Carolin Wabra: Heimkommen

und ich weiß dass es dir nicht gut geht. habe es bereits gerochen als du nach hause kamst. als du in dein zimmer gingst und die tür leise hinter dir zugezogen hast.
es roch ganz süßlich im gang nach deinem parfum. aber auch nach deiner traurigkeit.
jetzt liegst du in deinem bett und hast die dunkelblau gestreifte bettdecke über dich gelegt. genauso wie die schwere des heutigen tages – ach des ganzen lebens – über dir liegt. in embryonalstellung hast du dich zusammengerollt. dein warmer bauch drückt sich an deine kühlen oberschenkel.
ich liege im zimmer nebenan. starre an die decke und kann dich leise durch die zwischentür atmen hören. gedanken rasen durch meinen Kopf. Laut, leise, dann wieder lauter als zuvor. Ich bekomme sie nicht zu fassen. Geistige Abrisse über die Zukunft, über das Scheitern, über Ziele, über die Vergangenheit, über dich, über mich. Sie lassen sich nicht ordnen. Sie glitschen durch meine Finger.
ein zimmer weiter hast du deinen laptop nun vor dir aufgeklappt. ein weiß bläuliches licht spiegelt sich in deinen augen wieder. irgendeine schöne serie schaust du jetzt. eine serie in der das leben warm ist und freunde für immer bleiben. in denen ängste keine rolle spielen und wenn dann können sie gelöst werden und dienen nur einem größeren glücklichen zweck, der in staffel 2, folge 4 auftauchen wird.
doch dieses leben ist dir genauso fremd wie mir. deine ängste sind vermutlich noch größer als meine aber du hast sie ganz tief weggepackt in die hölzerene schublade deiner kommode. dort liegen sie versteckt unter schönheitsmasken und augentropfen.
du willst dich auflösen so wie ich hier in meinem bett und ich frage mich warum wir das nicht zusammen tun. warum wir nicht beide unsere dunkelheit nehmen und auf den tisch legen. dann würde sie dort liegen. heiß und pulsierend. sie würde über die tischplatte kriechen wie eine ätzende flüssigkeit. warm und dampfend würde sie dann vor uns liegen und wir beide würden daneben sitzen und rauchen. würden uns an den händen halten und die dunkelheit betrachten.


