Jone Engel: Gedanken über Märchen

Märchen sind wieder im Kommen, hieß es vor ein paar Jahren.
In Nürnberg gibt es sogar mindestens eine Märchenerzählerin.

In der Pandemie ist sie wohl nicht verfügbar. Märchen, mit Maske vor Mund
und Nase erzählt, sind wahrscheinlich ziemlich unglaubwürdig.
Ich bin mit Märchen aufgewachsen und liebe Märchen. Meine Oma hat mir -als Kind, als ich krank war- einen ganzen Nachmittag lang Märchen vorgelesen.
Bis ihre Stimme heiser war. Ich bat sie um noch eins und noch eins… 
Es ging mir natürlich um das Hören der Geschichten – und sicher auch darum,
dass meine Großmutter in meiner Nähe war und blieb…

Auch in meinen erwachsenen Jahren haben mich Märchen begleitet.
In meinen Psychosen, so behauptet man, würde ich in einer Märchenwelt leben.
Und mein englischsprachiger ehemaliger Verlobter meinte nüchtern, das Leben wäre kein „Lala-Land“.

So grausam wie in einem blutigen Märchen ist unser deutscher Alltag nicht. Nicht mehr. Wirkliche Grausamkeit spielt sich oft lediglich subtil, in der den Blicken verborgenen Psyche – und in fernen Ländern, woanders ab. Was die Grausamkeit nicht wirklich leichter und erträglicher macht. Es scheint auch nicht mehr am Ende der Lebensgeschichte ein Happy End zu geben.

Ich möchte einmal ein richtig gutes Märchen schreiben. Vielleicht sogar eines, was heutzutage stattfindet.
Es gibt keinen Platz mehr für Märchen in unserer sachlichen, wissenschaftlich geprägten Welt und Gesellschaft. Da geht es um Leistung und Ellenbogen-Mentalität. Nur den Kindern räumt man gnädig das Recht ein, an Märchen glauben zu dürfen. 

Irgendwie hat es sich – für Erwachsene zumindest – ausgemärchelt.

Der Spruch von Oskar Wilde: „Am Ende wird alles gut, und wenn es nicht gut ist, ist es auch noch nicht das Ende“ gibt mit Halt und Hoffnung, wenn das Märchen versagt.

Katja Schraml: Ich nähe 1 Kopf an den Mantel

„Später stürzte er sich in seine Reinschrift.
Es wurde Abend. Morgen früh würde es sich ja zeigen,
ob er eine Kraft oder eine Null, eine Intelligenz
oder eine Maschine, ein Kopf oder ein Hohlkopf sei.
Für heute war es seines Erachtens nach genug.“

Robert Walser. Der Gehülfe

Neulich kam der Winter ins Land – man hat gar nicht mit ihm gerechnet <klimaneutral>. Da sperrt ich den Schrank auf, wo <komme, was Wolle> das gefriertauglich gewebte Einwickelgarnmaterial, das <Schal Schuh Chapeau> uns auf den Stadtstraßen schützt vor dem Kalthauch der Menschenköpfe.

1 Halsrheumatismus kriegt man nicht nur vom Grübeln …

Der Nacken dient uns als Gradmesser für die Kälte des Zugs. Es dauert nicht lang, bis der Hals wechselt von starr auf steif. Da muss man frühzeitig entgegenwirken – wenn der Wind erst im Land, fegt er rau übers Pflaster, da brauchts 1 guten Stand.

Da sperrt ich den Schrank auf + kramte in Winkeln, ihr wisst schon, wo man sonst nicht gern hiRnlangt, da hab ich zwischen Schund+Schmutz (Schmuddel+Schnulzen) den Schutz verpackt, weil ich mich ohne warm+sicher fühlte allein. Da holte ich den Mantel raus, klopfte ihn ab, schlüpfte hinein + stellte mich vor den Spiegel.

Jeden Tag 1 Selfie = sich selbst auf dem Laufenden sein.

Da war der Kopf los. Weg aus vorbei. Nur keine Panik!, denk ich, den finden wir schon. Wär ja gelacht.

Jaja.

Zwischen engagiert+enragiert den ganzen Tag hypertoniert … Winkel durchwühlen, Ecken eruieren, nachschauen in Nischen: nichts. Hab ich ihn verloren?

