. Diese zwei Kurven in deiner Brust schwingen hin und her. Ihre Addition steht für Deine innere Verfasstheit. Je nach der verschiebung ϕ ergeben sich kleinere oder größere amplituden der ewigen auf und abbewegung der beiden rastlosen kurven.

Wenn du aber eine der beiden funktionen exakt um die Kreiszahl π verschiebst, dein ϕ ein π ist, dann heben die beiden Sinuskurven sich in der Addition gegenseitig auf, es kehrt plötzlich eine ungewohnte stille in die kurve ein: frieden, ausgeglichenheit, tröstende ruhe, euphorie obwohl ja deine beiden brustkurven immernoch schwingen, sind die Amplitude und die Frequenz der addierten Kurven in diesem moment 0,.. so einfach ist das. Harmonie. π. Zen.

So, jetzt musst du nur noch herausfinden, wie man das ϕ einstellt und ewiger Euphorie steht nichts im wege.

Einmal zog Archimedes Kreise in den Sand, und dabei nicht gestört zu werden, war ihm wichtiger als sein Leben. 

Er war im Flow der Kreise aufgegangen und nichts war schlimmer, als da herausgerissen zu werden.

KOMMA

Wie sehr hatte ich bis zum Moment π doch das Tanzen gehasst: erbärmliches Gebalze, den Arsch stundenlang hin- und herbewegen, sinnloses oszillieren zwischen zwei Punkten .. Und überhaupt: Wohin mit den Armen und Beinen, dem Hals, diesen lächerlichen Extremitäten?

Und jetzt gibt es nichts, bei dem ich meine Linien besser und gleichmäßiger in den Sand gezogen bekomme: Ich schwinge zwischen 1 und -1, meine Arme und Beine wissen endlich, wohin mit ihnen, sie haben sprechen gelernt. Ich schlängel mich durch die dampfende Masse blicke kreuzen sich, meine Lippen zucken zu einem triumphalen Lächeln. Schweiss, Wellenamplituden in der Luft; das Glühen drückt die Soße aus meinen Poren. 

Und für einen Moment ist die Ghibli-Unordnung in meinem Kopf sauber verräumt, in Kisten verpackt, kondo-style. sparkt hapπness. im flow sein, senden und empfangen ohne linguistisches Rauschen. 

Einmal rannte Archimedes nackt durch die Stadt und rief immer wieder “Eureka! EUREKA, Eureka!” 
Er war für einen kurzen Moment im Reinen mit sich, befriedigt, stolz, schamlos.

Ein Echsenmensch mit linsenförmigen, scharfzüngigen Pupillen streift durch die Nacht. Es klickert auf einer geraden Linie unter dem warmen Licht der Laternen entlang, allerweil heiß. Zwei Jugendliche auf BMX-Rädern fahren vorbei, blicken sich um, um den göttlichen Affront zu sehen, ihn glauben zu können, doch sie können nicht, noch nicht, sie haben noch nicht vom Baum gekostet. Allerweil so verdammt heissssssssssss.

Es biegt ab und wippt beim Gehen leicht, es verändert seine Gestalt, bald Marder, bald Katze, bald Schlange. Die Schuhe klackern schmatzend auf dem Gehsteig; die Augen glühen warm-grün, wie auch sonst. Das Echse hat kein Ziel, es will nur ein bisschen den Wind spüren, auf der Kleidung, auf der Haut, den Schuppen, im Schutz des Mondes. Selbstbewusst, endlich frei, so heiß, das Blut, heißer als erlaubt. die ganze Welt klackert und schmatzt mit dem Echse in diebischer Verzückung durch die Nacht.

Die Antwort kommt von oben: Du wirst immer mein geliebter Sohn bleiben ….  Sohnemann!

… Ist der wert π dann überschritten – und das geht sehr schnell –  dauert es wieder eine ganze wellenlänge lang, bis dieser kurze moment der ruhe einkehrt, dazwischen sind unendlich viele punkte chaos, Ungereimtheit und Hässlichkeit zu überwinden. 

STRICH

Ein glänzendes Auto (oder, im richtigen Licht … ein Schiff ?) bremst neben der Echse ab, schnuppert und ruft ihr etwas zu. Es hat die Witterung aufgenommen. Ob die Echse denn mit wolle, vielleicht Shisha oder Disko, in die Dunkelheit, in die Kälte, nicht auszudenken, wohin sonst noch. Die Echse blockt ab, so gut sie kann, doch das Autoschiff bleibt weder stehen noch fährt es weiter, es ruckelt neben der Echse her und will. 

Kalt, so verdammt kalt. Das Blut gefriert in den Adern, sie kann sich kaum noch bewegen, sie verwandelt sich in eine Nacktschnecke, dann einen Schwanzlurch. 

Verdammt, Echsen sind doch Kaltblüter, der Mond soll gehen, die Sonne soll wiederkommen, die Nacht muss weg da, aus dem Weg. Mach, dass es wieder heiß wird! 

Zur Not, denkt sich die Echse, muss ich meinen Schwanz abwerfen, als Schutzmechanismus, als Ausweg. würde das Auto sich dann nicht mehr aufbäumen und seine öligen, gummibereiften Arme und Beine nach mir ausstrecken? 

