Matt S. Fußbein Bakausky: Angst und Schrecken in Nürnberg

Scheiß langhaarige Hippies, sagte der Glatzkopf zu den Menschen mit kurz geschnittenen Haaren. Ich hatte mal ein Harem. Dieser brachte mich weiter, doch irgendwann habe ich ihn verloren, als der eigene Geburtstag anstand. Dann wollte jede Person im Harem mit mir Feiern und leider war das nicht möglich. Und der Harem löste sich auf. Das war sehr schade. Eine schlimme Zeit für mein Ego. Aber hier geht es nicht um den Harem. Hier geht es wie immer um mich. Der größenwahnsinnige Lügner und Hochstapler: Peter Fußbein. Ich bin Peter Fußbein. Und ich lüge dir die Welt, widde, widde, wie sie mir gefällt.

Jesus oder sein Bestseller sagte: Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen. Halt stopp, das war ja mein enge Freund Moses, der Dritte. Äh, Erste. Ich war heute in Nürnberg unterwegs und habe dabei Rotz und Wasser vom Himmel fließen sehen. Aber und jetzt kommt das entscheidende: Es geht heute ausschließlich um Medizin.

Meine Medizin ist im Moment das Getränk des Tages. Ich habe es bei meinen Brüdern gekauft. Sie haben gesagt: Bis morgen und ja, ich habe Lust sie morgen zu besuchen und einen Dönerteller zu kaufen. Bevor ich zu meinen Brüdern ging, war da ein oder zwei Menschen aus Kroatien. Deren Medizin war es, Gras zu rauchen. Sie fragten mich mindestens 10000 Mal, ob ich ihnen etwas verkaufen könnte. Und erzählten, dass sie mir dafür eine Million Euro geben würden.

Ich hatte leider weder die Muse noch die Ware im Angebot. Auch das Scheinbündel machte mir keine Lust darauf, ihnen weiterzuhelfen. Ich konnte ihnen einfach nicht helfen, nahm sie jedoch in mein Gebet auf, dass sie finden würden, was sie brauchen. In München, so sagten sie, würde ihnen jeder Ganja verkaufen. Aber in Nürnberg haben sie 20 Leute gefragt und keiner hatte etwas im Angebot. Dann waren sie noch an Wohnungspreisen interessiert. Ich erzählte ihnen, wie viel ich für meine Wohnung zahle. Und in München, da wo der Kerl lebte, wäre es teurer. Das kann ich mir vorstellen. Jedoch zahlt sein Arbeitgeber die Wohnung. Das klingt doch nach einer guten Medizin, wenn man nicht selbst zahlen muss für das Nötige. Anderseits macht das einen ja abhängig. Hahaha.

Medizin ist das Thema und dazu kann ich nichts sagen, da ich ja kein Arzt bin. Aber ich kenne Ärzte, die für mich arbeiten. Ich bin groß im Geschäft und das nicht nur auf der Toilette. Es gibt Menschen, die für mich ein Medizinstudium abschließen, auch wenn es viel Zeit kostet und mir ihre Dienste zur Verfügung stellen. Jajaja, ich bin der Peter Handbein oder so ähnlich. Fragen sie mich nicht, wie ich heiße, ich weiß es nicht. Peter Handbeins oder Beinhands oder Bein Hans Peter äh Medizin ist der Größenwahn. Immer schön groß bleiben. Denn in eine kleine Wohnung passt nicht jeder. Das müssen sie wissen.

Manch eines Medizin ist es eine größere Wohnung zu haben. Und vielleicht wäre das auch meine. Doch ich möchte sie aus guter Quelle bekommen. Ich habe die große Wohnung nicht nur erwähnt, sondern auch erfunden. Medizin ist die Beste Medizin. Lassen sie mich Arzt, ich bin Lauch. Lauch aber mit dicken Bauch, anders geht es nicht. Mein Arzt ähem Therapeut will das ich abnehme. Das geht doch gar nicht in die Einkaufstüte.

Die richtige Medizin zum Abnehmen wäre vielleicht das Adipositas-Programm einer Online-Apotheke: Einfach weniger Essen und mehr bewegen und das macht dann 5000 Euro im Monat bitte.

Und was hat das mit Nürnberg zu tun? Ich bin dort geboren, ich bin Hans Peter Handbein. Der große Gabelstapler. Ich staple hoch, denn anders geht es nicht. Und dann kommt die kleine Oma nicht an das Katzenfutter. Katzen sind die beste Medizin. Ich liebe Katzen. Katzen. Katzen. Katzen. Katzen. So schön und so lieb. Keine Angst, kein Schrecken, nur Katzen. Dafür wurde das Internet gemacht.

Daphne Elfenbein: Haare kämmen

das weiße Blut – du hast mich verletzt – jetzt ist es kaputt
Aufs Schneidbrett den Nacken gedrückt, 
neben dem Messer das Tier
die Lache neben dem Kühlschrank
nackte Füße auf Fliesen
weil alles mit A anfängt, also aaaa, 
sodass ich um acht Uhr fluchtartig den Tatort verlasse

leg deinen Kopf in meinen Schoß
schenk mir den regard irresistible
möchtest du ein hartes Ei? 
Das oeuil magique, die terre promise, der Mont de Venus 
Gib auf dein Horn Acht!
Soll ich dir die Haare kämmen? Komm!

