Theobald Fuchs: Fliegen

Ich liebe es zu fliegen. Richtig zu fliegen, frei in der Luft, ohne Geräte, ohne Maschinen. Nur mit der Kraft meiner Arme. Dabei fühle ich mich sicher, da ich ja selbst entscheide, in welche Höhe ich steige und wohin ich segele. Da wo ich selbst hinkomme, komme ich auch wieder heil heraus und zurück und herunter. Das ist die alte Regel. Der ich vertraue. Deswegen hat eine Katze Schnurrhaare, damit sie spürt, ob sie aus einem Loch wieder herauskommt, ehe sie hinein kriecht.

Meine Mutter war dagegen, dass ich flog. Strikt dagegen. Sie wollte, dass ich etwas Gescheites lerne. Sie hatte wohl zu viele üble Geschichten gehört von Kindern, die ihren Eltern einfach davonflogen. Mein Vater hatte keine Angst deswegen, er unterstützte mich, zeigte mir auch ein paar gute Tricks wie am Rücken fliegen und in einer Wolke die Luft anhalten, damit einen keiner darin entdecken kann. Ich flog ja auch nicht einfach fort. Als es irgendwann soweit war, verabschiedete ich mich ordentlich wie es sich gehörte und sprang vom Fensterbrett aus der Küche. Meine Mutter weinte, ihr nasses Taschentuch flatterte im Wind, dabei flog ich nur ans Ende der Straße, wo die Schule stand.

Die Schule an sich war ganz o.k. Wir lernten dies und das, doch was mir nicht gefiel: es gab haufenweise unerfüllte Vorstellungen, nicht eintreffende Erwartungen, ungültige Versprechen.

»Gleich fliegst du raus!« sagten mir die Lehrer ein ums andere Mal.

Darauf freute ich mich immer, doch der Lehrer war ein Lügner. Große Enttäuschung. Zu Fuß verließ ich das Klassenzimmer, niemand beschwerte sich. Da war etwas versprochen worden, aber nicht gehalten.

Ich probierte es immer wieder, bis ich die Schule abgeschlossen hatte. Mit drei Schlössern, deren Schlüssel ich in einer Erdspalte versenkte. Und Wasser hinterher kippte. Heute ist dort das tote Meer. Das Salz darin kommt von den Tränen all der Schüler, die enttäuscht wurden. Von sich selbst, von den Lehrerinnen und Lehrern, vom Unmöglichen als solchem, das leider echt knorzengroß ist.

Doch was hülfe mehr gegen Kummer als Bewegung in der frischen Luft? Es gibt kein Problem, das sich nicht mit Fliegen lösen ließe!

Das Schönste aber ist, im Flugzeug zu fliegen. Während die anderen in ihre Sitze festgeschnallt dasitzen und Angst haben, dass die Maschine am Boden zerschellt.

Verkrampft und bleich klammern sie sich an die Armlehnen, stoßweise und gepresst atmen sie die dünne Luft in der Kabine. Nur ich bin entspannt, nur mich stört es nicht, wenn die Hände der Stewards und Stewardessen vor Angst zittern und sie den Gin Tonic verschütten und ihnen die Tränen über’s Gesicht laufen, während sie dir einen schönen Flug wünschen. Tränen, die sie um sich selbst weinen, dass sie so dumm gewesen waren und nichts Gescheites gelernt haben, etwas, worauf ihre Mütter endlos gedrängt hatten, sondern dass sie diesen Beruf ergriffen haben, der nichts anderes als ein Selbstmordkommando ist.

Ich gleite derweil sanft und entspannt über den Köpfen der Menschen von vorn bis zum Heck der Maschine und wieder zurück zur Tür, hinter der Pilot und Pilotin vor Angst Blut schwitzen und mit verkrampften Händen beten, was das Zeug hält. Immer auf und ab fliege ich, ganz ruhig, ohne Furcht. Bis wir zusammen landen, der große Vogel und ich.

Wenn ich es nicht könnte, wenn ich nicht fliegen könnte, überall hin, wo ich will, und ganz besonders im Flugzeug – ich glaube, ich hätte dann auch wie alle anderen höllische Flugangst… behauptet zumindest meine Therapeutin. Oh! Jetzt geht’s los. Hören Sie auch dieses Geräusch? Na, dieses sirrende Geräusch, das da aus dem linken Motor kommt? Ganz klar zu hören ist das, da stimmt doch etwas nicht! Ogottogottogott… wir stürzen sicher ab!

Matt S. Bakausky: Wirtschaft als Chance

Ich kaufe am Bahnhof einen Big Mac für die Fahrt. Wussten Sie, dass der Big Mac verwendet wird, um die Kaufkraft in verschiedenen Ländern zu vergleichen? Das habe ich von Herrn Huber gelernt. Ein letzter Bissen vom Burger und der Zug fährt ab. Weg von der Zivilisation, raus in den Wald. Für ein paar Tage werden sie Herrn Huber nicht finden. Ich habe einen Vorsprung.

Ich putze mir die Zähne morgens mit Elmex und abends mit Aronal. Mittags bin ich in der Schule und putze sie nicht. Noch acht mal Zähne putzen bis zum Referat in Wirtschaft. Ich stehe auf einer fünf in diesem Fach. Kombiniert mit der fünf in Französisch würde das eine Wiederholung der Stufe bedeuten.