Endlich! Das Auto gibt auf und fährt weiter, die Echse ist frei. und die Echse verkriecht sich armlos und beinlos unter ihrer Infrarotlampe. morgen soll es wieder heiß werden.

Ach Übrigens, Mutter, ich wollte dir noch sagen, dass …

Einmal benutzte Archimedes die vernichtende Kraft von Spiegeln und der Sonne, um Schiffe anzuzünden. 

Er hatte einen durchschlagenden Erfolg: Seine Erfindungen waren gut darin, seine Feinde zum Quengeln und Weinen zu bringen.

Der liebe, böse Gott hatte der Schlange die Arme und Beine abgerissen, Begründung: (könnt ihr euch das vorstellen?) Weil halt! (typisch!) Vorher war die Schlange eine ganz normale Echse, doch leider wachsen Echsen nur Schwänze nach, nicht Arme und Beine. Jetzt also Schlange. Aber woher weiss man schon, als was man am nächsten Morgen aufwacht?

Die große Schlange verschlingt jeden Abend die Sonne und scheißt sie am Morgen wieder aus, und trotzdem kommt am Morgen die Freude und am Abend der Ekel. Die Wellenlänge ist 24 Stunden und die Kurve lässt sich bis ins Unendliche genau vorhersagen. immer auf der Kippe zwischen richtig und falsch – zwischen synchron und aus dem Takt, zwischen Sinus und Cosinus.  

Da steht ein ϕ am Sπegel und schaut hinein. Der Sπegel schaut zurück. Drecks-ϕ.

1 Megacringe, das visceral und spürbar die Innereien zusammenzieht. Abneigung des Innen gegenüber dem Außen, Body und Mind haben ein Problem, Datamosh in der Matrix. In zwei Sprachen mit sich sprechen, aber nur eine verstehen. Kein Feedback, disconnect.

Eine Out-of-Body-Experience, als wäre man verschleimt und verkrustet aus dem Nasenloch einer Kuh gepustet worden. Nur eine stoppelige Fliege. 

Der Bart wächst nach, der Weißpunkt verschiebt sich ins kalte – um das Maul, die pleurodonten Zähne, den Kehlsack herunter. Die Konturen verlaufen, hubbeln und beulen sich aus, schuppen, verwischen, die vorsichtig aufgemalte Balance verflüssigt sich, Zitronengesicht, Essigauge, eine Schlangenlinie, eine Kurve,  ein Haar, ein Riss, Schlag, Blitz, Spiegel, Schiffe, FEURIO! Wir wurden von der Sonne angesteckt! Rette sich, wer kann, such deinen Schwanz, um ihn abwerfen zu können! 

Und wo ist der Mond? Du musst noch eine halbe Wellenlänge auf ihn warten, dann wird auch dieser Spiegel wieder ein klitzekleines bisschen kaltes Sonnenlicht auf dich werfen. In der Dämmerung wird ϕ wieder π und wir fangen nochmal von vorne an.

Verzweifelt man selbst sein wollen, verzweifelt nicht man selbst sein wollen, verzweifelt sich nicht bewusst zu sein, ein Selbst zu haben. Die Verzweiflung der Unendlichkeit, die Verzweiflung der Endlichkeit, die Verzweiflung der Möglichkeit sowie die Verzweiflung der Notwendigkeit. Verzweiflung als Default, nur Glaube als Ausweg (natürlich!)

„Das Absurde ist die Verzweiflung ohne Gott.“ Kierkegaard hatte wohl auch ein bisschen Ängst, wie wir alle mit 13 Jahren, oder? 

oder? 

Das geht vorbei. 

Its just a phase, right?

FERTIG IST DAS MONDGESICHT

..,-

blumenleere: are we our destinies?



ob aurora borealis oder borreliose, eine frage des lichteinfalls, dessen schimmer sich auf deiner haut niedersetze, das konzept ihrer membran benetze & bald hindurch dringe, bis zum verarbeitungszentrum hirn, wo alle daten kopulieren & wundersame kinderchen hervorbringen. & damit sollst du dann zu leben haben, irgendwie, im ominoesen spielraum zwischen hypochonder, anhaenger:in sogenannter alternativer heilungsmethoden oder der inzwischen selbst in konventionellen kreisen durchaus hinterfragten bis verpoenten, kaum mittelalten – indes, die wurzeln, die wurzeln … ! – schulmedizin. beziehungsweise spielen wir lieber das psychsosomatische spiel? jedes symptom, mit dem du dich auseinandersetzt, weil es dir nicht gefaellt, sei resultat eines inneren, unverarbeiteten konflikts – feindbild unversoehntes unbewusstes –? & du roedelst dahin, um dich wieder in eine topform zu bringen, die du nie hattest – dreams becoming schemes to try to conceal a past that never was –, & erkennst nicht, wie du schlicht & ergreifend einfach aelter wirst & dein koerper dich, in der konsequenz – yeah, i know it sucks, but that’s life! –, verlaesst, peu à peu. ja, vielleicht schoener, dahingegen, das prinzip salutogenese, ein permanentes oszillieren in einem spektrum, ohne realistische option, je einen seiner absoluten pole zu beruehren –  & fuehlst du dich gesund, bist du es auch, denn sogar, wenn du dich damit komplett verrennen wuerdest, waere, ehe du es bemerken koenntest, dein tod eh vorher schon da; à la hallo!