Mit den Fingern durchs Haar, dein seidiges Haar
rauf dir dein Haar 
bis Blut fließt und Büschel zwischen den Fingern
das Tierchen, das Fellchen, die Schnauze
hat da nicht eben ein Glöckchen geschlagen?

aber das Gras und die Ameisen an den Halmen
die Frösche an den Rändern
der jaulende Hund, Libellen im Haar
du sagst ja nichts
zerkratzt dir ja dein Gesicht
dein Hals auf dem Kissen
ich hab das Messer genommen
die Stiche, Stöße, die Vorstöße zur Terre promise
tut es weh?

DAS
wenn sich Härchen aufrichten und Schläge
also die Stromschläge der terre promise
den ganzen Kerl durchzucken
que fait mon petit chou? 
was macht die die blinde Elster, 
das Hündchen, der Fuchs
wie’s schlummert unter den Blättern 
und die Turteltauben von den Drähten fallen
vor Schreck

Eine Hand, eine Gesäßtasche warm
eine Rundung, die aufschimmert
es ist ein Handwerk
aaah, da ist ja mein Messer
Fangen wir mit dem Regard irresistible an
schau mir in die Augen: soooo

Was haben die Amseln von den Beeren gegessen
den süßen Beeren – aber da!
Deine Hände machen ja, was sie wollen 
mal sehen was die Klinge uns sagt
auf deinem Rücken 
grün ist das Gras
dabei in den Himmel geblinzelt
Die Sonne macht einen ja ganz verrückt

Au! 
Schwindlig macht einen das Blut
immer auf und ab rauscht es 
im Ohr und auf den Straßen 
hoch aufgerichtet die Omnibusse mit ihren Tatzen
nicht nur die Schwalben
auch Schnabelmönche, die Tauben – kurr-uh
am Wegrand die Schalen
aufgebrochen, die Nabelschnüre der gelbe Schleim
quer übern Asphalt

vom Baum gefallen – rohe Eier im Mund 
mit dem Haar im Geäst
dabei die Vogeleier zerquetscht, 
das Hemd zerfetzt
Schrammen auf der Brust
das kommt davon -ein Glockenton 
das dürre Glöckchen, ein Schellenbaum
eins-zwei-drei
dein Haar versengt an der Sonne

jetzt auf den Bauch liegen,
Ameisen aus Locken klauben
Bienen schaukeln im Schatten der Halme
die Luft von Entenflügeln gerührt
im Schatten behaarter Wipfel
ein Maulwurf, der sich tiefer gräbt
etwas, das aus der Erde schießt, 
funkelnd und heiß wie die Sonne

unter den Achselhöhlen, in den Venusgebirgen
fabulieren mit den Fingern im Ohr
Text, der aus allen Poren quillt
Zügel, en train, da lösen sich sämtliche Bänder
gib Acht, dein Haar
und steigt ab vom blutigen Schoß

Dann war da aber noch das Hündchen

Das Entchen, du Strolch!
den Nacken ins Gras
am Schwänzchen in der Luft herumgewirbelt
ein bisschen Remy Martin
in die Tierschnauze geträufelt
wie wär’s mit einem Eis am Stiel? 
Scherben im Mund 
und wieder ist ein Vogeljunges 
aus dem Nest gefallen

Fleisch fressende Pflanze
gieriges Kätzchen – Efeugewächs
Wollen sehen, was dein Brusthaar uns sagt
Relaxez-vous, so ist’s recht.

Nicht das Gesicht verziehen, nein
das Herz nicht schlagen lassen
ne donnez pas libre cours a vos emotions
Daisies – Ameisen im Haar
Der Kamm bleibt hängen
AU

du hast mich verletzt
das weiße Blut -– jetzt ist es kaputt
Oh! Ich vergaß die terre promise
aber nicht doch!  
Entspannen Sie sich!
Ein bisschen Gymnastik
Noch mehr vom oeuil magique
und noch ein wenig hinter dem Ohr
schwarz glänzt das Haar

Tage im Blattwerk
im Schatten der Halme 
es rauscht die Pappel im Ohr 
wie es zu fließen beginnt
Die Sonne spaziert am Zenith
weil es nach Eisen schmeckt und am Bauch klebt
Büschel aus Krallen geschüttelt
Relaxez – vous

mit dem Omnibus in eine Achselhöhle gefahren
haarig, Perlen im Mund – 
aus glänzenden Flügeln Augen
Zungen, vergraben tief
grün ist das Gras und
Trauerweiden lassen ihr Haar herab

Die Blume im Spiegel pariert
Es ist eine alte Erfahrung
Dass einen das abgelegte Leben
aufs Höchlichste schmerzt

Leonie Elpelt: Leonie, 24, ungefragt bei Frau tv

Vor zwei Wochen postete eine Kommilitonin mir bei Facebook ein Video von Frau tv auf die Pinnwand. In diesem Video war ohne mein Wissen ein Instagram-Foto von mir verwendet worden. Zu sehen sind die mit Musik untermalten Fotos von Frauen und eingeblendete Textfragmente. Das Video geht so: 

Sommerzeit Körperzeit Bei dieser Hitze lautet die Devise: Je weniger Stoff auf der Haut desto besser. Seit ein paar Jahren gibt es einen Trend bei Frauen zu einem neuen Accessoire: Achselhaare Sie sind nicht mehr eklig, unhygienisch und hässlich, sondern stehen für weibliches Selbstbewusstsein und Empowerment (bei diesem Wort ist mein Bild zu sehen, mein Instagram-Account ist verlinkt) Immer mehr Frauen lassen ihre Achselhaare wachsen. Sie fotografieren sich selbst mit gehobenen Armen Und posten die Bilder in den sozialen Netzwerken. Sie markieren damit ihre Unabhängigkeit Von stereotypen Schönheitsidealen. Sie zeigen ihre Freiheit, Individualität, ihren Mut Und auch ihre Sinnlichkeit. Nike Women zeigt auf seinem Instagram Account Ganz selbstverständlich ein Model mit Achselhaaren. Die Community versteht das Bild als Provokation. Die Kommentare unter dem Post explodieren. 

