Jan Bratenstein & Jonas Hauselt: Fässerfass

Sehn Sie hier mein Fässerfass!
Kein Fass is besser als wie das.
Es fasst vierzig Fässer,
kein Fass is besser.

Bieten Sie mir einen Boddich an,
Sag ich nur: „BRAUCH ICH GAR NICH, MANN!“
Denn ich hab mein Fässerfass.
Außen trocken, innen nass.

Margit Heumann: Für den Wald ins Feld ziehen

Ich träum, ich steh im Wald. In meinem Sommerwald mit dem Duft nach Harz und Tannen und Hitze und Pilzen und Moos. Kindheitswälder voller Haselnüsse, Waldbeeren und Sauerklee. Wichtelgärten mit Buschwindröschen und Leberblümchen und Efeu. Kobolde unter Schneckenblättern. Zwergenhöhlen zwischen Baumwurzeln, ausgestattet mit Rindenmöbeln und Moosbetten, das Vieh sind Lärchen- und Föhrenzapfen hinter Steckenzäunen. Auf dem Rücken liegen im Moos und Händchen halten mit der ersten Liebe, hinter schräggestreiftem Sonnenvorhang, in dem die Stäublinge tanzen, die Blicke verloren in den Blättern und Nadeln, den Baumkronen, den Wolken und dem Himmelsblau zwischen den Wipfeln. Solcher Wald ist nicht mehr. Nun brennt der Baum.

Fakt ist: Wald ist überall. Ich war schon im Bayerischen Wald, im Wiener Wald und im Waldviertel, dem mystischen. Es gibt den Böhmer-, Oden- und Grunewald. Der Teutoburger Wald ist historisch bedeutsam. Den Nürnberger Reichswald nennt man auch Steckerleswald. Der Schwarzwald heißt in der Schweiz Bois Noir und sonst Black Forest. Filme habe ich gesehen über die Paradieswälder Papua-Neuguineas und den radioaktiv ermordeten Red Forest und über Forrest Gump, aber der ist kein Wald. Der Waldmeister auch nicht, gehört jedoch hierher wie das Reh, der Specht, der Eichelhäher, das Eichhörnchen, das Wildschwein. Ein Waldschwein gibt es nicht, aber eine Waldkatze, zumindest eine norwegische, und einen Waldkauz, wo Fuchs und Hase nicht mehr lange Gute Nacht sagen.

Fakt ist: Vor lauter Bäumen sieht man den Wald nicht. Tannen, Fichten, Föhren, Lärchen, der Nadelwald. Eichen, Buchen, Birken, der Laubwald. Monokulturen haben sich nicht bewährt, der Mischwald, das Unterholz. Der Bannwald gegen Lawinen, Felsstürze, Muren. Der Nutzwald zur Holzgewinnung. Die boreale Nadelwaldzone, besser bekannt als Taiga. Palmen, Mammutbäume, Mangroven, Affenbrotbäume, Olivenhaine. Der Dschungel. Der Tropische Regenwald. Die Urwälder, bedrohte Heimat der Berggorillas ebenso wie der letzten indigenen Völker. Überall ist die Axt am Baum.

Fakt ist: Vor lauter Bäumen sieht man den Wald nicht in Gefahr. Der Regenwald ausgebeutet und abgeholzt für Teak und Mahagoni, brandgerodet für Plantagen. Vor Augen das heimische Waldsterben. Durch sauren Regen. Borkenkäfer. Ozonloch. Skipisten. Erdrutsche und Muren. Dürren. Waldbrände. Wildverbiss durch Überpopulation. Schneelast. Lawinen. Abgase und Schadstoffausstoß. Die maschinelle Abholzung per Harvester. Wibke und Lothar und Kyrill knicken die Bäume wie Streichhölzer. Und als Krönung des Ganzen dauerhaft verstrahlter Waldboden, radioaktive Pilze, becquerel-verseuchte Wildschweine auch noch dreißig Jahre nach Tschernobyl. Auf vielfältige Weise wird der Wald zu Asche gemacht.

