Philip Krömer: ErlangenHORROR

Und wenn der Vollmond wieder glitzert, wachsen den Werschweinen im Buckenhofer Forst Daumen. Dann steigen sie über ihren Zaun und traben in die Innenstadt, kratzen die Mülltonnen aus und ängstigen den Türsteher vom Zirkel. Aber der lässt sie nicht rein, keine Chance, nicht in dem Outfit. Halte deine Fenster und Türen geschlossen, Erlangen, bis der Mond morgen wieder abnimmt.

Habt ihr im Wiesengrund die niedergewalzten Büsche bemerkt? Die Risse im Asphalt des Radwegs? Das war der Lurch. Der hat beim geheimen Areva-Reaktorexperimenten zu viel vom Kühlwasser geschluckt. Jetzt misst er acht Meter von Schnauze bis Schwanzspitze und weiß mit seiner neuen Kraft nichts anzufangen. Wenn die Reiher vorübersegeln, legt er sich noch immer bewegungslos ins Gras.

Ein Sausen erfüllt die Luft und gurgelnd schluckt ein Strudel alles Wasser aus dem Dechsendorfer Weiher. Da ist ein Riss entstanden. Fische zappeln am matschigen Ufer, das bald bis an den tiefsten Punkt reicht. Und dort kommt … ein Gebäude zum Vorschein. Nein, eine Anordnung abstrakter Formen. Ein Tempel, in dessen innerster Kammer der schreckliche Cthulhu seinen ewigen Schlaf schläft. Leise jetzt. Den wollt ihr nicht wecken!

Tief aus den Bierstollen unterm Burgberg hallen seine Schritte, dringt sein hirnloses Gebrabbel. Wer unvorsichtig nachsehen geht, den schnappt er sich zur Zwischenmahlzeit. Erst wenn das Fest wieder anhebt und die Fässer angezapft werden, kommt der Troll heraus. Unter den Besuchern fällt er kaum auf. Dann steckt er Brezen in sich rein für zwei Fußballmannschaften und trinkt das Bier fässerweise. Wer ihn bei der Nahrungsaufnahme stört, bereut das bald. Das nimmt er krumm. Seine Fäuste sind nicht von Pappe.