Harald Kappel: eigenartiges Radio

ich bin ein kreiselndes Geschöpf
am Toten Punkt
jenseits der Jetztzeit
die Uhren beben
und laufen ab
nur für mich
das Transistorradio verkündet
meinen Einschlag auf den Mond
und im Dorf        
haben sie es ja schon immer gewußt
Massen versammeln sich am Horizont
meine verklebten Augen
sehen den Würgereiz ihrer Gesichter
im Stall stopfen sie mir trockenes Heu
ins freche Maul
reglos ertrag ich die Fütterung
nach Vorschrift des Führers
im Graben
ist die Strömung zum Erliegen gekommen
und das Denken
dort liegt die Freiheit im nassen Sarg
ich falle quer hinein
dieser Bruch wird nicht verheilen
ein scharfer Schatten
seziert meinen falschen Mut
das Transsistorradio verkündet
meine Läuterung

Harald Kappel: ihr Ratten

ich habe mein Bett
unter euer Fenster gerückt
gleich morgen
werde ich etwas aus dem Leben machen
mein Wein wird sauer
wann er will
Ratten können gehen
wohin auch immer
nur ich
ich
ich bin gefangen
Durst ist mein Käfig
ich kämpfe hart
habe keine Furcht
nur
vor der Freiheit
aber ich werde
euch Allen verzeihen
euch Alle bezahlen
euch Alle lieben
ihr Ratten
ich werde etwas aus dem Leben machen
ich habe mein Bett
unter eure Freiheit gerückt gleich morgen

Andii Weber: Es braucht nur ein paar Rosen, um einen ganzen Staat zu zersetzen

Napoleon Bonaparte im Spiegelgespräch

Napoleon Bonaparte, Kultmegaloman in kleiner Uniform, sitzt in einer Hollywoodschaukel auf seiner Terasse. Seit seiner Niederlage bei Waterloo hat man ihn nicht mehr so entschleunigt gesehen. Er scheint in Gedanken versunken, in seinem Gesicht zuckt kein Muskel. Nur wenn er einen Schluck aus der halben Kokusnuss mit Strohalm nimmt, die ihn sein Familienminister vor dem Gespräch bereitgestellt hat, verzieht sich seine Miene: Es scheint nicht zu schmecken. Die Stille von St.Helena, einer kleinen Insel im Pazifik, scheint Napoleon geradezu zur Ruhe zu verdammen. Doch innerlich lodert seine Flamme weiter, wie er uns im Interview verrät. Ein Gespräch über Abgeschiedenheit, Gartenarbeit, die Fragilität von Macht und über Punk.

SPIEGEL: Herr Bonaparte, dies sind schwierige Zeiten, Ich habe schon viele Interviews geführt, aber dies ist das erste, bei dem ich eineinhalb Meter abstand halten muss.

Napoleon: Ja, schwierige Zeiten in der Tat, schwierige Zeiten. (blickt verträumt auf die Vulkanspitzen)

SPIEGEL: Aber ich möchte mich trotzdem ganz herzlich bedanken, dass sie sich die Zeit für uns genommen haben.

Napoleon: (lacht scharf und ironisch auf) Ja, bitteschön. Ich habe momentan eigentlich recht viel Zeit …

SPIEGEL: Danke

Napoleon: Ja, bitte.

SPIEGEL: Dankeschön, wirklich. das ist sehr … lieb.

Napoleon: Ja, zum Henker, bitteschön!

SPIEGEL: Danke! Sie sind ja schon einige Jahre hier in der Verbannung auf St. Helena. Was können wir als freie Europäer denn von Ihnen als unfreien Ex-Europäer lernen?

Napoleon: Wenn sie mich so fragen: Nichts.

SPIEGEL: Aber sie müssten doch der absolute Grand Expert in sachen Isolation sein. Wie halten sie es aus so ganz ab vom Weltgeschehen?

Napoleon: Sie sagen das mit so einem Unterton, das gefällt mir gar nicht!

SPIEGEL: Was meinen Sie?

Napoleon: Na das mit dem Grand Expert in Sachen Isolation. Sie wissen schon, das ich immernoch der Grand Impereur bin oder?

SPIEGEL: Ach so?

Napoleon: Natürlich! Zugegeben, mein Reich hat sich etwas verkleinert. Ich herrsche hier mit allem Pipapo und sogar Hofstaat über meinen Garten.

SPIEGEL: Ihren Garten?

Napoleon. Das hat mein Arzt empfohlen: Herr Empereur, hat er gesagt, gehen sie doch mal in den Garten und schneiden sie Rosen und Hibiskusblüten ab; Das hilft gegen die Langeweile und die Gicht. Ja, und das habe ich dann gemacht. Zuerst war das auch ganz fabelhaft: Ich habe diese stacheligen Blumen ganz herrlich gezähmt und mir unterworfen. Doch dieses Drecksgestrüpp ist einfach immer nachgewachsen! Sie müssen wissen, mein Garten ist sehr groß …

SPIEGEL: Lassen Sie mich da mal kritisch einhaken: Wie groß genau?