Fakt ist: Einen alten Baum verpflanzt man nicht. Für den Wald ins Feld ziehen. Es braucht Baumschulen für den Nachwuchs. Die Aufforstung und die Wiederaufforstung. Die Waldpflege. Die Waldarbeiter, die Jäger und Heger. Forstämter, den Staatsforst und die nachhaltige Nutzung samt Schadholzaufarbeitung und Holzrücken mit Pferden. Die Ausweisung von Naturschutzgebieten, Nationalparks, Reservaten. Es braucht Brandreden und Protestaktionen, das Kyoto-Protokoll, Kampagnen und Goodwill-Maßnahmen wie den symbolischen Regenwaldkauf, urkundlich bestätigt. Es gibt die Verantwortung. Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.

Daphne Elfenbein: Der Zug nach Kötzschenbroda oder wie man zum Berliner Urgestein wird

Dass Daphne Elfenbein vom Himmel gefallen und auf den Füßen gelandet ist bei ihrer Geburt, ist in eingeweihten Kreisen hinlänglich bekannt. Dass sie aber nun, nach mehr als 50 Jahren des Irrens und Wirrens in Berlin angekommen ist, das soll heute über den Äther kundgetan werden. Zu Beginn des Neuen Jahres, wo die Glastonnen aus den Hinterhöfen verschwunden sind und an jeder Registerkasse auf Gedeih und Verderb Bons ausgegeben werden müssen, gibt es doch immerhin diese eine gute Nachricht. Frau Elfenbein ist von der Markgräflerin zum Berliner Urgestein mutiert. Zunächst soll hier in einer Schweigeminute der armen Verkäuferinnen gedacht werden, die bis zu 800 mal am Tag „möchten Sie den Bon?“ fragen müssen. —- (Schweigeminute). Und nun ein konstruktiver Lösungsvorschlag zur Kassenbon-Frage: Verlangen Sie den Bon doppelt! Dann haben Sie ein BonBon! 

Warum aber hat Daphne Elfenbein in Berlin nun ihre Heimat gefunden? Hat sie einen Test in Berlinkunde bestanden? Ist ihr Fell dick genug für die Unverschämtheit dieser Stadt? Nein. Wie jeden Morgen verließ sie heute mit 5 Minuten Verspätung das Haus, um 5 Minuten verspätet zur U-Bahn zu kommen und 5 Minuten später zur Arbeit. Ein wirksamer Auftritt. Doch hierzu gibt es mal eine eigene Sendung. Wenn es mal ein freies Thema gibt. 

Wie ging es weiter? Auf dem Weg zur U-Bahn nahm sie eine scheppernde klappernde Tasche mit leeren Gurkengläsern mit, die in die Altglastonne mussten. Nein, nicht im Hinterhof. Beim Park vorne, 200 Meter die Straße runter. Das erklärt das Zuspätkommen. Wenn die Glastonnen im Hinterhof gewesen wäre, dann wäre sie pünktlich gewesen. Die BSR ist schuld. Müssen die jetzt die Glastonnen aus den Hinterhöfen rausnehmen? Darüber hat sie sich lang und breit ausgejammert auf sämtlichen sozialen Netzwerken, so lange bis es eine Petition zur Wiedereinführung der Glastonne im Hinterhof gekommen ist. Darauf ist Frau Elfenbein stolz. Ihre Nachbarn haben kräftig mitgejammert: Es klappert so furchtbar, ich kann gar nicht mehr schlafen! Und wenn man über die Straße will, sieht man nix, das ist ja lebensgefährlich, mit diesen Glastonnen am Straßenrand. 

Die U-Bahn war dann berlintypisch auch zu spät, wegen einer technischen Betriebsstörung. Technische Betriebsstörung in Berlin kann dreierlei heißen: a) der Fahrer kam nicht zum Dienst oder ist in seiner Laube am gasenden Grill erstickt, den er zu Heizzwecken in sein Schlafzimmer gestellt hat. B) es hat sich wieder jemand vor den Zug geworfen oder ist von einem Irren auf die Gleise geschubst worden. C) es gibt einen Polizeieinsatz wegen Bandenkriminalität. Auch so eine Frage für den Berlin-Test. Aber um wirklich wirklich Berliner Urgestein zu werden, braucht es noch etwas ganz anderes…

Die Glastonnen waren so überfüllt, wie die verspätete U-Bahn. Frau Elfenbein zwängte sich in die Menschenmenge hinein zum BVG-Kuscheltreffen. Der Fahrer brüllte über die Fahrgastinformation: bitte benutzen Sie die Türen des gesamten Zuges. Und jetzt kommt’s: Frau Elfenbein brüllte zurück: „Und wer nicht reinpasst, fährt noch auf dem Dach mit!“ Die Fahrgäste stierten vor sich hin. Eine verzog schmerzhaft den Mund. Frau Elfenbein trällerte den „Zug nach Kötzschenbroda“ und ging beschwingt über den Kudamm: Das war echt Berliner Schnauze!“ Der Test ist bestanden! Daphne Elfenbein steht schon auf der Warteliste für einen Schrebergarten.

