Katrin Rauch: Der Musenanruf

ein versehen

ideen ohne ende
rinnen durch meine hände,
während ich nach worten suche
und die eine verfluche,
die zuständig wäre,
für jene kunst, die hehre,
die neben ruhm und ehre
erstmal eines verspricht:
ein hübsches gedicht.

wobei, „hübsch“ ist ja bekanntlich der kleine bruder von „nett“
und das die kleine schwester von … „nicht gut“
und das ist mir also wirklich auch nicht genug.
eine symphonie will ich schreiben, eine große
am besten in c-dur!
ja, aber das da, was ich bis jetzt hab da
das ist ja noch nicht mal ein lied
noch nicht mal ein ton und explizit
noch keine stocker, und auch kein fritz
und schlimmer als ein schlechter schmäh.
und überhaupt: c-dur, das ist doch auch nur französisch und bedeutet so viel wie c’est dur.

psst … du da!
du willst etwas großes schreiben, nicht wahr?
etwas mächtiges
etwas gewaltig beträchtliches
etwas, das tränen treibt
wenn einverleibt
das zwerchfell bald zum bersten neigt,
das beeindruckt
bis das bein drückt
bis aufstehen beim applaus unvermeidbar bleibt.

warte nicht länger,
denn für einen banger
ist jetzt die beste zeit,
da jene nun zur hilfe eilt,
die zuständig wäre
für jene kunst, die hehre,
die neben ruhm und ehre
erstmal eines verspricht.
entschuldige die verspätung, so bin ich eigentlich nicht.

ja, nice! ja, endlich!
jetzt wird mir auch verständlich,
dass die dauerfermate
auf deren fine ich warte,
nicht mein stumpfsinn bestellte.
es war die muse, die mir fehlte.

ja, dann! mal her mit den metaphern,
den anaphern, den trochäen,
immer her mit den chiasmen, den ellipsen,
den prolepsen und sarkasmen,
immer her mit kreuzreim, paarreim, stabreim
und hie und da ein ströphchen prosa.
nach bestem wissen und gewissen sag‘ ich:
schluss mit den verrissen, sag‘ ich:
schluss mit dem verhau!
auf zur derben putzung
der ungeputzten sau!

hä? was? bitte wie?
ja, bist du denn nicht die muse der poesie und der epischen dichtung?
nein, und du offenbar auch nicht der meister der liedkunst?
wer? schubert?
nein, dein onkel hubert, ja sicher franz schubert. …
du weißt nicht zufällig, wo der wohnt?
du, ich glaub, der ist tot…

nau geh, das ist jetzt dämlich.
der schubert, der hätt nämlich
eine große schreiben sollen
und ich hätt ja bleiben wollen,
doch beim ludwig hats auch zwickt.
jetzt bin ich doch dort pickt.
hm,… was für ein mist
so ein guter komponist
und ich hab’s einfach verpennt!
wirklich schade ums talent.

well,… du wirst es nicht gern hören,
doch der franz ließ sich nicht stören.
der hat die große schon geschrieben
neben siebentausend liedern
fünfzig opern, hundert messen
für chöre und orchester
fantasien für vier hände
symphonien mit und ohne ende
und das noch vor einunddreißig.

ja, soll das etwa heißen
der hat mich gar nicht gebraucht??
die ganze zeit hab‘ ich geglaubt
ich wäre völlig unentbehrlich.
ohne mich, wären wir ehrlich,
laufe gar nichts, was sich kunst nennt.
wenn dein werk nur durch den dunst rennt,
führte ich dich richtung lichtung!
ach … vergiss es, nicht mehr wichtig….

upps… [verlegenes lyrisches ich, kleine überlegepause]
ähm, du? muse?
ich hätt da so einen text
und es ist fast wie verhext
der klemmt mir hint‘ und vorn
und nervt mich ganz enorm
wenn ich denk dran wird mir übel
ich will ihn eigentlich längst kübeln
und den hut draufhauen,
aber vielleicht magst doch du mir da noch mal drüberschauen?