Philip Krömer: Gute Zeiten für Baba Jaga


Freitagabend, wenn andere noch im Berufsverkehr feststecken, stapft ihr Haus, unbehelligt von Ampeln und Staus, querfeldein bergan. Auf meterhohen Hühnerbeinen ist es unterwegs. Baba Jaga, die Hexe, wohnt hinten im Meilwald, weil die Bäume da so schön hoch wachsen, dass der Giebel ihres Hauses nie über die Wipfel spitzt, selbst wenn es aufrecht steht. Und weil es zwischen den Stämmen immer dämmert.
Dort im Halbdunkel geht ihr bisweilen ein unvorsichtiger Spaziergänger in die Falle. Der landet im Kochtopf, sie ist eine Hexe, was kann sie dafür? Seit sie in der Walpurgisnacht mit dem Leibhaftigen Unzucht trieb (Hand aufs Herz, ein schöner Mann ist das, den von der Bettkante zu stoßen, dazu hätte es größter Selbstbeherrschung bedurft) schmecken ihr weder Schäuferle noch Kloß. Mensch muss es sein. Und die Erlanger sind, weil entspannt und gepflegt (dieses Durchschnittseinkommen!), einfach am zartesten. Die kann sie nur empfehlen.
Wenn es dann aufs Wochenende zugeht, unternimmt sie einen ihrer Jagdausflüge den Burgberg hinauf. Sie pflanzt ihr wandelndes Haus oben in den Garten einer Villa. Dort steht es und leuchtet rot aus den Fenstern, bis der Villenbewohner, der vielleicht geerbt oder einen hochdotierten Posten innehat, um sich die Wohnlage leisten zu können (diese Quadratmeterpreise!), den Flackerschein bemerkt und nachsehen geht. Er nähert sich, einen Golfschläger als Prügel erhoben, der seltsamen Hütte. Hat seine Frau, während er im Büro war, flugs ein Gartenhaus aufstellen lassen? Sie monierte, dass sie eines bräuchten. Aber warum bloß hat sie sich für dieses Modell entschieden, das schon jetzt morsch aussieht?
Nun schwingt die Tür auf und, leger im Rahmen lehnend, erwartet ihn ein Schemen. „Wer da?“, ruft der Bewohner. Gegen das aus dem Inneren fallende Licht sind keine Details erkennbar. „Maria?“ Denn so heißt seine Angetraute. Eine Antwort bekommt er nicht. Dafür schlägt beim Nachbarn ein Hund an. Und der Mond scheint hell.
Maria hat auch gar nichts mit dem Häuschen zu schaffen, sie kommt selbst spät vom Pilates und findet keine Spur von ihrem Mann, obwohl sein Auto im Carport steht. „Heiner?“, ruft sie. Doch der Heiner schwimmt, sauber aufgebrochen, zerteilt und filetiert, in Baba Jagas Kochtopf. Die Brühe schwappt wild, während das Haus auf hohen Beinen den Hang wieder hinabsteigt und heimkehrt in den Meilwald.
Tags darauf schnappt sich die Hexe einen ausgebüxten Hund, den kocht sie mit, für die Würze. Oder einen Mountainbiker, der sportlicher aussieht, als er schmeckt. Selten, in besonders nebligen Nächten, befiehlt Baba Jaga ihrem Haus, bis runter in die Innenstadt zu wandern, der knackigen Studenten wegen, die fast alle hier unten wohnen und kaum einer am Berg (diese Mieten!).
Einer von ihnen macht sich etwa als letzter einer Gruppe Feierwütiger vor Trunkenheit stolpernd auf den Heimweg. Er sieht Baba Jagas Haus zwischen zwei Altbauten hocken, wo sich eigentlich eine Hinterhofeinfahrt befinden sollte. In diesem Viertel kennt er sich nicht so gut aus. Das Unerhörte der Situation entgeht ihm. Er glaubt, hinter den rot erleuchteten Fenstern erwarteten ihn weitere nächtliche Zecher, eine WG-Party vielleicht, zu der man auch ungeladen auftauchen kann. Seit dem folgenden Morgen wird er vermisst.
Ihre Nase ist warzenbesetzt, ihr Hut ist spitz. Ihre Kräfte sind ungeheuerlich, ihr Hunger ist schier unermesslich. Zwischendurch lässt sie ihr laufendes Haus auf einem Hänger platznehmen, spannt einen betagten Geländewagen davor und zieht es auf den Schlossplatz. Dort verkauft sie aus dem Fenster heraus Konserven. Ein Zauber verbirgt das Hexenhafte in ihrem Gesicht, damit niemand Verdacht schöpft. Der Hut hängt am Ständer. Auf den Dosen steht „Hausmacherwurst“ und „Frühstücksfleisch“ und „Leberaufstrich“. Darin ist aber ein Fußgänger, ein Hund, ein Mountainbiker, ein Student und der Heiner. Entbeint und gesotten. Für eine Baba Jaga allein ist die Ausbeute eh zu üppig, egal wie groß ihr Hunger ist.
Indem sie den Erlangern die eigenen Mitbürger zu Fraß vorsetzt, zeigt sie sich dem Leibhaftigen als fleißige Adeptin des Bösen, dem sie sich verschrieben hat. Und die Erlanger greifen gerne zu. Wo sie doch so zart sind, so unendlich zart.

Philip Krömer: Erbschuld

I Erbsache

Das Display zeigt die Nummer meiner Schwester, ich hebe mit Widerwillen ab. Ob ich mich um das HAUS kümmern könne. Nachdem sie doch bereits den Verkauf organisiere. Sie komme so bald nicht fort von ihrer Arbeit, die Anreise sei zu weit, schon zur Beerdigung hatte sie es nicht geschafft. Welche ebenfalls sie, aus der Ferne, in die Wege geleitet hatte. Nur beim Herablassen der beiden Särge bediente ich die Winde, warf eine Schippe Erde hinterher, für alles andere war gesorgt. Wenigstens konnte ich, als einziger der wenigen Trauergäste, ein paar Tränen weinen.

Unser ELTERNHAUS. In dem wir aufgewachsen waren. Oben am Hang. Das müsse jetzt weg.