Wie Sie sehen, sehe ich heute nicht mehr aus wie auf diesem Foto. Der Grund hierfür ist, dass ich mir ein Achselhaar-Toupet angefertigt habe. Das ist wirklich superduper praktisch, denn so ist es noch viel leichter, meine Achselhaare als Accessoire zu tragen. Ich demonstriere das mal… So, hier trage ich den Hautkleber auf… Dann andrücken… Et voilá, wie angewachsen! Wie Sie nun feststellen, trage ich auch auf der anderen Seite bereits das Toupet. Sehen Sie, so leicht lässt es sich entfernen: Ratsch! Ich lasse es mal herumgehen, damit Sie es aus der Nähe betrachten können. Hier, bittesehr. 

Ich finde es ja sehr gut, dass die Macher*innen des Videos darauf hingewiesen haben, dass Achselhaare bei Frauen bisher eklig, unhygienisch und hässlich waren. Sonst hätten die Konsument*innen womöglich noch vergessen, wie sie bis kurz vor dem Video über Achselhaare bei Frauen gedacht haben sollten. 

Aber: was sagen denn eigentlich die Leute, die das Video gesehen haben? Lassen wir sie mal zu Wort kommen: 

Jenny schreibt: Das ist höchstens ein Zeichen von Faulheit oder einem kaputten Rasierer. #antibusch -Oh Jenny, Jenny, Jenny, hast du denn nicht verstanden, dass das Video eine genau gegenteilige Meinung erreichen wollte? 

Was schreibt denn Beate? Ich denke, dass ein gepflegtes Äußeres sehr wichtig ist und Achselhaare, die unterm Shirt oder Kleid sichtbar sind (gerade jetzt im Sommer) tragen nicht dazu bei. Dann kann man gleich einen Damenbart wachsen lassen, unrasierte Beine zeigen, einen Haaransatz haben etc. Für mich -keine Option. Lieber eine halbe Stunde länger im Bad -dafür aber gepflegt. Wenn jemand aber meint mit Achselhaaren unterwegs sein zu wollen -dann bitte. Mit Selbstbewusstsein hat das sicher nichts zu tun 😀 -Vielen Dank Beate! 

Gudrun hat einen dringenden Appell: Oh mein Gott!!! Ich mochte „Frau TV“ wirklich immer sehr, sehr gerne aber was hier in letzter Zeit läuft ist unfassbar. Merkt ihr garnicht, dass mit eurer Sichtweise und Beiträgen ihr Frauen aus einer extremen Ecke unterstützt und die Frauen die euch wirklich brauchen, vernachlässigt. -Ein guter Einwand, liebe Gudrun, das Grundbedürfnis der gewöhnlichen Wald-und- Wiesen-Frau sind nun einmal Videos über die neueste Blitz-Diät. Frauenextremismus ist ein Randphänomen und sollte daher in den Medien auch entsprechend behandelt werden. 

Die liebe Julia hat noch einen Erfahrungsbericht für uns: Im Supermarkt bei mir um die Ecke arbeitet ne Frau die sich nicht rasiert unter den Achseln und dann sitzt sie da im Spaghetti top und ihr laufen Schweiß tropfen über die Haare! Da könnte ich so kotzen das ist echt ekelhaft! Wenn zwei Kassen auf sind geh ich immer zu nem andern! 

Dieser pfiffige Life-Hack von Julia zeigt: selbst ist die Frau. Und damit: zurück ins Studio.

Eva Szulkowski: Damenbart

Ich habe einen kleinen Damenbart
Mit 30 ist er mir gewachsen und er ist ganz zart
Nur bei bestimmtem Lichteinfall kann man ihn gut sehen
Wer keinen Damenbart hat wird dies Lied wohl schlecht verstehen

Ich habe einen kleinen Damenbart
Das heißt die Oberlippe ist seitdem nun auch behaart
Ich überleg ihn wegzuzupfen oder wegzuwaxen
Ich überleg ihn anzunehmen: Er ist so gewachsen

Ich hab‘s nicht so mit dem Rasieren, Haare überall
Warum nun ausgerechnet er, das wäre unnormal
Es käme mir vor wie ein räuberischer Überfall
Ich sage Beautyzwang, leck mich & du kannst mich mal

Doch immer noch steht da dieser Damenbart
Es gibt keinen Zweifel, ich bin im Gesicht behaart
Ich bleibe fair, will ja wirklich keinen blamen
Doch Mama, ich glaub es liegt an deinen Genen

Chor:
Sie steht vorm Badezimmerspiegel und sie schaut sich an
Sie steht vorm Badezimmerspiegel und sie schaut sich an
Sie steht vorm Badezimmerspiegel und sie schaut sich an
„Bin ich denn jetzt noch eine Frau oder schon ein Mann?“

Mina Reischer: Hinter den Augen

Ein belebter Körper ist eine organische Organisation und will das Unmögliche. Etwas, was noch nie war. Es werden Ihnen Haare hinter den Augen wachsen und am ganzen Körper. Haare unter der Haut, unter den Augen. Sie werden zur Tarnung dienen, sie werden mehrere Funktionen erfüllen: Sie verhindern ein zu rasches Abkühlen des Blickes. Feuchtigkeitsschutz gegen Regen und beim Schwimmen. Sie werden helfen beim willkürlichen Hervorrufen leuchtkräftiger, an Halluzinationen grenzender Vorstellungen. 