Katrin Rauch: Beichte

Ich letztens so: Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

und der Pfarrer so: Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden und seiner Barmherzigkeit. Amen.

und ich so: Ich bin nicht ganz so sicher, ob ich das richtig mache. Meine letzte Beichte ist schon ein bisschen aus… Aber ich glaube, man sagt sowas wie: Ich bekenne vor Gott, dass ich folgende Sünden begangen habe:

Ich habe mal bei einer Senftube in der Mitte draufgedrückt statt hinten. Ich habe mit der Knopfleiste der Decke beim Gesicht geschlafen. Ich habe einmal eine Tasse auf der unteren Ebene des Geschirrspülers einsortiert. Ich habe meine Unterhosen nicht gebügelt und den Bettbezug auch nicht und die Geschirrtücher. Ich habe erst nach dem Staubsaugen staubgewischt und meine Bücher nicht sortiert, nicht mal nach Farbe. Ich habe mehrere Tage in Folge komplett im Sitzen gearbeitet, obwohl mein Schreibtisch höhenverstellbar ist und hab Feierabend gemacht, bevor ich alle E-Mails beantwortet habe. Ich habe letztens beim Auflegen am Telefon auf WiederSEHEN gesagt, jemandem die Hand hingestreckt, während die andere Person zur Umarmung angesetzt hatte, jemanden nochmal nach dem Namen gefragt, obwohl die Person ihn mir schon genannt hatte. Ich habe auf den Geburtstag meiner Oma vergessen UND auf den des Hamsters meiner Cousine. Ich kann mir überhaupt ganz schlecht Geburtstage merken.

Ich habe länger als drei Minuten mit warmem Wasser geduscht und das Wasser beim Haare einseifen einfach laufen gelassen. Beim Geschirrspülen hab ich das Wasser einfach laufen lassen. Beim Händewaschen hab ich das Wasser einfach laufen lassen. Ich habe unlängst etwas in Plastik Eingeschweißtes gekauft, obwohl es das im Unverpacktladen auch gegeben hätte und hab vergessen, dass es nicht meine alleinige Verantwortung ist, das Klima zu retten. „Jeder Einkaufszettel ist auch ein Stimmzettel.“ Ich hab‘s letzten Samstag schon wieder nicht auf den Bauernmarkt geschafft und kann mir dort den Käse nicht mehr leisten.

Ich gebe mehr als 50% meines Einkommens für meinen Wohnraum aus. Ich bin finanziell vom Staat abhängig. Von meinem Einkommen geht keine Steuer ab, weil es zu wenig ist. Ich kann meine Kinder nicht auf die Sprachreise schicken, auf die die ganze Klasse fährt, und zum Abendessen gibt es s-Budget Steinofen Weckerln zum Fertigbacken und Wasser. Ab und zu gönnen wir uns einen Burger vom Mäci um 1,40. Ich habe einfach keine Zeit, frisch zu kochen.

Ich bin der ganze Twitter-Tread: „What’s considered trashy if you’re poor, but classy if you’re rich?“, die Kinder von jemandem anders großziehen lassen, ein richtig altes Auto fahren, tagsüber saufen, Junkfood essen, keinen Job haben, den Wohnort wechseln, weil woanders die Lebensbedingungen besser sind und die Antwort: „Im Grunde alles.“ Ein Kind sein, alt sein, ein Mann sein, eine Frau sein, keins von beiden.

Ich habe noch nie ein Schild gebastelt, auf dem ein lustiger Demospruch steht, wie zum Beispiel: „Nazis essen heimlich Döner!“, oder „Remigriert euch ins Knie!“, oder „Kein Sex für Nazis!“, oder „Mehr Geschichtsunterricht für Nazis!“, oder „Lebe stets so, dass die FPÖ etwas dagegen hat.“ oder „Ich bin so wütend, ich hab sogar ein Schild gebastelt!“. Ich war zu wenig wütend, um ein lustiges Schild zu basteln. Alter, ich war zu wenig wütend, um überhaupt ein Schild zu basteln. Ich fühle mich offenbar zu wenig betroffen von der Aushöhlung des Sozialstaats, von der klaffenden Vermögensverteilung, von der neoliberalen Leistungslüge, von Heterosexismus und Patriarchat, von Hate Speech und Hetze. Ich bin nicht betroffen von Armut oder rassistischen Deportationsfantasien, aber damit ich mir nicht ganz so privilegiert vorkommen muss, habe ich letztens nachgerechnet, ob ich zur Mittelschicht gehöre und war zufrieden, als untere Mittelschicht das Ergebnis war.

Ach ja, und fast vergessen: Ich bin aus der Kirche ausgetreten.

Das sind meine Sünden. Es tut mir von Herzen leid, dass ich Gott beleidigt habe, i guess…

und der Pfarrer so: Im Namen Jesu: Ich spreche dich los von deinen Sünden im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Jetzt kannst du in Frieden gehen. Amen.