Abgefallen ist er mir wohl. Lose_gelockert entschwunden. Denn hätt eine_r ihn abgerissen, hätt ichs gemerkt. Da war aber, glaub ich, keine Gewalt am Werk. Kein Zerren Ziehen + Zwiebeln. Liegen lässt man sowas nicht. Oder doch? Haben wir unseren Kopf verschusselt verbummelt vertüdelt?

Was machen wir nun? Wo kriegen wir 1 Kopf zum Mantel überm Körper her? Lassen können wirs so nicht, fällt ja gleich auf. Wir müssen 1 finden, der zum Rest passt.

Wie soll das ausschauen?

Rund muss er sein. Ohne Ecken+Kanten. Soll ja nicht stören, nicht auffallen blöd. Schwarz soll er sein, selbiger Grund. Neon ist nicht unser Ding. Matt könnt er sein. Vom vielen Gebrauch glänzt er bald sicher <Patina> allein.

Amazing sur_face must-have used look.

1 Druckkopf vielleicht, der schön+schnell schließt. Der wehrt sich nicht lang. Man muss nicht viel anpassen einfädeln durchösen, der reagiert sofort. Mit genug Kraft ist er mit 1 Klick zu. Braucht man nicht mal 2 Hände.

Abers passt nicht so recht. Der Druck ist zu laut. Wir mögens, wenn sichs geräuschlos schließt. Geschickt sind wir ja, Gespür in den Fingern ist da – kein Zeichen von Glieder Gelenk Gichtschwierigkeit –

kein Dupuytren Raynaud Quervain Syndrom –

nur kalt sind die Hände oft – taub über Nacht. Mit Auf+Zuköpfen bleiben sie in Bewegung.

1 runden mattschwarzen Kopf mit 6 Löchern zum Ein+Ausfädeln. (1 siebtes gäb Sinn.)

Wo krieg ich den her? War da keiner im Futter <Ersatz>? Vielleicht haben wir irgendwo 1 übrig. Im Nähzukasten 1 Gratisexemplar? Nein. Aber …

Im Keller, ihr wisst schon, in 1 Kiste, liegt noch 1 altes K_leid. Das haben wir aussortiert, weils uns zu eng. Wegwerfen konnten wirs <K_leider_sammler_in> nicht. Der Stoff ist noch gut, da ist viel Erinnerung drin verwoben. Nur der Schnitt ist veraltet, das trägt heut keine_r mehr (auf). Da hängt noch 1 Kopf dran, den keine_r mehr braucht. Das zieh ich heraus.

Wie bringt man den Kopf an? Fest sicher Halt: Dass er nicht wieder fehlt fällt herab. Was braucht man für Werkzeug? Wie tief sticht die Nadel? Wie stark muss der Faden? Soll er vielleicht rot?

Wer hat uns das Nähen gelernt? <Flick Stopfen Strumpf.> Mit stumpfen Spitzen gegen plastische Kunsthüte auf zarten Kuppen. 1 Talent allein hilft uns wenig. 1 Bildung tut Not.

Doch den Kopf vom Kleid abschneiden, um ihn an den Mantel zu schneidern, will mir nicht von der Hand. Bevor ich mich vertu unds nicht richtig hinkrieg, der Kopf schwer_fällt übern Boden unters Bett rollt, wo keine_r hinkommt

(da liegt noch 1, ich weiß – der ist aber zu klein),

lass ich den Kopf dran + zieh das Kleid an – unterm Mantel merkt mans vielleicht nicht, dass passen+hineinpassen 2 verschiedene Maßangaben sind.

Was für 1 Fetzen! Verwaschen+zerrissen <kachektisch>; wos nicht spannt über BauchBeineBrust, leierts aus. Der Kopf sitzt nicht schlecht, wenn auch nicht sicher, den müsst man verstärken. (Haben wir noch 1 grünes Tuch?) Bestimmt hält er nicht lang, irgendwas, sagt das Spiegelbild, stimme nicht recht. Kleid Kopf + Mantel seien nicht ganz 1/1 ganzes ICH.

Das schlimmste ist nicht, wies (heute) aussieht. Sondern, an was (sich) der Kopf (mich) erinnert. Alte Zeit, wo alles schwer, müßig+leid. Es hilft alles nichts. Das Kleid muss jetzt weg, mit dem Kopf kommts zusammen in 1 Wegwerfwurfsack. Und nicht mehr hinunter in diesen Keller → hinaus in die Tonne schmeißen wir das.