If the good doctor cant cure you, find the less good doctor.

Jedes Behagen ist sich selbst genug, ohne Verlangen, dass es anders werden soll als es gerade ist. Schmerz hingegen kann gar nicht sein ohne aufhören zu wollen. 

In meinem Kopf da waren Wellen. 

Die habe ich entfernen müssen, sie haben sich nicht legen wollen, die stolzen Wellen. Wie geht es Ihnen heute?

Ja, jetzt sind da keine Wellen mehr. Oft liege ich müde, dann liege ich krank. Im Traum fluten Bilder über mich hinweg. Es kommt vor, dass ich eine ganze Woche in Spannung lebe ohne dabei einmal Luft zu holen. Es ist als fehlt etwas.

Da ist ein Himmel.

Es ist ein Bauch. Hier ist Ihre Leber.

Da ist ein Himmel in meinem Bauch, ein Himmel wie ein Gewitter. Alle Brücken sind mir nun zu hoch und ohne Nutzen. Nichts hält mich, was ich berühre zerfällt. Herr Doktor, ich muss die Wahrheit hören: Was fehlt mir?

Der Brückenbau ist eine Kunst. Es verhält sich mit dem Fragen ähnlich. Das Flugzeug fliegt nicht so wie der Vogel.

Ich habe einmal ein Bild von innen gesehen. Die Seele ist vogelartig, die Seele ist ein Unterwasserwesen. Aber in meinem Bauch: Das ist der Himmel.

Warum ist das Leichte so schwer? Das Leichte ist so schwer. Es ist so leicht und so schwer. Ich will die Wahrheit sehen.

If the good doctor cant cure you, find the less good doctor. If the good doctor cant cure you, find the less good doctor. If the good doctor cant cure you, find the less good doctor.

Es entsteht der Eindruck, dass die Patientin unfähig zur Entscheidung ist. Sie ist nicht in der Lage irgendeinen einzelnen Reiz unbemerkt zu lassen. Aber solche Überempfindlichkeit bedeutet keineswegs Kontakt mit der Realität. Außerdem scheint mir, dass sie selbst die Handlungsweisen nicht aufgibt, von denen man glauben sollte, dass ihr deren Vergeblichkeit unmöglich entgangen sein könnte. Sie denkt, dass alle Interpretationen ausnahmslos schlecht sind, aber sie muss mehr und mehr davon haben. Die Interpretationen, die für sie Beiträge sind, die sie für bemerkenswert hält. Aber eher wegen etwas, das sie nicht sind, als wegen etwas, das sie sind.

Wenn ich denen zuhöre, die früh morgens auf der Straße sitzen, gewinne ich den Eindruck, dass es eine geheime Sprache gibt. Sie, die Geheimmenschen, haben etwas erlebt, wovon ich keine Ahnung habe. Etwas, was im Verborgenen passiert ist. 

Willst Du in die Geschichte eingehen als die, die schwimmen konnte und doch untergegangen ist?

Ihre Gesichter verraten sie, aber nur soweit, dass ich das Geschehene erahnen kann. 

So bin ich nun einmal: Jedem Zauber verfallen, jederzeit zu verblüffen. Ich gehöre dem Augenblick. Ich gebe jedem nach, der mich zu gewinnen versteht.Wir sind alle krank und verstehen nur jene Bücher zu lesen, die von unserer Krankheit handeln.


Musik: Felix Foerster

Theobald O.J. Fuchs: Haarflugzeug

Es war einer jener Träume, die sich mir unauslöschlich ins Gedächtnis einprägten. Der Traum war so eindrücklich und gefühlsdurchsaftet, dass ich heute noch, zwanzig Jahre später, das Bild verlustfrei vor meinem inneren Auge dekomprimieren kann. Das Bild vom Haarflugzeug. Die beiden Flügel dieser Maschine sind komplett von Haaren bedeckt. Dickes, weiches, ungefähr schulterlanges Haar, das als Antrieb dient. Der Pilot kann das Fell in eine wellig-windende Bewegung versetzen, ähnlich wie das Wogen eines Kornfeldes oder einer jener Wiesen, wie es sie früher gab, als seltener gemäht wurde und das Gras höher wachsen durfte als erlaubt war, wenn der Wind mit dicken Backen darüber pustete. Nur dass in meinem Traum die wiegende Bewegung aus dem Inneren der Haare kommt und den Wind erzeugt, der das Flugzeug vorwärts treibt.

Der Rest des Flugzeugs ist unwahrscheinlich filigran gebaut, aus unsäglich dünnen Röhrchen, wie Getreidehalme aus Molybdänstahl, Niob oder einem vergleichbaren Zaubermetall. Der Pilot kauert in einer Glaskugel, die zwischen den Flügeln hängt, er trägt eine altmodische Ledermontur mit Lederhelm und monströser Fliegerbrille, aus deren Gläsern man Suppe löffeln könnte.