Katrin Rauch: 42 verse zur lage der g-fläche

luft dunkler nebelsache
begreifen was da ist
liegt streicht schwebt
sich räkelt um die taille
nasses knistern verteilt
mit küssen geflissentlich beträufelt
das auge blitzt begehren umher
der blick flickt zusammen
was aus nähe nur vereinzelt
schichtet wangen in handflächen
und finger in den nacken
ins haar gleiten fassen
schwimmen strähnen
le lobe de l’oreille comme l’aube
le soleil a la veille de s’lever
chère chair de poule
moulée sur ton souffle
zungenspitzen in taillentälern
über schlüsselbeine ziehen
die hüfte erhebt sich
süße hügel zu bewandern
sanfter wellengang

wen interessiert schon das rohe
das pimmelgelutsche das unempfindliche
wenn ich dein aufbäumen gegen
brachiale mythen haben kann
wie das jungernhäutchen
das es auch noch zu verletzen gelte
wer sich diesen schmarrn schon wieder ausgedacht hat
kann kein glücklicher mensch sein
wer sich das mit dem stecker in der steckdose
mit dem bleistift im spitzer
mit dem braten in der röhre
mit dem würschtel im apple pie
hat noch nie ein gefühl
und noch seltener eine fähige hand gehabt

luft dunkler nebelsache
zerfließe in strömen bitte
tauche meine handrücken
fest neben meinen ohren
in das weiche heiße rauschen
die wogen zu plätten.

Katrin Rauch: We can always tell

Körper sind Spektren.
An manchen ist Speck dran,
an manchen Spinat,
Gewürze, Glutamat.
Gekocht und gebraten,
roh in Salaten,
mit Zimt und Zucker,
Butter und Panad‘,
und biologisches Geschlecht ist ein witziger Serviervorschlag.

Was du bist, ist ein Körper, leblose Materie, ein Zellhaufen, ein gewaltiger, zu gewaltig, wenn du mich fragst, da könnten schon ein paar Zentimeter weg hier und da, und dort ein paar dazu, das mundet dem Auge besser, das macht dich verständlich und einordenbar, denn das da,… das hat da ja eigentlich gar nichts zu suchen, denn …

We can always tell! Ich sag‘s mal so: Dein Körper ist eine Box und du ragst halt leider aus deiner heraus, denn …

We can always tell! 1. Nein. 2. Ähm, du, also, ähm, du hast da so einen, also, wie soll ich sagen, also … du hast einen Damenbart.

We can always tell! 1. Nein. 2. Hawara, das ist kein Damenbart, das ist ein Bad-Ass-Bitch-Bart.

We can always tell! 1. Nein. 2. Ich habe einen Körper und der wird mich verraten. Mein Körper wird dir sagen, ob das auch ja zusammenpasst, was du über mich annehmen magst.

Ich kann in einer Gruppe Cis-Dudes sitzen, drei davon haben längere Haare als ich, wir haben alle ähnliche Kleidung an, wir trinken alle dasselbe Getränk, sitzen alle gleich da, einer hat lackierte Fingernägel und ich bin ja eigentlich eh froh, deiner Trinkanimation zu entgehen, aber bitteschön 1. nicht mit den Worten „Du bist a Frau, du darfst aussetzen.“ und 2. werden meine Freunde trotzdem dazu genötigt, sich noch drei Stamperl in ihre maskulinen Münder an ihren maskulinen Stimmbändern vorbei in ihre maskulinen Mägen zu ballern, denn ihre maskulinen Lebern sind ja für sowas gemacht.

We can always tell! 1. Nein. 2. Ich habe einen Körper und der ist müde. Ich kann mich drehen und wenden, anders stehen, verändern, mit Füßen und Händen rudern und kentern, solange ich nicht an mir herumschnipseln lasse oder Substanzen zu mir nehme – und das kann man ja wollen, aber ich will es aber nicht wollen müssen – wird das erste, was Leute über mich glauben zu wissen, sein, dass … ja, was überhaupt …

We can always tell! 1. Nein. 2. Wofür? Was hast du davon? Was willst du mit diesem Halbwissen anfangen, wenn du nicht meine Ärztin bist? Dass mein Körper wenig bis gar nichts mit meinen Lebensgewohnheiten zu tun haben muss, es sei denn, jemand zwingt mich dazu, ist hoffentlich inzwischen bei halbwegs allen angekommen, also was willst du mir damit sagen?

We can always tell! 1. Nein. 2. Es ist wirklich nicht meine Schuld, dass ihr die Boxen so klein macht, dass kaum jemand reinpasst.

We can always tell! 1. Nein, das könnt ihr nicht 2. Ich weiß, dass die nun folgende Ausführung kein zielführendes oder diskursfreundliches Argument darstellt, aber haltet doch einfach die Fresse!