Doch bevor wir da rauskönnen, brauchen wir 1 gescheiten Kopf. Und keinen vom Straßenrand mehr aufgelesen, nichts reduziert oder Gut_schein wie günstig. Schluss mit der Mesquinerie! Wir brauchen 1 Kundenkarte, um unsere Vorteile genießen zu können.

Ich bitte dich! Was?!

Janein stimmt hast du Recht. Bloß keine Massenware, uns interessiert nur, was l_imitiert. Wir kaufen Qual_i_tät exklusiv Luxusobjekt …

Ja sind wir denn 1 MoERdeRpuppe?

Vielleicht doch lieber old school <Bastlwastl>: malen falten + kneten.

Das hamwa doch imma so jeane jemacht!

Und dann siehts aus wie selbstgemacht. Gekonnt bis gewollt …

Suchen wir doch den alten Kopf wieder? Gehen wir hinaus, laufen die Wegstrecken ab? AlleE die Jahresgänge? Vielleicht hat ihn schon jemand (1 Josef) gefunden, mitgenommen + aufgesetzt. Vielleicht wurd er überfahren. Als Fußball benutzt in 1 Netz gekickt.

Vielleicht liegt er, bis wir 1x an die VerlustVerlierStelle kommen, längst im Lande des lost+found?

Ich nähe 1 Kopf an den Mantel, damits nicht auffällt, dass da 1 Körper lose wankt durch die Welt, der nicht weiß wohin. 7 Sinne geb ich ihm zum Gespür. 

Immer 1-2 mehr als nötig.

(Wer weiß, ob der Leib das, wenn er sichs aussuchen könnt, hätte gewollt – der hat doch am Tasten genug).

Ich nähe 1 Kopf an den Mantel, fragt mich nicht, woher ich den hab. Er passt wunderbar zum Körper unterm Umhang, wenn man davon ausgeht, dass Minus+Plus zusammengehören.

[Nur unter uns: Ich hab 1 paar Bücher <ausgelesen> in Wasser geWeicht, zusammengekleistert, gekugelt so gut wies geht (ganz rund wirds nicht). Natürlich ists feuergefährdet, das sind wir nunmal <attestiert traum_atisiert>. Wir halten uns besser mit AbisZ <Aggression Wut + Zorn> zurück, entzünden darfs nicht. Zweidrei Schwarzstriche+Silbersträhnen, so sollts gehen.]

Luftig locker + leicht ist mein neuer Kopf, gut gefüttert, darauf geb ich Acht: Wissenschaftsmacht.

Doch kaum ist der Kopf dran, hab ich den Mantel an, redet er mir was hinein. Ich soll ausm Fenster schauen, draußen der Himmel wär blau, was ich den Wollsack bräuchte <Umgang statt Umhang.> Und außerdem: 1 Kopf wie er würde nicht an Krägen vernäht, sondern <just in a second> extrahaftstark mit dem Hals verklebt. 1 Mantel, man schaut kaum, reißt schnell mal entzwei, da baumle der Kopf am Kragen herab. Gescheiter wärs, wir trögen träg trügen ihn selbst.

Der Kopf ist nicht dumm. Seh ich den Himmel an, seh ich, wie recht er hat, ganz schön <schLau> blau. Vielleicht kommt noch 1 Frühling <how unexpected!>, der letzte war schlampig+grau. Wenn ich mich trau?

Jahrelang haben wir Pandoras B. tiefhintenunten im Schrank verschlossen. Stell dir vor, wir merkten beim Rausholen+Öffnen, swar gar nichts drin?

Also zieh ich den Mantel aus, trenne den Kopf ihm ab, kleb ihn mir auf. Sieht nicht schlecht aus. Jetzt brauchen wir noch 1 ÜberAnzug. Ich hol uns die Schuhe für Schnelllauf und 4bis5 Teile Funktionsmaterial. <Schwurwolle, ich komme!> Wenn wir uns zügig bewegen, brauchen wir auch keinen Stehkragen, nur 1 Tuch, das den Atem uns schützt, und 1 für den Kopf – kühl bleibt nur die Stirn. Der Rucksack natürlich <survival extrem> → das nenn ich Aus_Rüstung. Alles scheint sicher, tüchtig, perfekt.