Marius Geitz: Alexander Gerst

Hartes Training
mitten dort im Nichts.
Muskelaufbau
viel zu viel Gewicht.

Feine Sahne,
die gibt es hier nicht mehr.
Wenn nur dieser Traum,
Wenn nur dieser Traum in mir nicht wär

Ich möchte so gerne wie Alexander Gerst sein.
Ich möchte so gerne wie Alexander Gerst sein.
Ich möchte so gerne wie Alexander Gerst sein.
Ich möchte so gerne mehr wie Alexander Gerst sein

Vierhundert Kilometer
weit nach vorn,
ein kleines bisschen Druck
dort in den Ohr`n.

Ganz entspannt
im Sitz zurücklehn`
ich kann jetzt erstmal nicht mehr zurückgehn.

Ich möchte so gerne wie Alexander Gerst sein.
Ich möchte so gerne wie Alexander Gerst sein.
Ich möchte so gerne wie Alexander Gerst sein.
Ich möchte so gerne mehr wie Alexander Gerst sein.

Manchmal ist es einsam.
Ich denk, ich schaff es nicht mehr.
Manchmal frag ich mich auch:
„Wie komm ich nur hierher?“

Doch dann reiß ich mich
ganz schnell wieder zusamm`,
ich pack meine Siebensachen
und schau dich im Fernsehen an.

Ich möchte so gerne wie Alexander Gerst sein.
Ich möchte so gerne wie Alexander Gerst sein.
Ich möchte so gerne wie Alexander Gerst sein.
Ich möchte so gerne mehr wie Alexander Gerst sein.

Mit Musik:

https://leidengruppe.bandcamp.com/track/alexander-gerst

Arabella Block: Wundertüte

„Nein“, sagte meine Mutter und: „Du meine Güte.
Was willst du denn mit diesem billigen Ding!
Da ist doch niemals etwas von Bedeutung drin.
Schluss, aus, ich kauf dir keine Wundertüte.“

Und dabei blieb es kindheitlang. An der A3
stand zwar das Wundertütenwerk, in dem die Tüten,
auf denen ach so vielversprechend Sterne blühten,
enstanden, doch wir fuhren stets vorbei.

Der neonblaue Namenszug an der Fassade
hat sich mir zugeflüstert Jahr für Jahr.
Bis die Buchstaben nacheinander starben.

Als auch das großgeschwungene W erloschen war,
blieb nur eine Fabrikruine ohne Farben.
„Zu spät“, wisperte sie mir zu, „wie schade.“

Lothar Gröschel: Ofenrohre und Gasflaschen

Manchmal hat man auch Glück und schafft es in einer Viertelstunde vom Prenzlauer Berg bis zum ICC, das sie jetzt nicht abreißen wollen, sondern mit einer Art Haube überdachen. In München würde ja auch niemand auf die Idee kommen, den BMW-Turm, der als zylinderförmiges Symbol die Kraft der bayerischen Ingenieurskunst verherrlicht, einzustampfen, bloß wegen mangelhafter Energieeffizienz oder so.

Das Auto hat mein Vater vor etlichen Jahren bei den Franzosen gekauft und mir neulich gegeben: „Dafür krieg ich nichts mehr, dann nimm’s doch Du, ihr braucht doch ein Auto, das geht.“ Er meinte: ein Auto, das fährt. Und das tut es auch. Nach drei Stunden passieren wir die alte Zonengrenze, die Brücke der Deutschen Einheit, und jubeln theatralisch: „Hurra, wir sind in Franken.“ Ein Ritual von früheren Fahrten, als die Kinder noch klein waren und ein bisschen Abwechslung das Durchhaltevermögen förderte.