We can al [unterbrochen durch ein:] schschschsch…

Liebe Cis-Typen mit feinen Gesichtszügen,
Liebe Buben mit Manboobs,
Liebe Siegfrieds unter 1,70,
Liebe Ingrids über 1,70,
Liebe Damen, die mehr Bart als ihre Brüder haben,
Liebe Homofrauen mit Monobrauen,
Liebe Gören mit Girldicks,
Liebe men-struierenden Männer,
Liebe Mannsweiber, Zniachtl und verhunzte Burschen,
Liebe Kings mit kleinen Knien,
Liebe Queens mit kantigem Kinn,
Liebe Non-Binary-Dynasty,

Körper sind Spektren.
An manchen ist Speck dran,
an manchen Spinat,
Gewürze, Glutamat.
Gekocht und gebraten,
roh in Salaten,
mit Zimt und Zucker,
Butter und Panad‘.
und biologisches Geschlecht ist ein witziger Serviervorschlag.

So ein Rezept aus den USA, bei dem die Mengen nie stimmen und die halben Zutaten nicht erhältlich sind:
– „Oh, nein, zu dumm aber auch, da müssen wir wohl umdisponieren.“
– „Ach, scheiß‘ aufs Rezept, wir improvisieren.“

Katrin Rauch: Nichts als die Wahrheit, schönes Fräulein

Es hatte zu dämmern begonnen und im Fenster des Tankstellengeschäfts sprang die Leuchtreklame an. In lauten, fast aggressiv blinkenden Farben stand OPEN im Fenster und warf zarte Schatten auf den Asphalt vor einer jungen Frau. Ihre Umrisse und die ihres Rucksacks zwinkerten ihr nun entgegen, während die Abendsonne den Zapfsäulen und dem Dach darüber einen goldenen Schleier überwarf, der die ganze Szenerie merkwürdig elegant erscheinen ließ. Ein paar Meter entfernt saß ein sichtlich betrunkener Mann auf einem der verwitterten Plastikstühle und murmelte in variierender Lautstärke diffuse Dinge vor sich hin. Die Frau biss unterdessen über die Worte des Herren leicht schmunzelnd in ihr Jausenbrot. Der letzte Trucker hatte sie hier abgesetzt; von hier aus würde man als Anhalterin gut weiterkommen, hatte er gemeint, vor allem Nachtfahrer kämen hier mehr als genug vorbei. Damit würde sie gut weiterkommen, hatte sie erwidert, sich herzlich bedankt und alles Gute gewünscht. Den Segen Gottes versuchte sie sich seit geraumer Zeit zu verkneifen. Es war eine hartnäckige Angewohnheit, ihn zu wünschen, jedoch wollte sie diesem Leben ja den Rücken kehren. 

Als Kind war sie so glücklich gewesen. Damals, in der Gemeinde, mit ihren Brüdern und Schwestern, den vielen anderen Familien und Kindern, hatte sie ein Leben in Harmonie und Gemeinsamkeit gelebt und es hatte ihnen an nichts gefehlt. Doch die kindliche Unschuld und Sorglosigkeit war bald aufgebraucht gewesen und je weiter sie dem Erwachsenenalter entgegenschritten, desto enger wurde das Korsett aus Regeln geschnürt, besonders für die Mädchen. Das kleinste aus der Reihe tanzen wurde bestraft, ein jeder Fehltritt gemaßregelt und man hielt sie und ihre Individualität fest in der Hand. So viele Jahre später blickte sie zurück auf dieses Mädchen, das sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als einen Mann zu heiraten, seine Kinder zu bekommen und als frommes Mitglied der Gemeinschaft zu dienen – so idealistisch, so naiv, so devot und verblendet vom heiligen Geist und den Menschen um sie herum, die ihnen dieses Märchen einzubläuen versuchten, im wahrsten Sinne des Wortes. Sie erkannte dieses Mädchen kaum wieder. 

„Es ist nicht die Wohltätigkeit des Metzgers, des Brauers oder des Bäckers, die uns unser Abendessen erwarten lässt, sondern dass sie nach ihrem eigenen Vorteil handeln.“ Der berauschte Tankstellengast bei den Plastikstühlen hatte wieder einmal seine Stimme erhoben, sodass sie unter dem Tankstellenvordach leicht widerhallte. Der jungen Frau entfuhr ein glucksendes Lachen, gedämpft vom Biss ins Brot. Sie kam um den Gedanken nicht herum, was dieser Herr wohl an Theorie konsumiert haben musste, um zu solchen Konklusionen zu kommen. Von wegen „nach ihrem eigenen Vorteil“ – war nicht ein jeder Mensch in seinen Grundfesten ein empathisches und soziales Wesen? Davon war sie fest überzeugt, trotz der Strapazen und Misshandlungen ihres alten Lebens und trotz ihrer 

kleinen, individuellen Aufklärung, die ihre Verblendung schwinden gelassen hatte. „Keine Gesellschaft kann gedeihen und glücklich sein, in der der weitaus größte Teil ihrer Mitglieder arm und elend ist.“, bellte es von ihrer rechten Seite herüber. Sag‘ ich doch, pflichtete sie dem Trunkenen gedanklich bei. Sein Gerede wirkte auf sie wie eine Antwort, als konnte er sie denken hören. 