Da pochen <Schlag artig! Blut_Ader> dem Kopf beide Schläfen, schwindelt uns der was vor? Die Stirne ganz faltig, die Wangen so blass, die Schatten schwarz unterm Lid. Ich muss ihn kurz halten, sanft massieren, einölen vielleicht, damit, was noch rissig, schon bald geschmeidig. Was hat er denn jetzt?

Da schüttelt der Kopf sich. Er würde ja mitgehen, gar kein Problem, abers wär vielleicht <tRaukopf> endlich die Zeit für 1 Spazierlustwandelkleid. Unsere Lederhaut, meint er, als ob er uns kenne, sei genug gegerbt + bereit für den Wind in der Welt.

So schlau er auch ist, für klug halten wir ihn nicht. Wir schütteln+ziehen, anspannen+lockern: Janein, der sitzt fest. Den verlieren wir nicht. Den Kopf reißt uns keine_r mehr ab.

Nun gut, hab deinen Willen. Im Schrank hängen ja auch Aus_Geh_Gewänder. 1 werfen wir über, sfällt uns ganz leicht. Vielleicht ist der Kopf doch ganz gescheit. Wir packen die Tasche, schlüpfen in Schlappen, so schlieren schlenz schleufern wir durch die Welt.

Der Kopf ists zufrieden, heut wär so 1 Tag. Wir nicken uns zu. Nun gut, lieber Kopf, bleib mir erhalten haftbar + treu, wenn ich dir schon nachgebe nachgehe. Wie sollts anders sein, 1 Sturkopf zum Starrhals, so mussts sein. Denn mal los, lieber Trotz_, denn man tRau.

Harald Kappel: Intrauterine Märchen

nicht schuldig
spucke ich 
das Attentat
lässig
eine bedauerliche Hysterie
lebenslang
lese ich nun
im Käfig
im Kinderbuch
intrauterine Märchen
verfluche am Telefon
locker
die Opfer
den symmetrischen Abdruck
ihrer Brandblasen
lebenslang
wachsen mir
selbstunähnlich
Flügel aus Chitin
und Pathologien im Schädel
manchmal
häute ich mich 
lässig
eine bedauerliche Hysterie
mein tüchtiges Ich 
nicht schuldig
lebenslang

Zeha Schmidtke: Das Märchen von der Ameise und der Grille und ihrem gemeinsamen Feierabendpilz

Eine Grille hatte den ganzen Sommer über musiziert, während die Ameise für den Winter Getreide sammelte.

In Wahrheit nun taten es beide längst schon im Gefühl des zeitlos Immergleichen. Zu jeder Zeit und an allen Orten waren sie verfügbar für Königin und Publikum. Die Ameise durfte ihre Königin sogar duzen und fuhr mit ihr auf teambildende Erlebniswochenenden. Die Grille fiedelte auf den Bällen ihrer vermögenden Fans lustig zum Buffet. Selbst wenn sie insgeheim so manches Mal alledem schrecklich müde waren: Solange sie gebraucht wurden, konnten sie nicht untergehen im Mahlstrom des Weltengewimmels. So war ihr Glaube, und er stand fest.

Da aber kam ein Virus in die Welt, angsteinflößend unbekannt. Bilder von Toten und atemlos Kranken machten die Runde, und Sorge fuhr in alle Glieder. Das Leben blieb fortan daheim. Die belebten Plätze waren’s nimmermehr. Selbst im Ameisenhaufen wimmelte jede nurmehr noch für sich, allein in ihrer kleinsten Zelle. Und das Rad des Alltags, das niemals stillgestanden hatte, kam so schnell zur Ruh, dass jede Kreatur sich ungläubig die Augen rieb. Hatte es nicht immer geheißen, dass sein Schwung auch die Welt in Drehung hielt? Zum ersten Mal herrschte die Stille, und sie summte in den Ohren, als wären alle Nashornkäfer zugleich auf Paarungsflug.