Ab Bayreuth zählen wir die Ausfahrten herunter: Trockau, Pegnitz, Weidensees – wie die Ausscheider bei der Bundeswehr ihre letzten 100 Tage – und in Plech verlassen wir die Autobahn. In Ottenhof läuft ein Mann über die Straße: es ist 22.14 Uhr. Hier habe ich noch nie jemanden auf der Straße gesehen – ohne Auto, ohne Bulldog, ohne Panzer.

Kurz vor Betzenstein ein Warndreieck, mehrere Autos stehen am Straßenrand, Feuerwehr ist da, Sanitäter, ein Polizeiwagen steht in einem Feldweg. Männer starren vor sich hin, ein Auto kehrt vor uns um, fährt mit Vollgas in die andere Richtung. Wir rollen am Unfallort vorbei, ahnen nur, dass da unten in der Wiese ein Auto auf dem Kopf liegt. Ist da noch jemand drin?

„Du musst auf die Tiere aufpassen“, sagt Tanja. Kurz darauf steht ein junges Reh auf der Straße, schaut in unsere Richtung, Schrecksekunde, weiß nicht wohin, tänzelt dann auf die Seite und stolpert beim Überqueren des Grabens. Große Aufregung im Auto. Ich fahre jetzt noch langsamer. Meine Leute halten Ausschau nach Wild.

In der Stube ist es noch warm. Mein Vater hat den Ofen geschürt und einige Kohlen drauf gelegt, damit er die Wärme hält. Im Flur riecht es nach Kadaver, als wären fünf Mäuse hinter dem Schrank verreckt. Ich suche nach Bier, es stehen aber nur einige Weinflaschen herum. Dann lieber einen Whisky. Bowmore, schottisch, schmeckt ein bisschen nach Erde, torfig, ist gut, um nach diesem Ritt quer durchs Land wieder runter zu kommen. Dank der Luftheizung sind auch die Schlafzimmer leidlich temperiert: um die 6 Grad werden es schon sein.

Es regnet. Die Wiese ist grün. Die nackten Äste der Obstbäume zittern im Wind. Die Fassade vom Nachbarhaus – mit grauer Patina überzogen: Algen oder Schimmel? Beide können sich im körnigen Mineralputz hervorragend vertiefen. Beim Metzger lasse ich mich von meinen verborgenen Gelüsten hemmungslos verführen. Kaufe Kraut- und Leberwürste, beide leicht angeräuchert, Bauernseufzer, Pfefferbeißer, rohen Schinken und einige Bratwürste. Wenn ich auch nur zur Hälfte katholisch bin: der Besuch einer Metzgerei hier im Oberland ist ein Hochamt. Scheiß drauf: eine Schüssel Fleischsalat muss auch noch sein. Wer das alles essen soll? Die Metzgerin summt während sie mich bedient. Sie summt immer, wenn ich im Laden bin. Sie kann sogar summen, wenn sie mit einem spricht. Hochmusikalisch. Wird man das als Metzgersfrau in Franken?

Tanken bei Esso. Ein Familienbetrieb seit Generationen. Neben mir parkt ein Auto, das ich nicht kenne; aber die Besitzerin des Autos kennt mich. Vor einem halben Leben haben wir – mit anderen 14- bis 17-jährigen aus unserem Dorf – an den Freitag- und Samstagabenden zusammen saufen gelernt. Asbach-Cola, Bacardi-Orange, Persico-Apfel und natürlich Bier waren unsere Lieblingsgetränke. Die Mädchen mischten auch Rotwein mit Cola. Wir trafen uns oft in einer leerstehenden Wohnung, die ihrer Familie gehörte. Wir knutschten damals fast bei jeder Party herum. Und heute waren wir uns fremd. Wann hatte ich sie zum letzten Mal gesehen? Es hätte Liebe sein können. Warum vergisst man selbst solche Dinge? Gut, dass es so ist. Wir gaben uns die Hand zum Abschied. Keine Umarmung. Vielleicht hätten sich unsere Körper dann erinnern können.