Brotkauend sank sie weiter in ihre Träumereien hinab, auf dieser Tankstelle, auf der Bordsteinkante neben ihrem Rucksack sitzend, vom roten und blauen OPEN beleuchtet. Was freute sie sich auf die Gesellschaft, von der der Mann sprach, in der sie gedeihen und glücklich sein konnte, auf diese bunte Welt, in der alle Menschen gleichberechtigt und frei waren, und die mehr bereithielt als die Verbindung zu Gott über alte Geschichten und nie enden wollende Kasteiung. Was freut sie sich auf dieses Leben in dem sie eigene Entscheidungen treffen konnte und nicht dafür bestraft würde. In der sie Make-up würde tragen können, ohne dafür eine Rüge zu bekommen oder gar geschlagen zu werden. In der sie sich selbst aussuchen konnte, in wen sie sich verliebt und wen sie heiraten würde. In der sie keinen patriarchalen, physisch und psychisch misshandelnden Männern mehr ausgesetzt sein würde. In der sie Bücher würde lesen können, sogar die über Wissenschaft und über Hexen, einfach so, nicht heimlich unter der Bettdecke, und sie würde sich nicht mehr davor fürchten, zur Strafe auf dem Steinboden im Gang schlafen zu müssen. Sie würde sich die Haare abschneiden, kurz, wie ihre Brüder, sie würde sich ihre Nägel lackieren und enge Kleidung tragen, hübsche Kleidung, und es würde keine negativen Konsequenzen nach sich ziehen. Sie würde irgendwann ein eigenes Haus oder eine Wohnung besitzen und es mit ihrem eigenen Charakter füllen und einrichten können, mit einer eigenen kleinen Bibliothek mit Büchern zu allen möglichen Themen, und sie würde sich eine eigene Meinung anlesen können. Sie würde sich die Welt nicht länger erklären lassen müssen, schon gar nicht von alten, grausamen Männern, die Liebe predigen und Hass säen, sie würde sie sich selbst erklären und die Wahrheit finden, die irgendwo außerhalb dieses verblendeten Kosmos, aus dem sie entflohen war, existiert, da war sie sich sicher. Sie würde sich mit all den Themen beschäftigen können, die als Häresien und Teufelszeug verleumdet, beschimpft, tabuisiert und aus der Gemeinschaft verbannt wurden. Ja, sie würde nicht nur über Wissenschaft lesen, sie würde sogar selbst Wissenschaftlerin werden können, oder Hexe. Sie lachte, aber dieser Gedanke ließ Zuversicht und eine unaufhaltsame Energie durch ihren Körper wabern, ehe von drüben neuerlich ein Satz herüberschwappte: „Die Wissenschaft ist das Gegengift der Verführung und des Aberglaubens.“ Nun wurde es ihr doch etwas unheimlich. Sie warf einen Blick in die Richtung, aus der die klug klingenden Worte kamen, und wo immer noch derselbe Mann weiterhin eifrig gestikulierte und lallend seine Rede fortsetzte. „Es ist die grundlegende Illusion des Sozialismus, dass sich Armut durch Umverteilung des vorhandenen Wohlstandes beseitigen lasse.“ Diesem Gerede musste doch auf den Grund zu kommen sein. Die junge Frau räusperte sich und setzte zaghaft zum Gespräch an: – „Ähem, entschuldigen Sie bitte, dürfte ich … ?“ – „‘Niemand hat vom Kapitalismus mehr profitiert, als die Arbeiterklasse.‘“ – „‘Tschuldigung? Könnte ich … ich hätte eine Frage …“ – „‘Sozialismus und Freiheit schließen einander definitionsgemäß aus.‘“ – „Entschuldigen Sie bitte!“ – „Hä? Ja? Was willst du?“ – „Ähm, entschuldigen Sie bitte, wenn ich sie unterbreche, aber mich würde interessieren, also, ähm, worüber sprechen Sie denn?“ – „Ach so! Ja, über die Wahrheit, schönes Fräulein! Nichts als die Wahrheit!“ 

Katrin Rauch: Bodenstudien und Bier

oder: Meine Wege führen nicht nach Rom und auch sonst nirgends hin. Sie führen zu Boden.