„Nun also“, sprachen Grille und Ameise gemeinsam, „ein Neues ist ja stets auch Chance. Lasst uns fürs Erste Vorräte ausgeben; wir sind hier ja beileibe nicht arm.“ Als nun aber die Säcke zu den Wartenden gebracht wurden, da blieb’s doch wieder recht beim Alten: Wer vorher schon sehr viel besaß hatte, erhielt nun viel zum Ausgleich. Wer vorher aber wenig hatte, dem wurde nun noch weniger zuteil. „So hat es für alle einen Verzicht“, erklärten die Ameisen von der Ebene Verteilung, „und so sind wir es auch gewohnt. Wir wollen ja schließlich, dass es weitergeht.“ Da kam über die kleinste unter den Grillen ein bergegroßer Zorn. Sie hatte stets allein musiziert, in den allerkleinsten Ackerfurchen, wo immer man sie nur ließ, doch stets im Geiste für alle. Und alle wussten das, dessen war sie gewiss. Doch nun hatte man ihr aus dem Vorrat grad mal einen freudlosen Klumpen Hartz zum Mümmeln zugedacht. „Ging Euch Euer täglich Tun im Takte meiner Melodien nicht leichter von der Hand?“, fragte sie mit bitterer Zunge. „Und habt Ihr Euch nicht meine Verse vorgetragen, wenn Ihr von Liebe spracht? Und wenn mein Lied dann lief und ohne jeden Cent, spracht Ihr dann nicht: Sie spielen unser Lied?“ „Jawohl“, riefen da alle Grillen zum ersten Mal gemeinsam, „wir füllen Eure freie Zeit rund um die Bullshit-Jobs mit Poesie und Rausch. Mit Hoffnung, Sehnsucht, Lebenssinn. Wenn wir nicht wären, hättet Ihr längst vergessen, dass es das Streben nach dem Schöneren gibt. Wo hat es noch Momente, die nicht zweckgebunden sind? Nur in der Kunst und nicht in Eurem Alltagsleben! Und ist Euch das so wenig wert? Wollt Ihr all das schlicht verlieren? Es wird ein böses Ende nehmen, wo es den Freigeist bräuchte und doch die Krämerseele federführt.“

Diese Worte aber weckten in der mittelmäßigsten der Ameisen eine unbezähmbar speiende Glutwut: „Warum denn sollen wir Eure Künste höher preisen, als Ihr es selber tut? Ihr stellt Euch doch auf jedes Brett und unter jedes Licht, wenn man Euch nur ein Publikum verspricht. Und als das Virus kam, habt Ihr da nicht höchstselbst all Eure Kunst gleich online preisgegeben, bevor man auch nur Lockdown sagen konnte?“ – „Und gab es Elend vielleicht früher nicht?!“, führten es die anderen Ameisen eifrig weiter. „Gab’s vorher keine, unter Euch und unter uns, die still und heimlich längst schon nur am Krümel Hartze nagten? Habt Ihr die aufgefangen? In ebendieser Solidarität, nach der Ihr jetzt krakeelt, da es nun auch die Lauten von Euch trifft? Freilich, der Mensch ist so, dass ihm erst eignes Elend als unerträglich scheint. Doch sagt Ihr ja, dass ihn die Kunst verändern kann. Wo sieht man das bei Euch? Was ist denn die Lobpreisung Eurer hehren Kunst noch anderes als Preisen heiliger Ablassware? Spirituelle Krämerseelen, die Ihr seid, habt Ihr an dieser Welt genau so mitgewirkt.“      

Wild fuchtelten Insektenbeinchen durch die Luft und vor den starren Augenpaaren. Ameisenpiss schoss durch die Luft, man hörte Grillenzangen schnappen, und Kampfeshass nahm schnell Gestalt. An Mindestabstand dachte niemand mehr.

Da trat ein seltsam Wesen zwischen sie in ihre Mitte, von platter Art in der Gestalt und sprach über das heiße Schwirren: „Hört, hört. Ihr kennt mich gut. Mein Name ist in aller Munde. Ich bin die Wanze Systemrele und ohne Neigung zu einer Partei. Drum lasst Ihr mich im Ring hier richten. Für meine Arbeit will ich nichts. Es reicht mir, dass Ihr aufeinander schlagt. Denn so erkennt Ihr an, dass es auch weiterhin so bleibt. Und ich mich an Euch laben kann, was Wanzen nunmal tun, hurra, die Runde Eins.“ Und dann, schon gar so kurz vor Zwölf, dass es niemand mehr glauben könnte, wenn das hier nicht ein Märchen wär, da kam Moral in die Geschicht’ – und zwar vom Grunde her. Der Boden öffnet sich und spricht: „Das, was Ihr Boden nennt, auf dem ihr kraucht, bin alles ich. Ich bin der Pilz, der größte, ält’ste Organismus hier, ich muss jetzt schließlich sprechen. Weil Ihr nun nicht erkennen könnt, dass Euer Unterschied Ergänzung heißt. Dass es das Spiel und seine Wartung braucht. Das Daheim und das Wolkenkuckucksheim. Die Wild- und die Geborgenheit. Ameisengrillen in der Welt, mit ernstem Spaß. Sonst wird das nix.