Felix Benjamin: Scheitern als Chance

Jetzt ist Erik oben in seiner Wolke und es tut nichts mehr weh. Von hier oben ist der blaue Planet ganz klein und unbedeutend. Klein und unbedeutend ist auch die Spezies, der seine Eltern angehört. Säugetiere, die am Wochenende den Rasen mähen und den Rest der Zeit ihr Reihenhaus abbezahlen. Zwischendurch wirft diese Tierart auch mit Geschirr nach ihrem Nachwuchs, wenn der es wagt, mit den Fingern zu essen. Erik sieht sich diese Welt an wie eine Tierdokumentation. Er sieht seinen eigenen Körper im Keller seines Elternhauses auf dem Teppichboden liegen und an die Decke starren.
Neben seinem Körper steht ein stinkender Wassereimer, in den eine abgeschnittene Colaflasche getaucht ist. Auf der Flasche qualmt glühende Asche vor sich hin. Neben dem Eimer liegt Eriks Rucksack. Der ganze Rucksack ist voller Shit, den Erik heute Morgen auf dem Schulklo gegen all seine Ersparnisse eingetauscht hat. Oder vielmehr gegen alles, was er in den letzten Wochen gestohlen hat. Das Zeug soll mit Opium gestreckt sein und Erik glaubt, dass es so ist. Seit Jahren raucht er täglich Eimer, aber heute ist er so breit wie noch nie. So wie jetzt soll es für immer sein.
Vor ein paar Stunden, er weiß nicht mehr wann, denn sein Zeitgefühl hat er verloren, hatte Erik noch mit seiner Mutter zu Mittag gegessen, und sie hatte die seltene gemeinsame Zeit für ein pädagogisch wertvolles Gespräch genutzt. „Du, mein Großer, eins musst du mir bitte versprechen, ja? Wenn du mit deiner Clique auf einer Fete bist und dir eine Haschischzigarette angeboten wird, dann möchte ich nicht, dass du daran ziehst.“
Erik hatte sich große Mühe geben müssen, sich einen Lachanfall zu verkneifen, allein schon wegen der Wortwahl. Clique. Fete. Haschischzigarette. Diese Frau lebte auf einem so völlig anderen Planeten als er. Nie im Leben würde er Hasch in einer Zigarette rauchen, das wäre doch pure Verschwendung. Der Putzeimer seiner Mutter, den sie ein paar Tage verwundert gesucht und sich dann einen neuen gekauft hatte, war viel effektiver.
Erik hatte ein: „Ja, okay“ hervorgepresst. Doch der Vortrag seiner Mutter war noch weitergegangen. „Ich hab mit der Frau Reinicke gesprochen, der Mutter von der Eva aus deiner Jahrgangsstufe, und die hat erzählt, dass sie in ihrer Jugend viele Freunde hatte, die gekifft haben. Und aus keinem von ihnen ist was geworden. Die haben keine vernünftige Arbeit gefunden, keine Familien gegründet, und nichts von allem Weiteren geschafft, was zu einem erfüllten Leben dazugehört.“
Erik hätte all dem viel zu erwidern gehabt. Er hätte gern gefragt, wo seine Eltern, die 1968 in seinem Alter waren, denn diese Zeit verbracht haben, wenn sie nicht ein einziges Mal selbst Kiffern begegnet waren, sondern diese nur vom Hörensagen kannten. Und er hätte gern gefragt, ob seine Mutter ihm ihr Leben, das sie jeden Sonntag weinend in der Waschküche verbrachte, wirklich als ein „erfülltes Leben“ verkaufen wollte. Doch er hatte nur interessiert schauend genickt und „Hmm“ gemacht.
Daraufhin hatte er sich seinen Rucksack geschnappt und war die Kellertreppe runter in sein Zimmer gegangen. Bevor er die Tür hinter sich zuzog, hatte er noch das Licht im Flur ausgeschaltet. Das war deshalb überlebenswichtig, weil er keinen Zimmerschlüssel hatte. Den hatten ihm seine Eltern in der kurzen Zeit abgenommen, als er seine erste und einzige Freundin hatte. Das war gefühlt Jahrhunderte her.
Durch die opake Glasscheibe seiner Zimmertür konnte er sehen, wenn das Licht im Kellerflur anging. Dann wusste er, dass er ungefähr eine halbe Minute Zeit hatte, den Eimer in seinem Schrank zu verstecken, bevor seine Eltern an seine Zimmertür klopften. Nach dieser Sicherheitsvorkehrung hatte Erik mit seinem üblichen Nachmittagsprogramm begonnen: Stereoanlage einschalten, Eimer rauchen, auf dem Teppich liegen, zu seiner Wolke schweben. In der gleichen Zeit würde seine Mutter oben im Wohnzimmer vorm Fernseher liegen, mit den Füßen auf dem Couchtisch. Irgendwann würde die Haustür ins Schloss fallen, dann würde seine Mutter schnell aufspringen, den Fernseher ausmachen und in die Küche verschwinden, ehe sein Vater das Wohnzimmer betrat.
Später würden seine Eltern dann nebeneinander vorm Fernseher sitzen, bis seine Mutter ins Bett ging. Sein Vater würde vorm Fernseher sitzen bleiben und dort einschlafen. Sie würden es nicht mitbekommen, wenn Erik seinen abendlichen Fressfilm schob und den Kühlschrank plünderte. So war es schon immer und so wird es für immer sein, hatte sich Erik gedacht. Und das hatte er in diesem Moment so richtig geil gefunden, weil er sich auf die braunen Platten in seinem Rucksack gefreut hatte und auf die vielen schönen Wochen oben auf seiner Wolke, die sie ihm ermöglichen sollten.
Jetzt ist er schon wieder seit einigen Stunden auf dieser Wolke und mittlerweile tut`s schon ein bisschen weh, weil seine Lunge brennt. Aber es fühlt sich auch wunderschön an. Der Shit ist viel stärker als sonst. Sein ganzer Körper ist warm, es kribbelt überall unter der Haut, alle Farben um ihn herum leuchten. Er hat jeden einzelnen Ton aus seiner Stereoanlage absolut intensiv wahrgenommen, als würden die Doors live in seinem Zimmer spielen. Nein, als wäre er selbst der verdammte Jim Morrison. Mittlerweile ist die Musik schon lang vorbei, aber auch das Vogelzwitschern vor seinem Fenster klingt total geil, die vorbeifahrenden Autos, die Spaziergänger, die sich unterhalten. Was ist das doch für eine wundervolle Welt. So wie jetzt soll es für immer sein.
Auf einmal hört Erik das Klicken des Lichtschalters am anderen Ende des Flurs, und tatsächlich, als er zur Tür schaut, sieht er, dass das Licht angegangen ist, und er hört Schritte auf der Treppe. Scheiße. Er muss aufstehen, er muss den Eimer im Schrank verstecken, er muss den Rucksack verstecken, damit sein Haschvorrat nicht entdeckt wird. Doch es geht nicht, es geht kein Stück. Sein Körper ist zu schwer, er kann sich keinen Millimeter bewegen.
Er will alle Kraft zusammennehmen, doch da ist keine Kraft, gar keine. Der Teppichboden zieht ihn an, zieht ihn nach unten. Die Schritte kommen immer näher. „Warum riecht`s hier nach Rauch?“ hört Erik seinen Vater sagen und sieht seine Silhouette durch die Glasscheibe. Scheißescheißescheiße. Erik sieht noch, wie die Türklinke nach unten gedrückt wird, bevor sein Körper im Boden versinkt.


Fabian Lenthe: Karl scheitert

Karl scheiterte. Er scheiterte im Sportverein, in der Schule, im Job, in Beziehungen. Dafür musste man gar nicht so viel tun als gedacht. Eigentlich reichte es völlig nichts zu tun, das war mehr als genug. Scheitern ist die Königsdisziplin, dass wusste Karl. Darin konnte man erfolgreich sein, ohne etwas leisten zu müssen. Die Gewissheit ist das Beste daran. Karl konnte nichts verlieren, weil er nie etwas gewann, von Wettkämpfen hielt er nichts. Etwas in eine Vitrine zu stellen, damit es verstaubt, erschien ihm unlogisch. Das Scheitern war da schon verlockender. Wenn man es richtig anstellte, konnte man sogar etwas gewinnen. Als Karl acht war, scheiterte er als linker Verteidiger bei einem Fußballspiel. Die Mannschaft verlor das Spiel, und Karl musste nie wieder ins Training. Bei der Aufnahmeprüfung für das Gymnasium, lag er ein paar Kommastellen unter dem Schnitt. Er ging zurück auf die Hauptschule und lernte sich zu prügeln. In der Ausbildung, scheiterte er sogar zweimal. Vier Jahre waren vergangen, er wurde volljährig, lernte ein Mädchen kennen und zog mit ihr zusammen. Nach zwei Jahren trennten sie sich, aber Karl behielt die Wohnung. An das Scheitern gewöhnte sich Karl, es hatte seine Vorteile. Es war eine Konstante, die ihm treu blieb. All die Jahre, wusste er nicht was er vom Leben wollte, aber zumindest was er nicht wollte.