  • Boden gewinnen
    • Herzlichen Glückwunsch, du hast Boden gewonnen.
    • Zwei Quadratmeter sakrale Erde, zwanzigtausend Quadratzentimeter, zwei Millionen Quadratmillimeter.
    • Das sind scheiß viele Quadratmillimeter, die hast du dir redlich verdient.
    • Du hast Boden gewonnen, das große Los gezogen, den Jackpot geknackt, a maasn host ghobt, Fortuna war auf deiner Seite.
    • Oder hast du geschuftet dafür? Hast du dir für diese große Menge an Quadratmillimetern Boden den Hax’n ausgerissen?
    • Weißt du was? Wahrscheinlich beides.
    • Es ist immer beides.
    • Es ist immer ein bisschen Glück dabei.
    • Es ist immer eine ganze Menge Arbeit dabei.
    • Den Boden muss man sich auch immer ein bisschen verdienen.

  • den Boden unter den Füßen verlieren
    • Der Boden verliert meine Füße.
    • Ich verliere meine Füße, der Boden bleibt da.
    • Nicht der Boden unter mir, meine Füße gehen verloren.
    • Die Füße verlieren, den Boden verlieren, heißt den Keller verlieren, heißt das kompensatorische Fundament, das fundamentale Kompensatorium verloren gehen sehen, heißt nicht mehr liegen können, überhaupt gar nicht mehr liegen können, weder falsch noch im Bett und allerhöchstens im falschen Bett, heißt die Fötusstellung an den Nagel hängen, endlich erwachsen werden, endlich un-lustig werden, heißt das Gesicht wahren, heißt nicht mal mehr sich selbst eingestehen, wie dringend der Boden doch gebraucht wird, wie dringend die Fötusstellung gebraucht wird.
    • Den Boden verlieren heißt scheitern.

  • am Boden zerstört sein
    • Den Boden zerstören. Obviously.
    • Mit der Zerstörung am Boden sein.
    • Das Sein am Boden zerstören oder Es davor zerstören und am Boden wieder zusammensetzen, flicken.
    • Die Reihenfolge ist hierbei von besonderem Belang. Die Rolle des Bodens ist hierbei von besonderem Belang.
    • Den Keller zerstören, der Boden bleibt aber, der Boden bleibt.
    • Hoffentlich.
    • Der Boden schwebt ohne Keller. Der Boden schwebt.
    • Der Boden schwankt ohne Keller, der Boden schwankt.
    • Na toll. Jetzt hast du tatsächlich den Boden zerstört. Was tust du nun, wenn du am Boden zerstört bist? Jetzt hast du den Salat. Obviously.
    • One does not simply … zerstör‘ den Boden!

  • auf den Boden der Wirklichkeit zurückkommen
    • Wirklich? Auf den Boden zurückkommen?
    • Ja, wirklich.
    • Ja, im Ernst.
    • Immer, auf den Boden zurückkommen.
    • Immer.
    • Zum zur Wirklichkeit zurückkommen, zum Tatsachen sammeln, zum Tatsachen zusammenkratzen, zum Wirklichkeiten vermengen.
    • Auf die Wirklichkeit des Bodens zurückkommen, um auf die Tatsachen zurückzukommen.
    • Um auf den eigentlichen Boden der Tatsachen zurückzukommen:
      • Du hast dir den Boden verdient.
      • Du hast den Boden verloren.
      • Du hast den Boden zerstört.
    • Das sind die Fakten. Das ist die Wirklichkeit. Was willst du aus ihr machen?

  • am Boden bleiben
    • Bleiben für den Boden.
    • Das Bleibende am Boden
    • ist zu dauerhaft, um weiterzuziehen.
    • Bleiben, nur wegen des Bodens.
    • Alles, nur nicht abheben.
    • Alles, nur nicht den Kopf verlieren, wenn schon der Boden fast verloren gegangen wäre.
    • Alles, nur nicht den Boden unter den Füßen verlieren.
    • Alles, nur nicht auf Anfang.
    • Alles, nur nicht die Flügel ausbreiten und abheben.
    • Alles, nur nicht abheben und in die Luft gehen.
    • Alles, nur nicht auf unfesten Boden.
    • Aber den festen Boden, den muss man sich halt auch immer ein bisschen verdienen.

  • etwas an den Boden hängen
    • Es am Boden aufhängen. Senkrecht.
    • Den Nagel an den Boden hängen. Waagerecht.
    • Den Senkel an die Waage hängen.
    • Den Senkel in die Waagschale legen.
    • Den Boden in die Waagschale legen.
    • Den Boden abwägen.
    • Den Boden messen.
    • Den Boden ermessen.
    • Den Boden vermessen.
    • Den Boden an den Nagel hängen.
    • Wirklich? Den Boden an den Nagel hängen?
    • Nein, nicht wirklich.
    • Einfach hängen… bleiben. Am Boden hängen bleiben.
    • Immer einfach am Boden hängen bleiben.