Nun hatte ihr ja so viel Zeit, Ihr Evolutionierten, dass es heißt: Es ist schon nix geworden. Mein fungizider Vorschlag also, gutes Ende, das noch kommen kann: Ihr macht nun einfach alle weiter. Oder auch nicht. Macht’s, wie Ihr wollt. Und ich wachse gemächlich drüber. Und füge uns zusammen. Zu der Gemeinsamkeit, die Ihr alleine nicht schafftet. Das tut nicht weh und kostet nichts.“

Und seitdem ist es also so. Wir machen weiter oder nicht. Und Pilz gibt uns die Sporen. Denn jener Virus, vom dem hier zu sprechen war, das ist nicht dieser aus dem Hier und Jetzt. Nein, die Geschichte ist schon eine Weile her, wie jedes Märchen. Und heut ist längst schon mittendrin im Einigwerden. Du kannst den Hautpilz gern noch einmal niedersalben, auch am Fuß. Auf die paar Tage kommt’s nicht an.

So gibt es dann zum guten Schluß, zum Feierabend Pilz für Dich, mich, jede, jeden. Und wenn wir nicht gestorben sind, sind wir dann endlich alle einig eins.

Steffen Diebold: Die Nixe vom Neckar

In Ufermorast
ein Bein vertreten
Ostwind hustete
hinter die Ohren.

Der Salix Haare
hingen im Fluss lag
ausgeweidet die
Kette der Kähne.

Auch den letzten Tag
sinnlos verbummelt
taumelten wir in
ihr nachtblaues Kleid.

Steffen Diebold: Burg Azilun

Über Stock und Stein
stolpert Frau Holle
flittern Glasnadeln
in Dezemberlaub.

Längst ruiniert als
Kalksteinbruch dämmert
auf Grat und Kamm sie
zwischen Bergspitzen.

Reifnebel sintern
von fern funkelt ein
kalter Stern scharf wie
die Tellermine.

Harald Kappel: Siebenmeilenstiefel

die Sprache
im Wald aussetzen
Kieselsteine fallenlassen
den Weg mästen
schnell schnell
in die Zukunft ausschreiten
viele Leute sagen
ihre Stiefel kneifen
die Verfolgung der Oger
unmöglich 
lieber die Nachtmütze schlachten
eine Kinderschar zeugen
das Siedfleisch heranziehen
das Denken
im dunklen Fluß aussetzen
Brosamen fallenlassen
dicke Vögel mästen
am Staudamm
schnell schnell
in die Vergangenheit abtauchen
viele Leute sagen
ihre Schwimmflügel schmelzen
das Erreichen des Glücks
unmöglich
lieber das Atmen einstellen
die Kinder zurücklassen
das Siedfleisch erhitzen
sich selbst abkochen
und
die lästige Gegenwart
verdunsten

Daphne Elfenbein: Das Märchen vom Waldbaden

Es war einmal eine Elfe. Die lebte auf einem Baum. Der Baum stand mitten im Wald der im Sommer herrlich nach Zedernholz roch und im Winter nach  dem feinen Moder gefallener Nadeln.  Die Vögel begannen im März ihr Konzert und im Herbst zogen sie in lärmenden Schwärmen über die Wälder  hinweg.  

Gerne ließ sich die Elfe an sonnigen Tagen in einer Astgabel zum Mittagsschlaf nieder. Dabei ließen die Schatten der Äste im Wind Sonnenflecken auf  ihrem Gesichtchen tanzen. Den Winter durchschlief sie meist in einem hohlen  Stamm, der an einem Bach stand. Erst wenn es kalt wurde, verschwand sein  liebliches Gluckern und Plätschern unter starrendem Eis. Doch wenn die ersten  Rinnsale sich wieder lösten und die Vögel zurückkehrten, putzte die Elfe ihre  Flügel und flog übermütige Kreise und Schleifen um Blumen und Bäume herum. 