In dem meine Eltern nach unserem Auszug alleine lebten, selten Besuch bekamen, am seltensten von meiner Schwester oder mir. Und wo sie vor wenigen Wochen kurz nacheinander starben. Als sie das Telefon nicht mehr abhoben, informierte ich den Notarzt, der dann auch die Toten fand. Man verstaute sie in ihren Särgen, ohne dass ich sie vorher noch einmal gesehen hätte. Der Bestatter riet davon ab, die Leichen hatten wohl schon einige Zeit unbemerkt gelegen.

In beiden Fällen ging man von natürlichen Todesursachen aus. Anzeichen für einen Suizid gab es keinen und auch die Verwahrlosung überstieg nicht das übliche Maß von, von ihren Mitmenschen abgesondert lebenden Greisen. Bei den so nah beieinanderliegenden Todeszeitpunkten musste es sich um Zufall handeln.

Also ob ich nun? Ja, ja, ja, ich würde mich um das HAUS kümmern.

II Erbgut

Unser ELTERNHAUS liegt am Wendehammer einer Sackgasse, vom Balkon aus, ich erinnere mich, überblickt man die ganze Stadt. Der Garten, aus dessen Wildnis noch das Gerüst unserer Holzschaukel ragt, fällt bis zum Grundstücksende hin steil ab, wo die Igel ihre Winternester bauten und der Kompost stank. Ich erinnere mich.

Die Tür ist nur angelehnt, der Notarzt musste sie aufbrechen. Der Teppich im Flur ist voller Flecken, Altpapier stapelt sich in den Ecken, wo anfangen? Ich versuche den Lichtschalter und den Wasserhahn im Gästeklo. Strom und Wasser funktionieren noch. Das macht mir die Sache leichter, sollte ich hier bis in die Nacht beschäftigt sein. Und für die dunklen Ecken brauche ich auch keine Taschenlampe.

Meine Schwester hat längst einen interessierten Käufer für das Grundstück gefunden, das aufgrund seiner Lage inzwischen viel wert ist. Ihren Erbteil möchte sie anderweitig investieren. Auch ich habe nichts gegen ein bisschen Bargeld. Doch dafür muss zuerst das Haus weichen. Mit seinem feuchten Mauerwerk und dem morschen Dachstuhl ist es nurmehr ein Verkaufshindernis, eine Renovierung wäre viel zu teuer.

Der Abrissunternehmer, den meine Schwester schon für morgen engagiert hat, sagte mir im Vertrauen, wenn wir keine Lust hätten auszumisten, sollten wir alles Gerümpel einfach stehen lassen. Eigentlich müsse das getrennt entsorgt werden. Aber für einen Tausender extra nehme er das Risiko auf sich. Mit dem Bulldozer zusammengeschoben lande es mit Mauerwerk und Ziegeln in der Mulde für den Bauschutt. Wer könne dann noch zwischen Anrichte und Tragebalken unterscheiden? Elektrogeräte, Rohre und Leitungen entferne er vorher, das Material lasse sich weiterverwerten, die Einrichtung dagegen – die durchgesessenen Polstermöbel und Sperrholzregale mit den Büchergilde-Ausgaben – die sei die Mühe doch nicht wert …

Den Tausender werde ich von meiner Hälfte des Erlöses nehmen. Um das Ausräumen muss ich mich also nicht kümmern, lediglich ein paar Erinnerungsstücke auswählen und versteckte Wertgegenstände suchen.

III Erbmasse

Im Keller steht das Wasser knöchelhoch, eingesickert vermutlich aus einem geborstenen Rohr. Die Akten meines Vaters, seine Urkunden, sie sind alle verschimmelt. Auf der Couch im Wohnzimmer wurden ihre beiden Leichen gefunden. Obwohl ich eine Pause bräuchte, setze ich mich nicht. In der Küche herrscht Chaos, nur die Kaffeemaschine ist gut in Schuss. Und wo man seine Tasse hinstellen würde, bevor man den Kaffee durchlässt, steht auch eine.

Und der Kaffee darin. Ist noch warm.

Ohne eine Erklärung dafür finden zu wollen, treibe ich mich zur Eile an. Mit dem ausgestreckten Arm schiebe ich die Bücher von den Regalbrettern. Im Obergeschoss leere ich den Kleiderschrank meiner Eltern aus und schneide sogar mit einem Teppichmesser ihre Matratzen auf. Wertsachen finde ich keine.