  • Was will der Boden uns nun wohl damit sagen?
    • Was will uns der Boden überhaupt sagen?
    • Was hat uns der Boden denn überhaupt noch zu sagen?
    • Will er uns für sich gewinnen?
    • Will er uns verlieren?
    • Will er uns zerstören?
    • Will er auf uns zurückkommen?
    • Will er bleiben?
    • Will er uns an den Nagel hängen?
    • Was kann der Boden überhaupt wollen?
    • Was können wir überhaupt vom Boden wollen?
    • Was können wir überhaupt vom Boden wollen können?
    • Was können wir uns überhaupt vom Boden erwarten?
    • Was erwartet der Boden von uns?

Katrin Rauch: Wir sterben alle irgendwann, die meisten von uns in Moskau.

Am 28. April 1993 stirbt die sowjetische Fliegerin und Offizierin Valentina Stepanovna Grizodubova in Moskau. Etwa zur selben Zeit hatten meine Eltern ungeschützt Sex. Wenn man einen Zeitraum von etwa zwei Wochen annimmt, in dem ich höchstwahrscheinlich gezeugt wurde, könnte ich alternativ zu Frau Grizodubova auch die Reinkarnation von Lucette Descaves sein – einer französischen Pianistin. Sie spielte 1932 unter Anleitung desselben das Dritte Klavierkonzert von Sergej Sergejevič Prokofjev, der auch in Moskau verstarb, aber fast genau 40 Jahre vor Grizodubova. Ob Grizodubova Descaves oder Prokofjev oder zumindest dessen Stück Peter und der Wolf ein Begriff war, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren, zumindest nicht mithilfe von Wikipedia als einziger Quelle. Es ist aber wahrscheinlich, denn Grizodubova absolvierte erst ein Klavierstudium ehe sie zu einer von drei Frauen wurde, denen als allererste in der sowjetischen Geschichte der Titel „Held [sic!] der Sowjetunion“ verliehen wurde. Wessen Reinkarnation ich noch sein könnte, ist Johannes Schäfers, wie Grizodubova auch am 28. April 1993 verstorben. Ich als Schäfers Reinkarnation wäre jedoch höchst unwahrscheinlich, bedenkt man, dass sein Karmapunktekonto viel zu weit ins Minus geraten sein muss, um als privilegierter, weißer, mitteleuropäischer Nerd wiedergeboren zu werden. Aber – und jetzt wird es besonders interessant – auch Kim Jong-in, alias Kai, ein südkoreanischer Tänzer, Sänger und Schauspieler, könnte ebenfalls die Reinkarnation Grizodubovas, Descaves‘ oder Schäfers sein. Man wird es nicht erfahren.

Fest steht nur, dass die Dinge vielleicht oft gar nicht so eng miteinander verwoben sind, wie man sich das vielleicht vormachen wollen würde. Und fest steht auch, dass ich seit drei Tagen kaum geschlafen habe. Woher das kommt, ist so unbekannt wie der Werdegang meiner Seele, oder wie auch immer man das nennt, was da ständig reinkarnieren muss, ehe es irgendwann ins Nirvana gelangt. Fest steht auch, dass Nirvana um meine Reinkarnation, aka Geburt, herum ihre letzten Konzerte gaben und Kurt Cobain Anfang April tot aufgefunden wurde. Ein Jahr zu spät, um seine Reinkarnation zu sein. So ein Pech aber auch. Oder sollte ich mich doch eher glücklich schätzen? Erstmal recherchieren, wie das jetzt noch schnell war. Überdosis und Selbstmord? Mord? Totschlag? Unfall? Das will man als Reinkarnation vielleicht doch nicht übernehmen. Erstmal Kaffee. Erstmal recherchieren. Erstmal Packerlsuppe, erstmal Bier, erstmal Aspirin, erstmal in die Horizontale. Von Schlaf kann wieder keine Rede sein. Erstmal offenen Auges Nachtträumen. Erstmal offenen Auges dahin vegetieren. Morgen wieder Packerlsuppe.