Napoleon: So groß (Napoleon zieht seine Hand aus seiner Hose und macht eine ausladende Bewegung).

SPIEGEL: Hat es eigentlich einen Grund, dass sie die Hand nicht mehr im Revers tragen, sondern in der Hose?

Napoleon: Hä?

SPIEGEL: Fahren sie fort!

Napoleon: Also die Rosenscheiße wuchs immer wieder nach und so befahl ich meinem Koch, dass er jeden Tag genau einen Daumen dick abschneiden solle von allen Rosen.

SPIEGEL: Ein solider Plan, wie mir scheint …

Napoleon: RUHE! Damit fing der Mist ja gerade erst an! Mein Koch war den ganzen Tag am Rosenschnibbeln. Denn wie ich bereits erwähnte, ist mein garten sooo … egal. Seine eigentlichen Schnibbelpflichten, die in der Küche nämlich, vernachlässigte er also sträflich. Was natürlich unverzeihlich ist.

SPIEGEL: Ja, und dann?

Napoleon. Naja dann habe ich meinen Innenminister zum Kochen geschickt, und meinen Arzt zum Koch in den Garten zum Rosenschnibbeln. Dadurch ist aber zum einen eine Vakanz im Innenministerium entstanden die ich umgehend mit dem Minister für Digitales und Infrastruktur auffüllen musste und meinen zweiten General, eine Schnarchnase vor dem Herrn übrigens, habe ich beordert, meine täglichen Arztvisiten abzuhalten.

SPIEGEL: Interessant …

Napoleon: Ich bin noch nicht fertig! Durch diese Rochaden entstand in meinem (macht ein verächtliches Gesicht) “Parlament” ein Machtvakuum und löste eine kleine Regierungskrise aus. Und jetzt habe ich Rosen mit perfekten Blutwerten und einen 5G-Funkturm in meinem Wohnzimmer und muss mir bei jeder Arztvisite anhören, dass es das beste gegen meine Gicht wäre, wenn ich mir beide Beine amputieren ließe.

Sie sehen an diesem Beispiel, wie fragil Macht ist: Es braucht nur ein paar Rosen, um einen ganzen Staat zu zersetzen. Diese Engländer können ihnen davon ein Liedchen singen.

SPIEGEL: Es scheint mir so, als würde ihnen nicht langweilig werden, trotz der Verbannung in die absolute Abgeschiedenheit.

Napoleon: Was reden sie da? Es ist dermaßen fade. Ich möchte etwas singen!

SPIEGEL: Aber …

Napoleon: I’m so bored with St.Helen
I’m so bored with St.Helen
But what can I do?

SPIEGEL: Sind sie ein Punk, Herr Bonaparte?

Napoleon: Was erlauben sie sich?

SPIEGEL: Entschuldigung, dumme Frage.

Napoleon: Ja.

Spiegel. Verzeihung.

Napoleon. Schon gut.

SPIEGEL: Anders gefragt: Rosenschneiden, Regierungsgeschäfte, Arztvisiten. Bleibt da überhaupt noch Zeit, die Stille von St.Helena zu genießen?

Napoleon. Was ist denn das nun wieder für eine Frage? Was meinen sie, warum ich das alles mache? Meinen sie wohl, ich wäre hier zum Spaß? Ich schlage hier meine letzte Schlacht. Die schlacht gegen die Langeweile, die Stille. Also möchte ich durchaus sagen, dass ich erfolgreich bin, trotz der ganzen Amateure um mich herum. Entourage, entourage! ich kann es nicht mehr hören! Wuseln ständig in meinem schönen Garten herum und bringen alles durcheinander.

SPIEGEL: Wie lebt es sich denn so im Hause Bonaparte im Südatlantik?

Napoleon: Naja, ich habe einen sehr großen Hut und ein sehr kleines Bett. daneben versuche ich meine Memoiren zu schreiben. Und von wegen Abgeschiedenheit! Ganz im Gegenteil: Sie wissen ja gar nicht wie viele Touristen Täglich, stündlich versuchen in mein Anwesen zu gelangen, um mich zu begaffen. Das ist die eigentliche Demütigung: Die Romantisiereung meiner Abgeschiedenheit durch dahergelaufene Taugenichtse, die mir beim verschimmeln zuschauen wollen. PACK!

Und so versuche ich mich noch weiter zurückzuziehen: Ich gehe nur noch aus dem Hause, wenn es gar nicht anders geht. Und eigentlich geht es immer anders. Man braucht halt nur einen funktionierenden Hofstaat, dann kann man auch zu hause bleiben.

SPIEGEL: Viele Menschen, die momentan in Isolation leben, würden dem vielleicht entgegenen, dass sie keinen funktionierenden Hofstaat zu Hause haben. Haben sie den Realitätsbezug verloren, Herr Bonaparte?

Napoleon: Nein.

Untot in Gostenhof: (6) Ida im Büro

Ida überragte die füllige Sekretärin, die am Kopierer stand, um eineinhalb Kopflängen. Die Dame kopierte mühsam Seiten aus einem Buch und stellte sich dabei so ungeschickt an, dass die Kopien zur Hälfte komplett schwarz waren. 