Irgendwo müsste ich noch eine Zeichnung von dem Flugzeug haben, die ich damals anfertigte, unmittelbar nachdem ich erwacht war. Erst wollte ich danach suchen, doch dann änderte ich meine Meinung. Bis ich mich durch die Stapel von losen Papieren, Notizbüchern und Kladden gewühlt und die Zeichnung mit viel Glück gefunden hätte, würden Wochen vergehen. Es ist eine der schönsten Seiten des Schreibens, dass man sich nicht an die Regeln der Wirklichkeit halten muss. Ich muss die Zeichnung nicht finden, um behaupten zu können, dass es sie gibt. Vielleicht lüge ich auch und habe sogar nach dem Fetzen Papier gesucht und ihn gefunden, aber nichts zwingt mich, das hier hinzuschreiben.

Ich frage mich natürlich, warum das Flugzeug so filigran war, und warum ich dachte, ein Büschel Haare auf dem Flügel genügte, um sich leichtenst in die Luft zu erheben. Dabei war es kein Kindertraum, keine Kindheitsidee. Als ich noch klein war, sah die Welt ganz anders aus, voller riesiger Dinge. Riesige Möbel, riesige Menschen, riesige Häuser, riesige Flugzeuge. Und alle Menschen hatten schrecklich lange Haare, so lange, dass man sich aus einem einzelnen Haar und den vier Beinen des Küchentisches eine Flechthütte basteln konnte.

Doch dann wuchs ich und wurde selbst größer, während die Dinge kleiner wurden. Irgendwann musste ich nicht mehr aufs Sofa klettern, sondern ließ mich einfach darauf nieder. Irgendwann schwebte die Türklinke nicht mehr hoch über meinem Kopf, sondern ließ sich mit der lässig ausgestreckten Hand hinunterdrücken. Sogar das Auto war irgendwann ein Ding, das auch ich steuern durfte, weil ich übers Lenkrad schauen konnte.

Nicht lange danach jedoch wurden die Dinge wieder größer, und zwar in Wirklichkeit. Die Häuser, die Flugzeuge, die Möbel – alles wurde immer größer und wird auch heute noch jeden Tag größer. Die Teller und Tassen im Gasthaus sind jetzt größer, die Jacken und Hosen sind größer, die Menschen selbst werden immer dicker und größer. So wie die Autos, die Fernsehapparate, die Katzen, die Turnschuhe, die Brillengestelle. Das ist der Kapitalismus, der muss ständig wachsen, sonst geht es ihm schlecht.

Für mich ist der Kapitalismus wie ein kleiner Hund, den du in dein Haus aufnimmst. Du fütterst den keinen süßen Kerl sorgfältig und liebevoll und er wächst und gedeiht, aber dann will er nicht mehr aufhören zu wachsen. Er wird größer und größer bis er das ganze Haus vom Keller bis unters Dach ausfüllt. So fest ist er da hinein gequetscht, dass da in keiner Spalte mehr Luft ist, kein leerer Winkel, kein heimlicher Hohlraum mehr übrig bleibt. Die Augen des Hundes drückt es aus den beiden Fenstern im ersten Stock, sie quellen aus den Fenstern und aus dem Kopf hinaus, dann explodiert der Hund. So ist der Kapitalismus. Er kann nicht aufhören zu wachsen, bis er explodiert. Das Haus ist danach natürlich kaputt.

Nur Haare, die müssten irgendwann aufhören zu wachsen. Weil sie nicht explodieren können. Sie sterben einfach und schweben ganz sanft auf die Erde.

Marius Geitz: Haare

Pixie Cut……Ponyhawk
Pferdeschwanz…..Quiff
Pompadour…..Undercut
Shape up……Tonsur

Ganz egal, was du trägst,
Schneid´ es einfach ab

Schneid´ dein Haar
Schneid´ dein Haar
Schneid´ dein Haar
Schneid´ dein Haar
Schneid´ dein Haar
Schneid´ dein Haar ab

Bubikopf…..Bürstenschnitt
Ein Zopf…Ein Dutt….Iro
Topfschnitt…..was der Trump da trägt
Braids….Kranzfrisur

Ganz egal, was du trägst,
Schneid es einfach ab

II

Für mich bist du genauso schön, wie ich es finde, dass sich die Kinder auf der Straße vor mir fragen, was der Schnurrbart mit der Schnur zu tun hat und sich dabei Schnüre an die Oberlippe halten.

Paulina Czienskowski: Haare

Bis alle Spuren beseitigt waren, vergingen Jahre. In jeder Öffnung, jedem Spalt, jeder Ritze, die sich in ihrer Wohnung befand, kam wieder und wieder irgendetwas zum Vorschein. Immer war da was, das sie mit dem Damals in Verbindung brachten. Und wenn es nur ein Haar war.

Dabei hatte genau das ja alles erst losgetreten. Haare. Nicht seine oder ihre, also nicht direkt. Es waren die eines fremden Menschen, die er in einer Truhe seiner Vergangenheit aufbewahrte und die sie heimlich durchwühlt hatte. Eine pechschwarze, dicke Strähne, die sie da entdeckte, an einem Ende mit der Flamme eines Feuerzeugs zusammengeschweißt.

Es dauerte eine gewisse Zeit, bis sie sich im Kampf gegen ihre Neugier ergab und ihn dürstend fragte, wessen Strähne das sei. Zwischen Zeigefinger und Daumen hielt sie sie in die Höhe, wie das lang gesuchte Indiz in einem Mordfall, der nun endlich aufgeklärt werden würde.