Vierhundert Menschen suchen via Google monatlich nach „zeugungstag berechnen“. Dieses Monat bin ich einer davon. Der wahrscheinlichste Zeugungstermin zu meinem Geburtstag ist der 22. April 1993. Möglich ist der Zeitraum zwischen 8. April und 6. Mai. Wem ich also bisher noch gar keine Beachtung geschenkt habe, sind die Anfang-Mai-Gestorbenen. Das wäre zum einen Inge Stolten, quasi ein Gegenteil von Johannes Schäfer und damit karmapunktemäßig schon wahrscheinlicher. Auch interessant: Julio Gallo, Mitgründer des weltgrößten Weingutes, oder Pierre Bérégovoy, der einen Tag vor Gallo verstarb, durch eine Kugel, die er sich allem Anschein nach selbst in den Körper gejagt hat. Am Tag nach Gallo starb außerdem Robert De Niro; Senior natürlich. Aber, dass ich erst im Mai reinkarniert sein soll, ist grundsätzlich leider unwahrscheinlich. Leider aufgrund der folgenden Persönlichkeit: Ivy Benson, britische Bandleaderin und Gründerin der reinen Frauenband Ivy Benson and her Rhythm Girls. Das war 1939, ein Anagramm meines Zeugungsjahres, wohlgemerkt, wäre also passend. 1975 wurden in Großbritannien reine Frauenbands im übrigen verboten.

Mein Magen knurrt. Erstmal Fertigpizza. Erstmal Kekse, erstmal Cola, erstmal Kaffee. Erstmal recherchieren. Da muss es doch irgendwo ein Zusammenhang geben. Da muss doch irgendwo eine Nähe bestehen. Sollen das alles wirklich einfach unzusammenhängende Zufälle sein? Wo ist die Verbindung von De Niro zu Grizodubova, was hat Schäfer mit Stolten zu tun? Welchen Schmetterlingseffekt hat Gallo ausgelöst, dass Bérégovoy zu dem Schluss kam, es sei eine gute Idee den Abzug zu ziehen? Mir will in meinem dunklen, vom Bildschirmlicht beleuchteten Kämmerchen kein Licht aufgehen. Wo hat das alles begonnen? Wer hat meine Reinkarnation zu verantworten? Bin ich etwa langsam am Durchdrehen? Bin ich überhaupt eine Reinkarnation und wenn nicht, was bin ich dann? Wann hab‘ ich eigentlich das letzte Mal länger als 3 Stunden geschlafen? Der Timer piepst, ach ja, die Pizza.

Im Wikipedia-Artikel klingt alles nach Suizid. Cobain soll sich selbst umgebracht haben. Natürlich. Abschiedsbrief, „It’s better to burn out than to fade away.“, davor schon Suizidversuch mit Beruhigungsmitteln, Heroinüberdosis, Kopfschuss aus dem eigenen Gewehr, ergibt Sinn. Interessant aber, wer seine Reinkarnation sein könnte. Die Leute sind heute 25 Jahre alt. Es sind zum größten Teil Fußballer*innen, Schauspieler*innen und Models, die mit 25 schon so viel erreicht haben, dass ihnen ein Wikipedia-Artikel zuteil wurde. Ich klappe den PC zu. Ich kann mit meinen Recherchen ja gar nicht alle potentiellen Reinkarnationen ausfindig machen. Was, wenn ich die Reinkarnation der alten Nachbarin meiner Eltern bin? Die hatte doch bestimmt keinen Wikipedia-Artikel. Ich resigniere. Das Internet, die Menschheit, sind mir eine Nummer zu groß, das mit der Reinkarnation ist mir zu überwältigend. Was, wenn Leute wie Bérégovoy und Cobain den Fluss der Dinge durcheinandergebracht haben und die Menschen gar nicht nach Plan reinkarnieren konnten. Was, wenn alle Mörder*innen, Krankheiten, Unfälle und andere unnatürliche Todesursachen den Plan durcheinanderbringen? Berechnen die Planmachenden das überhaupt mit ein, dass man nicht nur an Altersschwäche stirbt? Man wird es nicht erfahren.

Fest steht nur, dass die Dinge vielleicht oft gar nicht so eng miteinander verwoben sind, wie man sich das vielleicht vormachen würde. Und fest steht auch, dass ich womöglich seit Monaten kaum geschlafen, kaum gegessen habe. Fest steht, dass nichts fest steht.

Durch die Jalousien fallen feine Streifen Licht ins Zimmer. Ich muss wieder daran denken, dass die so heißen, weil alte, weiße Männer eifersüchtig waren, dass Blicke auf ihre Angetrauten geworfen werden konnten. Ich muss wieder daran denken, dass es draußen auch noch eine Welt geben soll, jenseits der Wikipedia-Artikel, in der auch Menschen sterben und womöglich reinkarniert werden. Ich muss wieder an Grizodubova, Descaves und Prokofjev denken. Wir sterben alle irgendwann und nimmt man diese drei Menschen als Referenzgruppe, sterben die meisten von uns in Moskau.