Im Haushalts- und Eisenwarenladen steppt der Bär. Eine Frau mit getönter Kurzhaarfrisur, wie sie die Frauen hier tragen, studiert Tassen und Teller in der Abteilung für Geschirr der gehobenen Klassen. Ein Dreitagesbärtiger lässt sich von einer der Angestellten zu Espressomaschinen beraten. Ein Mann mit Arbeitsklamotten steht vor dem Regal mit Akkuschraubern: eine handliche Markita mit 17mA – das ideale Geschenk für den Schwiegervater.

„Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin“, ruft es hinter mir. Der Chef begrüßt mich. Gut gelaunt, wortreich, leicht gehetzt wie immer. Sein Vater, ein Flüchtling wie man hier nach dem Krieg sagte, hat den Laden aufgebaut. Zäher Hund, Geschäftsmann durch und durch. Mir klingt noch das feine, knarzende Näseln seiner Stimme in den Ohren, wenn er zu meinem Großvater sagte: „Was wir nicht haben, gibt es nicht.“ Damit hat er es zu Wohlstand gebracht.

Der Sohnemann schwärmt mir von seiner Liebe zur Hauptstadt vor. „Sie wohnen doch in diesem Bezirk mit der höchsten Kriminalitätsrate, wie heißt der nochmal? Wedding?“

Zusammen gehen wir in den Keller. In diesem Laden kriegt man alles, was man so braucht: Messer, Sägen, Schrauben (handverlesen), verzinkte Nägel, Gewindestangen, Scharniere, Schlösser, Schlüssel, Gartenschläuche, Kühlschränke, Pelletsöfen, Wasch- und Spülmaschinen, Küchenherde, Fahrräder, Sanitärmaterialien, Wasserkocher, und natürlich Ofenrohre. Der Meister sucht mir die passenden Rohre heraus, 120mm Durchmesser. Am Tresen schreibt seine Frau eine Quittung für die graue Kurzhaarfrisur, die sich einen Stapel cremeweißer Teller geleistet hat. Der Chef sagt zu seiner Frau: „Hier riecht es schrecklich nach Zwiebeln, widerlich.“ Seine Frau fühlt sich sogleich angegriffen: „Wie kommst Du darauf, hier hat keiner gegessen.“ Er: „Ein Zwiebelgeruch, das hab ich vorhin schon bemerkt“. Seine Frau: „Ich weiß gar nicht, was Du meinst.“ Sie isst gern, das ist mir schon bei früheren Besuchen aufgefallen: mal ein belegtes Brot, oder ein Nudelgericht aus einer Tupperdose, die neben der Kasse stand. Er: „Das war doch die Kundin, die sich nach dem Laubbläser erkundigt hat. Ein Ausdünstung hat die gehabt, unglaublich.“ Seine Frau kramt in der Schublade, wo die Quittungsblöcke und Stempel aufbewahrt werden.

„Der Mann hier kommt aus Berlin, um sich bei uns Ofenrohre zu kaufen …“, wechselt der Chef nun das Thema. Ich lege zwei Scheine auf den Tisch. Seine Frau schaut mich überrascht an: „Sie wohnen in Berlin? Aber ich kenne Sie doch, Sie kommen von hier, gell?“ Ich nicke. “ Sie sind wohl auf Besuch da? Und bleiben die Feiertage hier?“ „Ja, habe ich vor.“ Ihr Mann gibt mir das Wechselgeld und den Kassenzettel. „Wie lange wohnen Sie denn schon in Berlin?“, fragt mich die Frau. „Hm, das sind schon 25 Jahre.“ Sie hebt den Kopf, zieht ihre Brauen hoch: „Ja, haben Sie dann überhaupt noch Freunde hier? Ich meine, wegen Weihnachten.“ Ihr Mann klinkt sich ein: „Er hat doch noch eine Familie hier, mit der wird er feiern, oder?“

Ich verabschiede mich von der Frau. Ihr Mann geht mit mir nach draußen, schließt das Holzkabuff auf, das sich zwischen seinem Haus und dem Nachbarhaus befindet, und holt eine 11kg-Flasche mit Propangas heraus. Ich öffne den Kofferraum. „Sie fahren doch gleich nach Hause“, sagt er zu mir. „Weil, normalerweise dürfen Sie die Gasflasche nicht in einem geschlossenen Fahrzeug transportieren. Vorschrift! Explosionsgefahr!“ „Echt, hab ich noch nie gehört.“ Er verspricht, mich zu benachrichtigen, wenn er mal wieder nach Berlin kommt. „In diesem Kuhkaff hier hält man es doch gar nicht aus.“

Matt S. Bakausky: Nichtszuverlieren, außer

Im Psychiaterwartezimmer eine Art Stuhlkreis, nur dass die Stühle direkt an den Wänden stehen. Menschenbepackter Raum, ich fühle mich beobachtet. Schweiß, Herzrasen, Zitttern. Gedanken, was die Patienten über mich denken.

