Ich habe die Nachricht aus der Zeitung erfahren. Sie hat es zwar nicht auf die Titelseite geschafft, allerdings war sie auch für Personen, die den Lokalteil lediglich überfliegen, leicht mitzubekommen. Fett gedruckt und neben einem anschaulichen Bild aus der Mediendatenbank las ich folgende Schlagzeile:
Aargauer Polizei jagt in Hallwilersee Kaiman.
Ich war gerade bei meinem morgendlichen Tee, einer herrlichen Mischung aus Alpenkräutern und frischer Kamille. Um diese Nachricht aufnehmen zu können, musste ich allerdings sicherheitshalber meine Tasse absetzen. Zum einen war das eine eher ungewöhnliche Nachricht. Ich lebe nur wenige Dörfer weit von diesem See und während meiner gesamten Kindheit schwamm ich jeden Sommer in diesen Gewässern. Der Gedanke also, gemeinsam mit einem kleinen Krokodil gebadet zu haben, wäre sicherlich für viele Leserinnen und Leser eher erschreckend. Zum anderen aber war dieses Thema für mich noch auf eine ganz andere, auf eine persönliche Art und Weise ungewöhnlich.
Mir ist nämlich vor ungefähr zwei Tagen aufgefallen, dass mein eigener Kaiman spurlos verschwunden ist. Zuerst dachte ich, er hätte lediglich frische Luft schnappen wollen, weil ihm vielleicht die Decke auf den Kopf gefallen ist. Als dann aber Stunde um Stunde verstrich und von ihm nicht die geringste Spur zu sehen war, wurde ich misstrauisch. Etwas war passiert. Ich wusste zwar nicht wirklich genau, wie er hätte verschwinden können – habe ich ihm doch nie das Türe öffnen beibringen können. Auch von den Fenstern hielt er sich in der Regel eher fern. Nun hatte ich jedoch die Gewissheit, dass er abgehauen ist.
Die Situation war etwas ungünstig, da der Besitz dieses Kaimans in einer rechtlichen Grauzone lag. Mir gefällt der Ausdruck illegaler Handel nicht besonders, aber es war mir leider nicht möglich, das Tier auf rechtmässige Art in meinen Besitz zu bringen. Ich habe viele Freunde verschiedenster Art. Manchen bin ich bis heute noch ein oder zwei Gefallen schuldig.
Aber darum geht es nicht. Mein Haustier ist verschwunden, und ich möchte es wiederhaben. Nachdem ich alle möglichen Optionen abgewogen hatte, rief ich meinen Bruder an. Er war Journalist bei einer
renommierten Wirtschaftszeitung, hatte also mit dieser Lokalsensation kaum was am Hut. Ich fragte ihn, ob er am Nachmittag Lust hätte, mit mir an den See zu fahren. Mit dem miefigen Brummen in den Hörer hatte ich in etwa gerechnet. Er mochte die Sonne nicht, auch das Baden lag ihm fern. Seine Definition von einem Traumurlaub bestand darin, jedes Jahr an denselben Ort in dasselbe Haus zu fahren, jenes dann nur zum Lebensmittel einkaufen zu verlassen und dann den ganzen Tag fern zu sehen. Wenn es dazu noch zwei Wochen lang regnete, umso besser.
Ab und zu konnte ich ihn dann doch überreden, etwas zu unternehmen. Die Hitze machte ihm mehr zu schaffen als jedem anderen, den ich kenne. Vermutlich sah er ein, dass ein Sprung ins kalte Nass die einzige Möglichkeit war, um sich abzukühlen.
Wir fuhren kurz nach drei Uhr nachmittags los. Im Auto war es heiss, trotz Klimaanlage. Wir fuhren zum Parkplatz vor dem Strandbad. Die anderen Autos glitzerten in der Sonne wie feurige Metallsärge. Hoffentlich hat auch wirklich niemand seinen Hund im Auto vergessen. Manchmal liest man zu dieser Zeit auch etwas von Kleinkindern, die in der Hitze auf dem Rücksitz explodieren.