»Hübsch sieht das aus«, sagte Ida, »aber brauchen Sie noch lange?« 

»Ich wollte eigentlich erst Mittag machen und danach dann fertig …« 

Ida hatte keine Eile. Sie schlenderte zurück in ihr Büro. Die Sekretärin setzte sich an ihren Tisch und begann ein Butterbrot zu kauen, wobei ihr Brösel aus dem Mundwinkel rieselten. 

Etwa zwei Stunden später machte Ida einen weiteren Anlauf. Diesmal war der Kopierer frei, aber der Papiereinzug war hoffnungslos verstopft, weil der letzte Benutzer der Maschine, anstatt den Papierstau zu beseitigen, hemmungslos immer wieder versucht hatte, eine weitere Kopie anzufertigen. Ida telefonierte mit dem Haustechniker. Sie wählte die Nummer aus dem Gedächtnis, denn die Nummer, die am Gerät angeschrieben stand, war, wie sie aus eigener Erfahrung wusste, falsch. 

»Sie wissen, weshalb ich anrufen?« sagte Ida, als am anderen Ende der Leitung jemand abhob. Damit war das Gespräch dann auch schon wieder vorbei. 

Ida ging in ihr Büro und begann zu warten. Sie kramte aus der Seitentasche ihres schwarzen Kleides eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug. Sie rauchte ungestört, denn sie war noch am selben Tag, als das runde Kästchen montiert worden war, auf den Schreibtisch gestiegen und hatte dem Feuermelder an der Decke eigenhändig die Drähte abgezwickt. 

Ida war lange genug bei der Firma, um aus den Geräuschen, die vom Flur her zu ihr drangen, schließen zu können, dass der Haustechniker kam, einen ellenlangen Fluch ausstieß, als er die Schweinerei im Kopierer erblickte, und dann das Problem innerhalb von zwei Minuten behob. Leider hörte Ida auch, wie sofort, kaum dass sich die Tür hinter dem Haustechniker geschlossen hatte, der Sachbearbeiter, der ein Büro schräg über den Gang bewohnte, zum Kopierer eilte. Sie würde noch ein wenig warten müssen. Ida langweilte sich noch einen Tacken mehr und griff zum Telefon, um ihre Tante Mathilda anzurufen. 

»Hallo, Tante Mathilda«, sagte sie. »Ich kann leider noch nichts Genaueres berichten, mir sind hier ein paar Dinge dazwischen gekommen.« 

»Ach Ida, bin ich froh, dass du anrufst! Dein Onkel Serban ist heute mal wieder kaum zu ertragen! Er will seinen schattenlosen Doppelgänger zu den Leuten ins Vorderhaus schicken, weil die gestern Nacht wieder bis drei Uhr früh gefeiert haben …«, begann Tante Mathilda zu lamentieren. 

»Aber was ist daran verwerflich? Serban will nun mal nachts in Ruhe seine Zeitung lesen, und der schattenlose Doppelgänger hat sich doch bewährt?«, fragte Ida und bemühte sich um Sachlichkeit. 

»Bei den Russen – ja, aber die von gestern sind sicher keine orthodoxen, ich fürchte, es sind sogar Italiener!« rief Mathilda in äußerster Verzweiflung. 

»Beruhige dich, Tantchen!«, sagte Ida knapp. »Ich schaue heute nach der Arbeit bei euch auf einen Sprung vorbei, und wir überlegen in Ruhe, wie wir die Leute im Vorderhaus quälen können, o.k.? Ich muss jetzt weitermachen, sonst läuft mir die Zeit davon – bis später!« 

Ida legte auf, atmete tief durch und machte sich zum dritten Mal an diesem Tag auf zum Kopiergerät. Aber auch sonst hätte sie nichts zu tun gehabt. Der Fotokopierer stand diesmal verlassen da, als ob er sich schon den ganzen Tag genauso wie Ida langweilen würde. Ida klappte den Deckel, der die Mechanik des automatischen Einzugs in sich birgt, nach hinten weg. Auf der Glasplatte für die Vorlagen lag ein Brief, den ihr Kollege von schräg gegenüber offensichtlich vorhin vergessen hatte. Er hatte es wohl eilig gehabt, dachte Ida, denn der Brief war an ihn adressiert und stammte von einem Inkassobüro, das ausstehende Spielschulden anmahnte, die er in einem Spielautomaten-Center gemacht hatte. Ida überflog das Schreiben und lächelte, als sie das Wort »Pfändungsbefehl« las. 

Sie legte den Brief auf das nebenan stehende Faxgerät, damit noch viele weitere Kollegen ihn lesen konnten, griff tief in ihr schwarzes Kleid und zog vorsichtig ihre Hand wieder heraus, die sie um etwas Kleines, Empfindliches geschlossen hatte. Behutsam setzte sie eine zerzauste Fledermaus auf die Glasplatte und breitete mit ihren dünnen, weißen Fingern die Flügel des Tieres aus. Sie klappte den Deckel der Maschine wieder herab, achtete jedoch darauf, dass zwischen diesem und der Glasplatte ausreichend Raum für das kleine Lebewesen blieb. 

Zehn Minuten später saß Ida wieder an ihrem Schreibtisch. Aus dem Aschenbecher stieg ein dünner Rauchfaden fast senkrecht nach oben, doch Ida war so vertieft in die Fotokopien der kleinen Fledermaus, die sie wieder sicher unter ihrem Kleid verstaut hatte, dass sie gerade nicht an ihre Zigarette denken konnte. 