In Mutters Malzimmer, meinem ehemaligen Kinderzimmer, das an das Schlafzimmer der Eltern grenzt, haben sie dafür mein altes Bett wieder aufgebaut. Ein nostalgischer Anfall auf ihre späten Tage? Die Bettpfosten sind bedeckt mit ausgeblichenen Stickern. Das Bett ist natürlich längst zu kurz für mich, meine Füße ragen über den Rahmen hinaus, aber Kopfkissen und Decke sind frisch bezogen. Sie riechen sogar noch nach Waschmittel. Beim Aufstehen stoße ich mir den Kopf am unter der Deckenlampe hängenden B52, der all die Jahre in einer Kiste auf dem Speicher verbrachte. Stundenlange Arbeit mit den filigranen Bauteilen und Klebstoff. Ich erinnere mich.

Und fahre herum. Im Flur bewegt sich etwas. Schritte lassen die Treppe knarren. Unten Stimmen. Im Wohnzimmer läuft der Fernseher, eine Gameshow, wie Mutter sie mochte. Auch den Fernsehanschluss abzuklemmen, hat der Techniker bisher wohl nicht geschafft.

IV Erblast

In der Küche brennt Licht, wo ich es zuvor löschte. Ich nehme einen Schluck aus der Tasse. Das Verhältnis von Kaffee zu Milch entspricht demjenigen, das mein Vater bevorzugte. Ich erinnere mich.

Ich texte meiner Schwester, dass sich jemand im Haus befinde, der seinen Kaffee genau wie Papa trinke. Obwohl es mittlerweile spät ist, schreibt sie mir sofort zurück: schon soweit, siehst du jetzt gesiter? du hast doch irhe leichen gesehn!!

Habe ich nicht. Ich half nicht einmal, ihre Särge zu tragen, drehte lediglich an der Winde, wobei nicht festzustellen war, ob die Särge schwer wogen. Die Übersetzung war zu groß. Oder ob sie leicht waren, wie leer.

Im ersten Stock rauscht die Klospülung.

Dann die Stimme. Was machst du denn noch auf, Bub? Komm, geh hoch ins Bett. Mama kommt gleich noch mal zu dir.

Ich stehe ohne zu atmen. Als ich doch wage, mich umzudrehen, ist dort niemand. Und träum was Schönes.

Das Bett meiner Eltern ist aufgeschlagen, als bereite sich jemand auf die Nacht vor. Im Badezimmer gurgelt der Spülkasten. Die Zahnbürsten sind nass. In mein Kinderbett passe ich, als wäre ich nie daraus aufgestanden.

Haaaben Iiiwan Puschkin, Sekt und Wodka
Erst. So recht. In Stimmung dann gebracht,
Tanzt er Kasahatschok mit seiner Nina,
Biiis. Am Mooorgen. Dann der Tag erwacht, ja, ja, ja …

Mutter war immer eine gute Sängerin, ihr Repertoire jedoch war klein. Die Lieder, die sie uns zum Einschlafen vorsang, folgten, wie auf einem Musikalbum, stets einer festen Reihenfolge. Und wenn sie mit dem letzten Lied fertig war und wir schliefen immer noch nicht, begann sie wieder von vorn.

Mama? – Ein Glück, dass ihr uns nicht habt kremieren lassen. Papa hat sich da auch sehr gefreut drüber. – Mama, wie? – Ach, die neunzig Zentimeter zwischen Sargdeckel und Erdoberfläche! Wenn du nicht ganz malad bist, schaufelst du das doch in ein paar Stunden mit den Händen weg. –

Bis. Am Morgen. Dann.

V Der Tag erwacht

Pünktlich um acht Uhr kommen die Arbeiter, um die Kabel aus der Wand zu klopfen. Sie finden mich noch im Bett, die Decke bis ans Kinn gezogen, die Beine angewinkelt, wartend, dass man mich zum Frühstück ruft. Mittags sollen schon die Bagger anrücken? Ich rufe meine Schwester an, doch sie lässt das Telefon klingeln. Ja, ja, ja.