Nachdem wir den anscheinend letzten Parkplatz gefunden haben, stiegen wir aus und marschierten Richtung Parkuhr. Ich sah ein Mädchen, deren Erdbeereis so schnell südlich tropfte wie die Gletscher im 21. Jahrhundert. Zurück blieb bloss eine zuckergetränkte Waffel.
Ich sah Lukas an. Er hatte noch nichts gesagt, seitdem wir losgefahren sind. Er verzog das Gesicht, vielleicht weil er seine Sonnenbrille vergessen hatte. Er warf Münzen in die Parkuhr und wischte sich dazwischen immer wieder den Schweiss von der Stirn. Ich lächelte ihn an, er kniff aber bloss die Augen zusammen und machte eine Handbewegung Richtung Strandbad. Wir trotteten träge in das Freibad, beim Eintritt wollte man noch einmal fünf Franken von uns haben. Die Kassiererin sah müde und abgekämpft aus. Ich war froh, wenn kein aufmerksames Personal herumschwirrte, wenn ich nach meinem Liebling sah. Wobei ich zugeben musste, dass ich mich noch nicht auf einen definitiven Plan festgelegt hatte. Wenn ich ihn sehen und nur kurz fünf Minuten mit ihm allein sein konnte, könnte ich ihn davon überzeugen, zurückzukommen. Aber Lukas sollte nichts davon erfahren. Der Kaiman mochte es ohnehin nicht so gern, wenn ich mit Begleitung kam. Ich habe sowieso bisher nur meiner Mutter von ihm erzählt, und sie toleriert die ganze Sache mehr oder weniger, weil ich ihr versprochen habe, dass sie ihn ab und zu mal ausleihen darf, um die Tauben auf ihrem Balkon zu jagen.
Wir suchten uns ein halbschattiges Plätzchen irgendwo hinter den Bäumen aus. Lukas legte sich auf das ausgebreitete Badetuch und schloss die Augen. Ich griff in die Tasche, kramte nach Sonnencreme und verteilte einen Klecks nach dem anderen auf meiner Haut. Danach machte ich das gleiche bei ihm, wobei er weder zustimmte noch protestierte. Ich war ungeduldig und konnte nicht mehr warten. Hinter dem Vorwand, eine Abkühlung nehmen zu wollen, spazierte ich von den Sonnenanbetenden weg ins Ungewisse.
Ich lief vom Strandbad fort, dem Wasser und dem Ufer entlang. Meine Befürchtung war, dass er sich im Schilf versteckte, damit ihn niemand finden konnte.
Ich hörte Vögel kreischen und Kinder laut schreien. Ab und zu rief ich leise nach ihm, entschuldigte mich, falls ich ihm in irgendeiner Art und Weise Unrecht getan habe, und wartete dann wieder. Ich setzte mich auf einen Steg und wartete, bis die Sonne unterging. Mir war klar, dass ich ihn hinterher nicht mehr finden würde, wenn es erst einmal dunkel war. Daher liess ich den See keine einzige Sekunde lang aus den Augen. Weder Hunger noch Durst noch Langeweile überkam mich. Alles was ich tat war der Sonne beim Wandern zusehen und dabei nach dem Kaiman Ausschau zu halten. Meinen Berechnungen zufolge sollte mir noch ungefähr eine Stunde Sonnenschein bleiben, als der Kaiman dann tatsächlich aus dem Wasser auftauchte. Ich blieb erstarrt sitzen. Er schwamm auf mich zu und hielt am Seeufer an.
Kaimi, wieso bist du abgehauen?
Das war eine unglaubliche Sache, meinte er verwirrt, du wirst mir diese Geschichte niemals glauben.
In einer ruhigen, mütterlichen Stimme hielt ich ihn dazu an, mir doch zu erzählen, was genau passiert war.