Er zögerte keinen Moment, riss ihr die Haare aus der Hand. „Und wo bewahrst du die Strähnen von mir auf?“, fragte sie. Man hörte, wie sehr sie sich anstrengte, ruhig zu klingen. In ihrer Stimme doch ein Haufen Entrüstung, die sie nur schwer verbergen konnte. Er gab ihr keine Antwort darauf, sagte nur, ohne sie dabei anzusehen: „Es gibt Dinge, die will man für immer für sich behalten.“

Die Laute waberten im Zimmer umher und legten sich auf ihre Synapsen, ohne von dort wieder zu verschwinden. Es schellte in ihrem Kopf, laut. Dieser fiese Alarm begann sie, ohne Rücksicht und Ankündigung in den Wahnsinn zu treiben.

Für jeden Tag, den sie nebeneinander aufwachten, tat sie von nun an eins seiner Haare in ein Weckglas und fügte noch eines von sich hinzu. Der Beweis für sie und ihn, sagte sie sich im Stillen. Für ihre gemeinsame Zeit, die sie miteinander teilten, die – so wollte sie es glauben – nicht bloß ein Arrangement aus Kompromissen war, sondern voller Wahrhaftigkeit, das auch er eines Tages für genau so wertvoll empfinden würde, um es für immer für sich zu behalten.

Er bemerkte nichts davon. Dabei war es ja genau das, was sie wollte. Also stellte sie das Glas irgendwann neben das gemeinsame Bett, direkt auf den Nachtisch, so dass man es nicht mehr nicht entdecken konnte. Aber es blieb dabei. Er schien blind geworden.

Und so wanderte das Weckglas durch die Wohnung. Mal stand es im Wohnzimmer, deplatziert auf dem Boden, dass man drüber stolperte, wenn man nicht aufpasste. Mal im Regal auf Augenhöhe zwischen den frischen Handtüchern im Badezimmer. Keine Chance. Er sagte nichts.

Es war nachts, als sie, wie so häufig in dieser Zeit, wach lag. Wie von Dämonen getrieben, saß sie wie dann immer kerzengrade im Bett. Diesmal hielt sie es nicht mehr aus und stand auf.

Auf Zehenspitzen schleichend kam sie zurück zum Bett, in ihrer zitterigen Hand eine Schere. Da so mitten in der Dunkelheit, die nur durch das müde Licht einer Laterne unter dem Fenster gebrochen wurde, hockte sie nun neben ihm auf der Matratze und schnitt ihm zaghaft die Haarspitzen.

Sein störrisches Haar machte bei jedem Schnitt ein sattes Geräusch. Sie versuchte, die Schere so langsam auf und zu zu bewegen, dass das schleifende Hin und Her der Schneideblätter im seichten Brummen des Kühlschranks aus der Küche nebenan unterging.

Mit der rechten Hand schnitt sie ihm nun über Minuten Stück für Stück Millimeter seines Haars. Ihre andere Hand hielt sie währenddessen geöffnet, um jene Beweise aufzufangen. Damit fertig, befüllte sie das Glas behutsam mit den zarten Stoppeln.

Mit der Zeit wurde es voller und doch fiel ihm noch immer nichts auf. Auch nicht, dass seine Haare von Nacht zu Nacht kürzer wurden. Zumindest nach einigen Wochen hätte er sich doch mal wundern müssen, dachte sie, wieso sich seine Kopfbehaarung irgendwie zu verändern schien. Jeden Morgen, als sie aufwachten, blieb sie noch einen Moment länger liegen als er, um ihn durch den Spalt ihrer Augen heimlich zu beobachten.

Manchmal war sie sich sicher, dass er, das Laken glatt streichend, verräterische Haarreste, die nachts versehentlich durch ihre Finger geglitten waren, entdecken würde. Und doch: nicht eine Reaktion.

Also begann sie, das Gebiet auszuweiten und machte sich an seinen Bein- und Brusthaaren zu schaffen. Ganz anders als auf seinem Kopf waren diese lockig. Es war gar nicht leicht, diese krausen Fäden mit der Schere zu erwischen. Viel mühseliger, weil nicht so ergiebig – immerhin war die Körperbehaarung deutlich spärlicher als die auf seinem Schädel. Und doch war es jedes Mal genug für eine nächtliche Beute, was sie da erwischte.

Als die übrig gebliebenen Stoppeln zu kurz für die Schere wurden, kam der Nassrasierer. Mit Akribie zog sie die Klingen jede Nacht über seine Haut, von der die obersten Schichten von Zeit zu Zeit mit runterkamen. Es grenzte fast an ein Wunder, dass er auch davon nicht aufwachte und tagsüber kein Wort über seine wund geschälte Haut verlor.

Manchmal stellte sie sich vor, wie man ihn nachts schreien hören würde. Sah ihn zusammengekauert und verkrampft vor Angst auf der äußerten Bettkante hocken, seinen nackten, blutig rasierten Körper balancierend, bis auf die Unterhose alles frei, dann

rückwärts auf den Boden fallend wie geschossenes Wild. Wie er ihr bettelnd entgegen schrie, wie sehr er sie doch liebe.

Doch da war nichts. Auch nicht als sie ihm den Kopf kahl rasierte, die Augenbrauen gleich mit. Ein letztes Aufbäumen, bevor sie endgültig sein konnte. Dachte sie. Nichts. Bloß wortloses Nebeneinander auch danach.

Es kam der Moment, in dem sie mit den gerade gewechselten Klingen abrutschte und ihm ins Beinfleisch schnitt. Sie erschrak, ein kleines bisschen jedenfalls, erstarrte für einige Sekunden. Als er noch immer keine Regung zeigte, leuchtete sie mit einer Taschenlampe auf die Stelle.