Noch zwei mal Aronal und einmal Elmex, dann muss ich das Referat halten. Ich habe mir ein wenig Ritalin rein gefahren. Ich habe zwar kein ADHS, jedoch hilft es mir wach zu bleiben. Dazu trinke ich Coca Cola und esse Pringles. Ich hoffe, dass ich mit dem Referat diese Nacht durchkomme.

Herr Huber betritt den Raum. Er stellt seine braune Ledertasche ab. Meine Mitschüler hören auf zu reden. Ich hole die gekritzelten Notizen auf Leitz Karteikarten aus meinem Eastpack-Rucksack. Mein Kopf hämmert leicht, außerdem bin ich übermüdet. Die zwei Aspirin-Tabletten wirken noch nicht. Nach den tagesaktuellen Themen zum Leitzins und der Eurokrise, wendet sich der Wirtschaftslehrer mir zu und fragt ob ich bereit sei. Ja, sage ich wie von selbst.

Herr Huber sitzt an einem Stuhl gefesselt in einem geräumigen Keller. In seinem Mund steckt ein Knebel. Das war nicht Teil seines Studiums gewesen. Nicht Teil seines bisherigen Lebens. Bisher schaute er nur gerne RTL-Krimiserien auf seinem Samsung-Fernseher. Jetzt war er selbst Teil eines Krimis. Er dachte sich, dass das gar nicht mal so schlecht sei.

„Das Referat heute, das war nicht so toll.“, sagte Herr Huber. Das war übertrieben positiv, denn ich verhaspelte mich die meiste Zeit und hatte das Thema kaum verstanden. Außerdem hatte ich die Karteikarten durcheinander gebracht. Ich fragte nach der Note. Eine Vier. Ich fragte ob sich nicht was machen ließe. Leider nicht. Mein H&M-Shirt fühlt sich auf einmal zu eng an. Diese Schuljahr war damit für mich gelaufen.

Ich betrat den Raum. Sagte: „Nicht schreien“. Herr Huber nickte. Ich entfernte den Knebel. „Bitte tu mir nichts, Matt“ sagte der Lehrer, „Lass mich gehen, ich sage niemanden was und du kannst das Jahr wiederholen.“ Das Wort Wiederholen ließ aufgestaute Wut in mir hochkommen, ich griff in die Seitentasche meiner Goretex-Jacke und holte einen spitzen Gegenstand hervor.

Irgendwo in der Pampa in der Nähe von Freiburg im Breisgau, laufe ich durch den Wald. Hexenwald steht auf einem Schild. Die Zähne habe ich seit gestern Abend nicht geputzt. Mein Ziel ist ungewiss, jedoch weiß ich, dass sie mich nicht finden werden. Das meine Schulpflicht getan ist.

Aus der anderen Jackentasche holte ich die Karteikarten mit meinen Notizen. „Lieber Herr Huber ich halte heute ein Referat über die Bilanzanalyse.“ Ich startete den Liesegang-Overhead-Projektor und zeigte mit dem spitzen Teleskopzeigestab auf die an die Wand  geworfenen Diagramme. Ich war komplett in Form. Herr Huber saß nur da und versuchte seine Hände frei zu bekommen, doch der Kabelbinder hielt ihn davon ab. Er kerbte sich in seine Haut.

Noch vierzehn Mal Zähneputzen, dann steht mein Wirtschaftsreferat an. Ich habe mega Schiss vor Referaten. Dieser Druck. Ich komme damit nicht klar. Und dann bereite ich mich auch noch schlecht vor, weil ich schon vorher Angst vor der Angst habe. Ein Valium half anfangs, mittlerweile nicht mehr.

„Und wie war mein Referat?“, fragte ich gespannt. „Du hast… das Thema… nicht verstanden.“, keuchte Herr Huber. „Du hast.. es.. wirklich nicht verstanden.“ „Das hier.. war… schlechter als dein vorheriges Referat! Du hast Fachbegriffe falsch verwendet, der Aufbau war einfach verwirrend und auch rein sprachlich warst du dem Thema nicht gewachsen. Du hast deinem Publikum nicht in die Augen geschaut… Alles was wir besprochen hatten, was ein gutes Referat ausmacht hast du missachtet. Nicht mal meine Fragen konntest du zusammenhängend beantworten. Das war eindeutig… eine sechs“ … Ich kann Herrn Huber nicht in die Augen blicken, sehe nur das kleine Krokodil auf seinem Hemd von Lacoste. Ich nicke, schalte den Overhead-Projektor ab und verlasse den Raum.

Im Wald außerhalb der Zivilisation fühle ich mich wie in einer anderen Zeit. Die Bäume überragen mich, passen auf das mir nichts passiert. An einer Quelle forme ich mit meinen Händen eine Schale und trinke etwas. Ich laufe über die gefallenen Blätter. Es weht ein heftiger Wind. Ich beobachte einen Ast, wie er sich erst biegt, bis er sich nicht mehr biegen lässt und bricht und zu Boden fällt. Ich nehme den Ast als Spazierstock und setze meine Reise fort.