Da kam eines Tages ein großer alter Elch und sprach: Kleine Elfe. Komm in die  große Stadt. Dort wartet ein wunderbares Leben auf dich. Du kannst arbeiten  und Geld verdienen und wohnst in einem schönen Haus und am Wochenende  gehst du ins Kino. Schau. Ich selbst arbeite schon lange bei einer Bank und habe  Geld auf dem Konto für das ich mir alles kaufen kann: Elchkühe, Zähne, Häute,  Wassertränken aller Art, und im Winter gibt`s heiße Kastanien. Gibt es auch  Elfen in der Stadt?, fragte die Elfe und zirbelte mit den Flügeln. Sehr wohl, sagte  der Elch: Viele interessante Elfen. Du wirst staunen. Ach ich weiß nicht recht,  murmelte die Elfe, und wippte im Takt ihres Herzschlags davon.  

Des Nachts konnte die Elfe nicht schlafen. Zu schön klang das Leben, das der  Elch ihr vorgemalt hatte. Und hatte sie selbst nicht längst genug von dem ein samen Leben im Wald? Es wurde Herbst. Es wurde Winter. Und immerzu dach te die Elfe an die Worte des alten Elchs. Arbeit,  

Geld, Kino, viele aufregende Elfen… Es war an einem Novembertag, an dem sie ausgiebig ihre Flügel putzte, Nüsse und Honigwaben sammelte und zum hohlen Baum trug zur Vorbereitung auf den Winterschlaf. Doch diesmal war der Baum besetzt. Ein dicker fetter Dachs machte sich breit in ihrem Winterdomizil. Hau ab, grunzte der nur und drehte ihr sein Hinterteil zu. Jetzt reicht`s mir aber, sagte die Elfe und schmiss ihre Sachen hin. Denn mit dem Dachs wollte sich keiner im ganzen Wald anlegen. Ich geh in die Stadt, rief sie, jawohl! Und schon packte die Elfe ihr Bündelchen und flog mit ihren frisch geputzten Flügeln in die Stadt.  

Als sie klein war, hatten ihre Eltern sie oft mit dorthin genommen. Damals hatte  sie ihren Elfengeschwistern alle alle Reklameschilder vorgelesen, an denen sie  vorbei geflogen waren. Die Elfe konnte nämlich lesen. Und nun war die Elfe  schon groß und flog ganz allein in die Stadt. Als Erstes ging sie zur Bank. Die lag direkt neben der Börse: Bitte, ich möchte Herrn Elch sprechen, sagte sie zu der  Frau am Schalter, die sie verwirrt anschaute. Dann drehte sie sich um und rief  zu ihren Kolleginnen: Schaut mal! Eine Elfe! Eine Elfe! Die Anderen eilten herbei  und riefen: Ja dass es so etwas noch gibt. Aus dem Wald, rief eine. Was? Gibt es  noch Wald?, fragte eine. Und da kam auch schon der Herr Elch im feinen Anzug  aus dem Backoffice: Ja guten Tag liebe Elfe. Ich freue mich, dass du zur Vernunft  gekommen und in die Stadt gekommen bist. Endlich, rief er und breitete die  Arme aus. Die Elfe flatterte auf seine Schultern. Zeigst du mir wohl, wo mein  Baum ist?, und Ihre Flügel summten. 

Und so kam die Elfe in die Stadt.  Der Herr Elch zeigte ihr einen unbewohnten Dachsbau in einem Mietshaus, einen Laden, in dem es Honig und Nüsse in Gläsern und Plastiktüten gab und ein Büro, wo sie jeden Tag hingehen musste zum Geldverdienen. Letzteres leuchtete ihr zwar nicht so ganz ein. Doch der Elch versicherte ihr, das habe schon alles seine Richtigkeit. Jeder müsse sich nützlich machen. Aha, meinte die Elfe und nickte vage.  

Und so zog sie ein in einer kleinen Betonschachtel und ging täglich ins Büro.  Eines Tages aber lief ihr der Dachs über den Weg. Tollpatschig strollte er über  die Straße und ein Mercedes machte eine Vollbremsung direkt vor seinem fet ten Hinterteil, das jetzt noch fetter geworden war. Die Elfe blieb stehen: Was  machst du denn hier? Nu nä, grunzte der Dachs, das mit dem Wald war nicht  mehr so mein Ding. Man wird älter… außerdem hab ich einen Job bei der Börse  bekommen. Die Elfe legte das Köpfchen schräg an den Flügel und überlegte: Ja,  eigentlich… das mit dem Wald war auch für mich nicht mehr so… 