»Da haben wir es ja schon«, murmelte sie. »Den tausend heulenden Höllenhunden sei es gepriesen!« 

Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer ihrer Tante Mathilda. 

»Ich weiß jetzt, was dem kleinen Hermann fehlt«, berichtete Ida. »Er muss einen Zahn gefressen haben, der ihm im Magen liegen geblieben ist. Wie ich es mir erhofft hatte, hat die Lampe des Kopierers deinen kleinen Schatz wunderbar durchleuchtet. Ich konnte das Ding in der Fotokopie ganz deutlich erkennen, es ist ein menschlicher Backenzahn.« 

»Das sind wenigstens einmal gute Nachrichten«, sagte Mathilda am anderen Ende der Leitung, und Ida konnte die Erleichterung in ihrer Stimme hören. »Zwei Tage Diät werden genügen, und schon ist er wieder auf dem Damm. Bei deinem Onkel hat das bisher auch jedes Mal funktioniert, wenn er sich überfressen hat.« 

Ida verließ ihr Büro kurz nach fünf. Draußen war es schon dunkel, aber sie behielt ihre Sonnenbrille, die sie schon den ganzen Tag getragen hatte, auf der Nase. Sie fischte ihren Schlüsselbund aus der Tasche, an dem die Knochen erlegter und erlegener Geschöpfe baumelten. Dann stieg sie in ihr silbernes Auto und startete den Motor. Als sie den Rückwärtsgang einlegte, seilte sich vom Dachhimmel eine kleine schwarze Spinne ab und blieb direkt vor ihrer Nase hängen. 

»Na, Göring? War dir langweilig?«, fragte Ida. »Mir auch, aber jetzt geht’s nach Hause!«

Die Spinne wippte an ihrem Faden, als ob sie nicken wollte, und Ida fuhr los.


Erzähler: Carsten Striepe
Ida: Julia Gruber

Mathilda: Verena Schmidt
Sekretärin: Viktoria Solner

Buch:
Theobald O.J. Fuchs
Regie/Schnitt:
Lukas Münich
Titelmusik:
Andreas V. Weber


Untot in Gostenhof: (5) Kindervergrämer

»Du musst auch einmal raus aus deinem Kellerverlies«, sagte Tante Mathilda nachdrücklich. Großonkel Vladimir, dem dieser Ratschlag galt, knurrte einen vergeblichen Protest.

»Ich sehe keine Veranlassung dazu, irgendwohin zu gehen …«, schimpfte er.

Doch Mathilda schob ihn mit sanfter Gewalt auf den Beifahrersitz von Idas silbernen Auto, während Ida sich ans Steuer setzte. Im hellen Licht des Tages tanzten Milliarden Staubkörnchen um Vladimirs kahlen Schädel. Sein Gesicht hatte eine wachsgelbe Farbe und sein Anzug war über und über bedeckt mit Spinnweben und Staubflusen. 

»Wenn Mathilda sich etwas in den Kopf gesetzt hat, ist Widerstand zwecklos, Vladimir, das solltest du am besten wissen«, sagte Ida und zündete sich eine Zigarette an. »Wir machen jetzt zusammen eine kleine Einkaufstour für Onkel Serban, trinken noch ein Bierchen in einem Café und schon sind wir wieder zu Hause.« 

»Kauf nicht zu viele von diesen Dingern, mein Schatz«, sagte Mathilda flehentlich. »Du weißt, dass dein Onkel Serban dazu neigt, maßlos zu übertreiben, insbesondere, wenn er die ganze Nacht durch Schnaps getrunken hat.« 

»Verlass dich auf mich, Tante!« Ida startete den Motor und fuhr los. 

»Wie … krchkchkch«, begann Vladimir, doch seine Worte blieben in einem heiseren Husten stecken, das klang, als kratzten eiserne Sohlen über Kopfsteinpflaster. »Wie kommt der kleine Serban darauf«, fuhr er mühsam fort, als er wieder ein wenig mehr Luft bekam, »sich einen Vorrat dieser idiotischen … Kchkchkchrrch …« 

»Du scheinst wirklich ein bisschen frische Luft brauchen zu können«, sagte Ida, »Der Schimmel im Keller ist auf Dauer nicht gesund …« 

»Unsinn!« maulte Vladimir und kurbelte das Fenster herunter. »Dieser Serban – wie kommt er nur immer auf diese Schnapsideen?« 

Ida seufzte, warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel und riss das Steuer hart nach links, so dass das Auto mit quietschenden Reifen um eine Ecke schlitterte. Hinter ihnen blökte ein Rudel wütender Hupen. 