Du hast die Tür nicht abgeschlossen, und als deine Mutter geklingelt hat und niemand geöffnet hat, ist sie schnurstracks rein und zu mir ins Bad. Sie bat mich, mit zu ihr zu kommen, da die Tauben auf ihrem Balkon ausser Kontrolle waren und der Plastikrabe, den sie aufgestellt hatte um die Tauben zu verscheuchen, bloss weitere Raben angelockt hatte, die nun bei ihr lebten und ihre Walnüsse stahlen. Ich dachte, ich will nicht unfreundlich erscheinen, und begleitete sie daher zu ihr nach Hause. Allerdings hat sie nicht übertrieben – so viele Tauben wie auf ihrem Balkon habe ich noch nie in meinem Leben gesehen. Ich konnte nicht einmal erkennen, was noch Balkon war und wo die Tauben anfingen. Dementsprechend war ich völlig machtlos. Als ich sie anschrie, sie sollen verschwinden, lachten sie bloss und schissen mir auf meine Augen. Nun war ich auch noch blind, und das einzige, das ich noch mitbekam, war wie sie mich mit ihren Dinosaurierfüssen packten und über Himmel und Lüfte hinwegtrugen, bis ich mich losreissen konnte und hier im See landete. Allerdings kenne ich den Heimweg nicht mehr. Als ich ein paar Angler fragte, machten die bloss Fotos und rannten weg.
Ich versuchte ihn zu trösten und erklärte, dass ich ihm helfen wolle, aber er tauchte bereits wieder runter und verschwand in der Tiefe.
Bevor ich nach ihm rufen konnte, tauchte aber schon wieder Lukas hinter mir auf. Sein Gesicht war rot und verschwitzt. Er trug sein graues T-Shirt und hatte orange klebrige Flecken auf der Brust.
„Ich will jetzt nachhause gehen.“
Ich hob bloss meine Schultern, ohne etwas zu sagen. Wenn er sich normalerweise dazu entschieden hat zu gehen, dann nutzte es in der Regel nichts, mit ihm zu diskutieren. Ich stand auf und zog das Kleid über, das er für mich mitgenommen hat. Nachdem ich es glattgestrichen habe, räusperte ich mich und wollte mich auf dem Weg zum Auto machen. Es war das Kleid, das ich schon lange entsorgen wollte, es war puderrosa und ich sah wie ein Schwein aus darin. Wenn mich mein Kaiman noch sehen könnte, würde er vermutlich denken, ich wäre sein Abendessen und mich fressen.
Einige Tage später lief ich an einer Zoohandlung vorbei. Im Schaufenster stand, man solle sich ein Reptil zutun, das seien Freunde für die Ewigkeit. Darunter ein Foto einer Eidechse, die im Wasser plantschte. Ich war erstaunt über dieses Zusammenspiel von Zufällen und trat ein. Hinten im Laden konnte ich einen Verkäufer erspähen. Vor ihm hinter der Glasvitrine tummelten sich Eidechsen, Schildkröten, Bartagame und Geckos. Ich marschierte auf ihn zu und erklärte meinen Wunsch. Er kratzte sich am Kopf, sagte ein paar Mal verstehe und griff dann nach einem Katalog. Er zeigte auf ein Bild. Ein so genannter Dornschwanzagame war zu sehen, der allerdings nicht einmal einen Meter gross werden würde. Ich schüttelte den Kopf. Der Haustierfachmann blätterte etwas im Buch und zeigte dann auf ein anderes Tier. Ich seufzte und runzelte die Stirn.
„Tut mir leid, das ist leider das Einzige, das wir in diese Richtung haben. Wenn Sie möchten, kann ich noch meinen Kollegen rufen, der kennt sich besser aus mit der Haltung von grösseren Reptilien.“
„Ist schon in Ordnung. Trotzdem danke.“
Die Bartagame hinter der Vitrine starrten mich mit ihren ausdruckslosen Knopfaugen an. Ich fragte mich, ob sie wohl auch lieber ein kleines Krokodil wären. Oder zumindest frei.