Und so nahm das neue Leben seinen Lauf. Sie fuhr U-Bahn. Sie fuhr im Bus. Sie  kaufte hinter großen Glasscheiben allerhand ein, und am Samstag ging sie ins  Kino. Alle anderen Tage flog sie in einem Büro herum und trug auf ihren dünnen  Ärmchen Papierstapel hierhin und dorthin. Sie tippte schwarze Buchstaben auf  einen weißen Bildschirm, von dem ihr die Augen brannten. Sie lernte, dass ihre  Arbeitskollegen alle so taten, als seien sie keine Elfen. Denn sie waren nie zum  Spielen aufgelegt. Immer guckten sie ernst und streng und schüttelten missbilli gend den Kopf, wenn die Elfe jubelte, weil draußen Blütenstaub in unsichtbaren  Wolken durch den Äther stob.  

Es ging nicht lange und die Elfe wurde krank. Sehr krank. Immer war sie müde. Und nie hatte sie Lust zu irgendwas. Sie fing an komische Sachen zu machen: dass sie immerzu gegen die Wand flog in ihrem Zimmer oder Nächte lang mit hohem Flügelschlag an der Decke neben der Lampe hing wie ein gefangener Nachtfalter. Es wurde so schlimm, dass sie sterben wollte. Der Herr Elch sagte, nimm eine Aspirin, und geh zum Arzt. Der Arzt betastete Panzer und Flügel der Elfe und befand: Eigentlich bist du ganz gesund. Das ist bestimmt psychosomatisch 

Ich gehe zurück in den Wald, sagte die Elfe zu einer Nachbarelfe. Das ist mir alles zu komisch hier. Ich will nach Haus. Es war schon  wieder Frühling geworden und sie vermisste so sehr das Gluckern des Baches beim hohlen Baum, den Duft der Schneeschmelze und der ersten Veilchen. Be stimmt ist mein Baum jetzt wieder frei, dachte sie, packte ihr Bündel und flog  zurück in den Wald.  

Aber ach! Der ganze Wald war gerodet. Ihr Baum war nicht mehr da.  

Der Bach war begradigt und verlief unter der Erde. Sie musste das Ohr fest an die Erde pressen, um ihn zu hören. Der hohle Baum fehlte gänzlich. Die Erde war aufgeschürft wie eine einzige große Wunde. Oh weh! Rief sie, wo ist mein Wald? Wo soll ich jetzt hin? Im Torkelflug landete sie wieder vor der Haustür ihres Mietshauses. Ja hast du denn nicht die Zeitung gelesen?, fragte der Elch. Es ist doch allgemein bekannt, dass die  Bank den Wald roden lässt. 

Es ist eben der Stress, das Wetter, die Jahreszeit, sagte der Doktor, der am  nächsten Tag ihr rasendes Herzchen abhörte. Dann setzte er sich hinter seinen  Schreibtisch und holte den Rezeptblock aus der Schublade. Ich verschreibe dir  Waldbaden, sagte er.  

Waldbaden? Fragte die Elfe und schüttelte den Kopf.  

Du weißt nicht was Waldbaden ist?, fragte der Arzt, du bist doch eine Elfe. Ja ja, meinte die Elfe, und ließ den Kopf hängen.  

Waldbaden beruhigt, sagte der Doktor. Und Ruhe ist, was du jetzt brauchst.  Dann gab er ihr noch eine CD mit Vogelstimmen. Da, die musst du jetzt jeden  Abend zum Einschlafen hören. 

„Waldbaden ist gut gegen Krankheiten aller Art“, stand in dem Prospekt der Krankenversicherung. Die zahlte von nun an für das regelmäßige Waldbaden. Dazu musste sie lange im Zug fahren. Dann stand sie auf einem Parkplatz in einer großen Gruppe von Elfen auf Krücken, an Rädern, hustend, bleich wie der Tod. Die Elfe selbst war nur noch Haut und Knochen, winzig und blass mit durchsichtigen Flügeln. Der Waldtherapeut schnallte ihr einen Rucksack auf den Rücken. Ein Experte hielt den Neuankömmlingen einen Vortrag: Dieser Badewald gehört der Elch-Bank und ist zertifiziert wegen seines hohen Gehalts an Zedernöl. Hier liegt im Übrigen auch der Ursprung der Elfen! Am Bach könnt ihr das heilsame Plätschern des  Wassers hören. Aber ihr müsst immer auf den auf den vorgezeichneten Wegen bleiben…