»Serban hat doch diese Spekulationsmaschine erfunden«, erklärte Ida. »Der Koffer aus rotem Leder im Gästezimmer, mit den schwarzen Beschlägen, fast so groß wie ein Schrank und drei mal so schwer.« 

»Stimmt – den habe ich schon mal gesehen. Habe mir überlegt, wer wohl da drin wohnt.« 

»Niemand wohnt da drin. Es ist ein komplizierter Mechanismus. Auf der einen Seite befindet sich eine Klappe, wenn man einen Gegenstand über Nacht hinein stellt und am anderen Morgen wieder heraus holt, kann man erkennen, ob der Gegenstand in nächster Zukunft an Wert gewinnt oder verliert: Ist der Gegenstand größer – wird er teurer, und umgekehrt. Die Maschine ist Serbans Meisterwerk!« 

»Dieser Narr«, meckerte Vladimir, während Ida den Wagen parkte und sich eine weitere Zigarette ansteckte. 

»Ich bin sofort wieder da, o.k.? Verhalte dich unauffällig!« sagte sie und tätschelte liebevoll Vladimirs mageres Knie.

Eine Staubwolke stieg auf. Ida schnappte sich ihre Handtasche und entfernte sich entschlossenen Schritts in Richtung der nächsten Querstraße. Als sie eine knappe Viertelstunde später aus einem Ramsch- und Allerlei-Geschäft trat, trug sie einen großen braunen Pappkarton, in dem sich schwarze Vögel türmten – Plastik-Raben, die als Taubenvergrämer dienten. Ida hatte alle Vogel-Imitate, die im Laden vorrätig gewesen waren, aufgekauft, da Serbans Maschine in der nächsten Balkon-Saison ein großes Geschäft prognostizierte. Als sie um die Ecke bog, sah sie schon von Weitem eine Gruppe Jugendlicher neben ihrem Auto stehen. Sie schienen sich um das Beifahrerfenster zu drängen. 

Plötzlich begannen die jungen Leute zu schreien, das schrille Kreischen der beiden Mädchen hob sich deutlich von dem übrigen Gebrüll ab. Unmittelbar danach begannen die Jugendlichen zu rennen. Als ob der Leibhaftige persönlich hinter ihnen her wäre, hetzten sie den Bürgersteig herunter in Idas Richtung. 

»Nichts wie weg!« brüllte der Junge, der an der Spitze rannte. Fast wäre er mit Ida und der überquellenden Kiste zusammengestoßen.

Er bemerkte sie im letzten Moment und prallte mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen zurück. Der Anblick der bleichen Frau mit der großen dunklen Brille im Gesicht, die einen Berg schwarzen Vögel vor sich her schleppte, gab der Schar den Rest – in heillosem Schrecken stoben die Jugendlichen auseinander und waren im Handumdrehen in irgendwelchen Nebengassen verschwunden. 

»Was ist passiert?« fragte Ida, als sie beim Wagen angekommen war, Vladimir, der seelenruhig auf seinem Platz saß. Die Scheibe der Beifahrertür war herunter gekurbelt und Vladimir steckte seinen Ellenbogen ganz lässig aus dem Fenster. 

»Nichts.« 

»Irgendetwas muss passiert sein! Diese Kinder sind davon gerannt, als gälte es ihr Leben!« 

»Ich bin wohl eingeschlafen. Die Hitze ist heute auch drückend wie der Bleideckel auf einem Sarg. Auf einmal hörte ich Stimmen neben meinem Ohr, aber ich dachte, sie gehörten in meinen Traum. ›Hey, guck mal, da sitzt ein Toter‹, sagte jemand. – ›Quatsch, da schläft einer!‹ sagte eine zweite Stimme. ›Schau dir das mal an! Der Anzug total verstaubt, das Gesicht ist ganz gelb und die Augen stehen halb offen – das ist eine Schaufensterpuppe.‹« 

»Hast du wieder mit offenen Augen geschlafen?« sagte Ida in einem vorwurfsvollen Tonfall. 

»Kann sein«, erwiderte Vladimir unwirsch, »aber das geht wohl niemanden etwas an!« 

»Was geschah dann?« 

»Zwei oder drei sagten: ›Total cool! Eine Schaufensterpuppe im Auto!‹ und ein anderer meinte: ›Wisst ihr was? Der drücke ich eine Dose Bier in die Hand!‹« Vladimir verstummte und machte keine Anstalten, in seiner Erzählung fortzufahren. 

»Das war alles?« fragte Ida schließlich. 

»Ja. Dann bin ich aufgewacht und hab mir die Typen mal genauer angesehen.« 

Ida schnalzte mit der Zunge. »Das kann ich mir lebhaft vorstellen … aber sei’s drum. Unser Auftrag ist erledigt, wir können heim fahren.« 

Sie wuchtete die Kiste mit den Plastik-Raben auf den Rücksitz und nahm hinter dem Steuer Platz. »Es ist in der Tat verdammt heiß heute«, stöhnte sie. 

»Willst du einen Schluck Bier?« fragte Vladimir und streckte ihr seine dürre wachsgelbe Hand entgegen, in der er eine Dose hielt. »Ist sogar noch kalt.«


Erzähler: Carsten Striepe
Ida: Julia Gruber
Großonkel Vladimir: Arthur Roscher

Regie/Schnitt:
Lukas Münich
Titelmusik:
Andreas V. Weber



Untot in Gostenhof: (4) Serban zockt

Ida saß auf dem Sattel ihres schwarzen Damenrades und stützte sich mit einem Fuß an der wuchtigen Türschwelle des Gründerzeit-Wohnhauses ab. Es war Herbst, der Himmel hing graugelb wie Haferschleim über der Stadt, ein eisiger Wind blies durch die Straße und schleuderte eine Handvoll Regentropfen nach der anderen waagrecht gegen Passanten und Fensterscheiben. Auf dem Gepäckständer des Fahrrades war eine Banane festgeklemmt. Ida machte keine Anstalten, abzusteigen oder loszufahren. Stattdessen rauchte sie eine lange, dünne Zigarette in einer silbernen Zigarettenspitze. Ein kleiner Junge mit einem bunten Schulranzen auf dem Rücken bog um die Ecke und hüpfte auf die Türschwelle. 