Herr Meier wird aufgerufen.

Herr Thomas wird aufgerufen.

Ein neuer Patient kommt hinzu. Draußen die Sprechstundenhilfen am Tippen und Telefonieren. Eine Patientin betritt den Raum. Und noch eine. Schreckliche Augen von überall auf mich gerichtet.

Frau Mühlen wird aufgerufen.

Zwei weitere Patienten betreten den Raum. Circa ein dutzen aufgerufener Patienten und zwanzig neuer Patienten später wird die Stimme in meinem Kopf kurz leiser.

„Herr Bakausky“ tönt es durch den Lautsprecher. Der Arzt zu gut gelaunt, ich vermute er kokst. Ich bekomme Beta-Blocker verschrieben. Der heiße Scheiß gegen soziale Ängste. Vielleicht. Eigentlich zur Senkung des Blutdrucks, können sie auch entspannend wirken. Off-Label, also anders als auf dem Beipackzetttel verschrieben, heißt das.

Große Erleichterung als ich die Tür der Praxis hinter mir schließe. Das ist der beste Moment, das beste an den Arztbesuchen. Nach dem größer und kleiner werdenden Stuhlkreis, kurze Pause vom Stress.

Der nächste Stuhlkreis in der Straßenbahn. Ich fühle mich im Mittelpunkt, denke dass es jedem auffällt, wie ich schwitze, zittere und schaue auf den Boden. Selbsthilfegruppe – der finale Endboss der Stuhlkreise für heute. Ich gehe nicht hin, lieber nach Hause. Vermeiden ist gut. Führt zwar zur Verschlechterung der Symptome, ist aber gut.

Am Abendessentisch fragt mich meine Oma, warum ich sowenig rede. Scheinwerferlicht auf mich. Der ganze Stuhlkreis wendet seine Augen auf mein schwitzendes Gesicht. „Äh, ich weiß nicht“ sage ich kleinlaut. Und schon ist das Thema gegessen und meine Mutter kommt mit dem Nachtisch rein. Warum habe ich solche Angst vor Fremden? Wahrscheinlich habe ich nicht vergessen, dass ich einst von zwei solchen groß gezogen worden bin.

In meinem Zimmer schalte ich den Monitor an und gehe in den Chat. Entspannt auf meinem Stuhl, ohne Kreis, ohne Augen die auf mich schauen. Ich bin der Boss, ich bin es der den Chat lenkt. Kein Zittern, kein Schwitzen, sanft gleiten meine Finger über die Tastatur. Menschen sind gleichzeitig Freund und Feind, hier bin ich jedoch pseudonym, hier kann ich sein.

Zerocool verlässte den Raum.

Hexe verlässt den Raum.

Wursthans betritt den Raum.

Der Bot kickt und bannt Wursthans, weil er spamt.

SevenEleven verlässt den Raum.

EvilSanta, Hackbert und Tiny sind afk.

Zeit herunterzufahren.

Hans-Hermann Plesch: Honigschön

Die Gebrüder Fransig hatten mit einer Erfindung, die sie als Honigschöns Bioelektrischer Autoanzünder bezeichneten und sich wie geschnitten Brot verkaufte, ein Schweinegeld verdient.

Die Erfindung, im Wesentlichen ein Kästchen mit fragwürdigem Inhalt, hätte eigentlich so gut wie jedem einfallen können, ausser vielleicht mir (wegen meiner ausgeprägten Linksfüssigkeit). Viel konnte man sonst damit nicht anfangen, aber es reichte (besonders zu Anfang). Es sollen sich welche bei Anwendung krumm und scheckig gelacht haben, ich habe allerdings nichts davon mitbekommen.