Da quoll das Blut aus den feinen Schlitzen. Sie tupfte und tupfte, dass ja kein Blut auf das Laken ging. Vielleicht lag es an seinem beruhigten Gemüt in der Nacht, dass der Fluss nicht lange brauchte, um aufzuhören. So konnte sie schon kurz darauf seelenruhig weiter an seinem Bein umher schaben.

Eines nachts, sie hatte ja längst nicht mehr damit gerechnet, war es endlich so weit: Er fragte sie tatsächlich, was sie da mache. Gerade als sie das Glas geschlossen und neben sich auf den Nachttisch gestellt hatte, hörte sie ihn, als er räuspernd diese Frage stellte.

Nachdem er sich wiederholt hatte, sie hatte ihn darum gebeten, so getan, als hätte sie seine Worte nicht richtig verstanden, um es in ihren Ohren regelrecht zelebrieren zu können, antwortete sie bloß einsilbig, „manches will man für immer für sich behalten“.

Dann ging sie ins Badezimmer, um ihre Utensilien wie gewöhnlich zu verstauen. Sie setzte sich auf den Rand der Badewanne und wartete einen Moment. Doch was passierte, war wieder bloß nichts. Als sie wenige Minuten später zurück ins Bett kam, schlief er.

Bis der Wecker klingelte, lag sie mit offenen Augen neben ihm, ihr Blick starr gegen die Decke gerichtet. In etwa so vergingen Tage und Monate, in denen sie mit leeren Augen in der Gegend umhersah, irgendwann auch durch ihn hindurch. Tage und Monate, in denen sich weiter nichts ereignete.

Das Weckglas hatte sich längst auch in ihre Sehgewohnheit gefräst. So stand es seither unberührt auf einem kleinen Tischchen im Flur zwischen Briefen, Quittungen, Büchern, ausrangiert. Krams halt, den beide beim Eintreten in die Wohnung gewissermaßen achtlos dort ablegten.

Immer wieder lichtete sich so der Haufen, um sich dann wieder fast unbemerkt zu füllen und so weiter. Ebbe und Flut. Behutsame Stille bei Flut. Rums machte es jedes Mal im Mülleimer, wenn auf dem Tischchen Ebbe eintraf. Das Glas blieb immer.

Ruhiger, immer ruhiger wurde es. War es Taubheit, die sich ausgebreitet hatte? Jedenfalls konnte sie wieder schlafen. Sie hatte aufgegeben.

Und dann wuchs in ihr doch irgendwann wieder die immer größere Sehnsucht nach Aufmerksamkeit – im Stillen. Wieder da diese Unruhe, der bekloppte Mechanismus, der sie mit der Zeit erneut bis ans Äußerste trieb. Eines nachts, fast im Wahn, als sie wieder den Rasierer ansetzte.

Der nächste Morgen. Beide kahl geschoren, schauten sie einander endlich wieder an. Ihre und seine Haare in einem Bündel hatte er auf den Tisch zwischen ihnen gelegt, an dem Ende mit der Flamme eines Feuerzeugs zusammengeschweißt.