»Hey, Alfons!« begrüßte Ida den Buben, der mit seiner Mutter und seiner Schwester im zweiten Stock wohnte. 

»Hey, Ida! Was machst du denn mit der Banane auf dem Fahrrad?« fragte der Junge. 

»Spezialdienstleistung: Lebensmittel ausliefern. Neuer Job. Ich halte gerade die Ruhezeit ein.« 

Sie blies einen Rauchring in die Luft. »Magst du schon mal hoch? Onkel Serban ist zu Hause. Er spielt bestimmt was mit dir, bis deine Mama nach Hause kommt.« 

In diesem Moment ertönte ein gedämpfter Klingelton. Ida begann, ihren rechten Arm zu schütteln. Rasch tauchte ein schwarzer Gegenstand im Bündchen ihrer schwarzen Lederjacke auf, und es dauerte nicht lange, da baumelte ein klobiger Telefonhörer an einem Spiralkabel aus dem Ärmel. 

»Lieferdienst Hotz & Partner … ja? … o.k., ich komme sofort!« 

»Muss du schon fort?« fragte Alfons. 

»Ich bin gleich bei euch! Ich muss nur schnell in die Südstadt, da braucht jemand in der Humboldtstraße dringend ein frisches Ei.« 

Ida streckte erneut ihren Arm aus und wackelte kurz mit dem Ellenbogen, woraufhin ein schneeweißes Hühnerei aus dem Ärmel in ihre Hand rutschte. 

»Ui!« sagte Alfons und machte große Augen. »Wie machst du das?«

»Übung, reine Übung!« grinste Ida und entblößte ein Paar nadelspitzer langer und schneeweißer Eckzähne. 

Sie klemmte das Ei vorsichtig neben die Banane unter den Metallbügel des altmodischen Gepäckträgers. Dann drückte sie die große schwarze Sonnenbrille fest auf ihre Nase und radelte los, während Alfons im Haus verschwand. 
Keine fünf Minuten später tauchte Ida wieder im Wohnzimmer ihrer Tante Mathilda und ihres Onkels Serban auf. Serban und die Nachbarkinder saßen auf dem Sofa und  starrten angestrengt nach oben zur Decke. Alle drei hatten eine messingfarbene Pfeife  im Mund stecken, in die sie mit aller Kraft hineinbliesen, aber kein Ton war zu hören. Oben, dicht unter der Stuckverzierung kreisten mit einem Affentempo drei Fledermäuse, die um die Wette flogen. 

»Na, ihr beiden! Spielt ihr wieder Fledermaus-Olympiade?« 

Onkel Serban spuckte die Ultraschall-Pfeife aus und schnappte geräuschvoll nach Luft. Sein großer runder Kopf glühte rot, wodurch seine weiße, in alle Richtungen abstehende Mähne besonders gut zur Geltung kam. 

»Genau! Diese kleinen Räuber hier haben mich zuvor schon beim Kirschkern-Spucken, bei ›Knochenmühle‹, Grabstein-Memory und beim ›Zombie, ärgere dich nicht!‹ besiegt!« 

»Und zwar zu Null!« jubelte Alfons‘ Schwester Emilie. 

In diesem Moment klingelte erneut das Telefon. Ida holte den Hörer aus dem Ärmel und nahm das Gespräch an: »Zwei Scheiben Salami? Scharf? Pferd – kein Problem! Ich bin in zwei Minuten bei Ihnen.« 

Sie sprang auf die Beine und schlang ein weites Tuch mit aufgedruckten Totenköpfen um ihren Kopf. 

»Lass mal Kind, ich mach das«, bestimmte Onkel Serban. »Leg du mal die Beine hoch!« 

»Aber Onkelchen! Ich bin noch gar nicht erschöpft! Den Lieferdienst habe ich doch erst heute morgen erfunden – « 

»Nichts da!« widersprach Serban energisch. »Ich bin quasi schon unterwegs!«

Er griff sich mit links und rechts hinter beide Ohren und zog jeweils eine Scheibe Salami hervor. Dann rief er »Tschü-üüs!« und machte einen Salto aus dem Fenster. 

»Na gut«, sagte Ida, »dann zock eben ich mit euch weiter. Der liebe Serban hofft doch nur darauf, dass ihm der Kunde einen Schnaps ausgibt. Was haltet ihr von einer Runde Phantom-Poker mit den Spinnen auf dem Dachboden?«


Erzähler: Carsten Striepe
Ida: Julia Gruber
Onkel Serban: Moses Wolff
Alfons: Benedikt
Emilie: Emma

Regie/Schnitt:
Lukas Münich
Titelmusik:
Andreas V. Weber