Juliane Kling: Mit Opa beim Friseur

Mein Großvater ist ein sehr galanter Mann. Obwohl er erst seit Kurzem auf seinen Gehstock verzichten darf, zögert er niemals, einer älteren Dame in der Straßenbahn seinen Sitzplatz anzubieten. Wenn wir gemeinsam durch die Innenstadt flanieren, und ja, bei meinem Opa muss man ganz grundsätzlich von einem Flanieren sprechen, tippt er sich bei jeder Begegnung mit einem Freund oder einer früheren Bekanntschaft lächelnd an den Hut. Mein Opa ist kein Mann großer Worte, außer er hat in leutseliger Runde ein Glas trockenen Rotwein zu viel getrunken, doch selbst in diesem Fall behält er stets die Contenance. Ich kann mich an keinen Moment in meinem Leben erinnern, in dem sich mein Großvater einem anderen Menschen gegenüber unhöflich oder gar rücksichtslos verhalten hat. Man könnte nun misstrauisch anmerken, dass dieser ausgesuchten Liebenswürdigkeit ein möglicherweise opportunistisches Kalkül zugrunde liegen könnte, aber die Zuvorkommenheit meines Opas entbehrt jeder strategischen Zweckmäßigkeit. Im Gegenteil, sie ist ein geradezu unabdingbarer Teil seiner Persönlichkeit ebenso wie der beharrlich lichter werdende, perfekt gelegte Seitenscheitel unter seinem Hut. Seit ich meinen Großvater kenne, und das sind immerhin einunddreißig Jahre, hat sich sein Haarschnitt bis auf meine kaum nennenswerten Versuche, ihn mit Technozöpfen und grellbunten Seepferdchenspangen aufzuwerten, kein bisschen verändert. Denn falls es nicht gerade um Handys oder Smartphones geht, von denen er inzwischen fünf besitzt und bei jedem neuen Gerät ein wenig leiser ins Telefon donnert, dass hier der Opa aus Kassel spricht, mag mein Opa keine Veränderungen. Ich glaube, das habe ich von ihm. Wir mögen es, wenn wir uns auf Dinge verlassen können. Auf die Straßenbahn zum Beispiel oder den guten Merlot von Edeka. Oder auf die Friseurin meiner verstorbenen Oma, bei der Opa sofort einen Termin für mich ausgemacht hat, als ich ihn angerufen habe und gesagt habe, Opa, es brennt. Im Kopf und im Herzen und wir müssen ganz schnell irgendetwas dagegen tun. Mein Großvater hat nicht lange gefackelt, hat sich in die Straßenbahn gesetzt und der Friseurin von seinem Enkelkind erzählt, das Veränderungen hasst und trotzdem eine haben will. Selbstverständlich war er so respektvoll, keine Gründe für meinen plötzlichen Wagemut zu nennen. Selbstverständlich war er so aufmerksam, meine grimmige Antwort auf die Frage der Friseurin, ob ich vielleicht Strähnchen haben wolle, nicht wahrheitsgetreu an sie weiterzutragen. Als ich mich später noch einmal vorsichtig erkundigt habe, wie er und die Friseurin nun miteinander verblieben seien, meinte mein Opa, dass er gleich zum Salon aufbrechen werde, damit ich auf seinem Handy mit der Friseurin telefonieren könne, denn er habe festgestellt, dass die Damen im Laden viel zu selten ans Telefon gingen und unter diesen Umständen würde ich meine Wünsche niemals anständig vorbringen können. Wie ich bereits sagte, er ist sehr zuvorkommend. Nichtsdestotrotz sah ich mich gezwungen, ihm diesen hilfsbereiten, aber völlig absurden Plan lauthals auszureden, da ich ohnehin schon die Vermutung hatte, dass die Friseurin mich für eine depressive Sechzehnjährige hielt. Schlussendlich sind wir zwei Tage vor dem Termin gemeinsam hingefahren, ich habe meine Haare gezeigt und die Sache mit der Friseurin persönlich geklärt. Schlussendlich sitze ich jetzt hier im Friseursalon und starre aus einem riesigen schwarzen Wella-Umhang in mein müdes, blasses Gesicht. Es ist noch früh am Morgen und ich bin mit der Friseurin allein im Laden. Mein Großvater wird mich in ein paar Stunden abholen kommen, um die Rechnung zu begleichen und mich anschließend zum Mittagstisch im Rathaus einzuladen. Natürlich tut er das, denn wenn mein Opa etwas macht, dann macht er es hundertprozentig. Die Friseurin hat meine langen dunklen Locken so stark ausgekämmt, dass sie weit und schwer über meiner Brust liegen. Wir gucken uns im Spiegel an. Sie fragt, wieviel sie vor der Blondierung noch abschneiden soll, und ich zeige ziellos auf meine Schultern. Wirklich so viel?, hakt sie nach, und ich antworte eine Spur zu nachdrücklich, dass es ja bloß Haare sind, obwohl wir beide ahnen, dass es nicht bloß Haare sind. Sie hat nur einen Blick auf mich werfen müssen, um zu wissen, dass ich keine depressive Sechzehnjährige bin. Sie hat meine Augen und die tiefen Ringe darunter gesehen und gewusst, was zu tun ist. Die Friseurin hebt die Schere in die Luft und schaut mich aufmunternd an. Bist du bereit? Ich nicke tapfer und sie setzt den ersten Schnitt. Dein Opa ist ein großartiger Mann, schwärmt sie, während ihre Hände emsig meinen Kopf bearbeiten. Wie galant und aufmerksam er mit deiner Oma umgegangen ist, wenn die beiden zusammen hier waren. Das ganze Team war hingerissen. Sie waren ein wundervolles Paar. Es muss furchtbar sein, einem Menschen, den man so bedingungslos liebt, für immer Lebewohl sagen zu müssen. Sie hält kurz inne und blickt zu mir in den Spiegel. Das ist es, erwidere ich und schließe die Augen, um meine Haare nicht fallen zu sehen.

Verena Schmidt: HAARE

In einem Benimmregelwerk aus dem Jahre 1954 folgt in alphabetischer Reihenfolge gleich auf den Buchstaben G. wie „Gruß unter geschiedenen Eheleuten und deren Angehörigen“ der Buchstabe H.wie „Haare ordnen“ (Chiffre) siehe Make Up, beginnend mit der Dame, die Lippenstift, Puder und andere Schönheitsmittel an bestimmten Orten, oder zu bestimmten Gelegenheiten tunlichst zu unterlassen, oder tunlichst zu tun hat.

Es steht eindeutig geschrieben: „Wenn Sie das Bedürfnis haben, ihr Erscheinungsbild wieder zurecht zu machen, dann zücken Sie nicht vor  allen Leuten – etwa im Restaurant – Ihren Taschenspiegel, um dann mit Lippenstift, Puder oder Ähnlichem nachzuhelfen.
Chiffre Entschuldigen Sie sich und ziehen Sie sich in den Chiffre Waschraum zurück.

Dasselbe gilt für das Ordnen Ihrer Haare. Sie dürfen sich niemals bei Tisch kämmen und sollten es sogar vermeiden mit Ihren Händen den Sitz Ihres Haares zu prüfen.

Selbstverständlich müssen sich auch Herren zurückziehen, wenn sie an ihrer Frisur oder an ihrer Krawatte etwas richten wollen.Chriffre siehe Toilettefehler.

Gleich folgend die Regeln zu dem Buchstaben

M:
-Mandarinen Chiffre siehe Obst
-Marillen Chriffre siehe Obst
-Marmelade Chriffe siehe Butter, Honig, Senf

Womit nun meinerseits auch genügend Senf zum Thema Haare abgegeben wurde.