Mein Problem war vielmehr ein anderes. Mit dem vielen Geld, das die Gebrüder Fransig eingesackt hatten, kauften sie den Mäuseberg und störten meine Pläne empfindlich. Mit Arbogast hätten sie sich nie auf diese Weise angelegt, des war ich mir sicher. Das grössere Problem allerdings war, dass sie gar nicht wussten, dass sie mir Probleme bereiteten. (Sonst hätte ich aus meinem wasserdichten Keller herauskommen müssen.)

Das mit dem Keller hatte eine eigene Bewandtnis, das bitte ich vorläufig zur Kenntnis zu nehmen. Es war auch mehr ein Sousterrain, stark gefliest (zur Hälfte in Anthrazit. Das hat mit dem Mäuseberg aber nichts zu tun.) Die Sache ist vielmehr eine andere.

Honigschön bin eigentlich ich. Zumindest im Traum, wo ich umschürzt und schutzbebrillt in einem hohen Raum stehe. Den Anderen kannte ich da noch nicht, sicher aber war, dass ich gegen Abtretung meiner selbstausgedachten Erfindung ein Grundstück erhalten sollte, besagten Mäuseberg nämlich. Dieser war nach Lage und Ansehen förmlich dazu prädestiniert, Ausgangspunkt einer von mir geplanten Forschungsexpedition zu werden. Das alles stand jeden Morgen vor dem Aufstehen so farbig vor mir, als wärs ein gemaltes Bild. Dann setzte ich den linken Fuss auf den Boden und begann zu zweifeln. Auch der Mann im Spiegel, dessen ich wenig später gewohnheitsmässig im Bad ansichtig wurde, war zweifelsfrei nicht Honigschön. Honigschöns Bildportrait war in natürlichen Farben auf seiner Erfindung aufgedruckt und ähnelte mir, auch unter Weglassung des Bartes, nur ungenügend.

So verging Woche um Woche, wobei ich meine Zeit vorwiegend den geheimen Grabungsarbeiten widmete. (Ich hatte meinen Plan keineswegs aufgegeben). Dann änderte sich alles schlagartig. Zwei Beamte suchten mich unter einem Vorwand in meiner Wohnung auf. Sie verhafteten mich wegen Beschädigung des Grundwassers (Eine haltlose Anschuldigung). Wenig später auf der Wache, wurde ich in den Keller geführt und wurde Zeuge eines unglaublichen Vorgangs. Zeitlich war er allerdings eher platzsparend.

Anschliessend bekam ich eine gediegene Schaufel mit einem glänzenden Blatt in die Hand gedrückt. Die Bodenplatten waren zur Seite geschafft worden und ich konnte sofort mit weiterer Grabungsarbeit beginnen. Danach feierten wir ein kleines Fest (bei dem wir lebhaft anstiessen, später auch tanzten).

Den Morgen danach bereute ich bitterlich, aber schon Mittags war ich erneut guter Dinge.  Das mit dem Berg liess ich allerdings danach sein, zumal ich mit Schulze einen frohgemuten Partner für zündende Experimente gefunden hatte. Fransigs setzten später noch Honigschöns Nanotherapeutischen Allesentferner in Umlauf und verbrannten damit eine Menge Geld.

Der Mäuseberg verfiel in Folge und musste künstlich gestützt werden.

Sophia Süßmilch: APOCALYPSE RELOADED 2

ALS DANN DER GROSSE KRIEG KAM
WAREN SIE WIEDER BELEIDIGT
UND JAMMERTEN ALLE VON DEN SCHERBEN
IHRER BIOGRAPHIE UND WIESO DENN
GERADE JETZT WO DIE KARRIERE
SO GUT LÄUFT
UND DAS NACH MEHR ALS
60 JAHREN FRIEDEN
DA FRAGT MAN SICH JA SCHON MAL
WAS SOLL DENN DAS
NUR DIE ANARCHISTEN FREUTEN SICH
DENN DER HÄUSERKAMPF
BEKAM FRISCHEN WIND
EINER MIT NADELN IM GESICHT
SPRACH SOGAR
VON EINER GANZ NEUEN DIMENSION
UND DIE GANZEN TRAURIGEN
WAREN SEHR ERLEICHTERT
DENN SIE DACHTEN ENDLICH NICHT MEHR
ANS ÜBERLEBEN

Andreas Lugauer: Alles spült

Traurig knöpfte Winfried seinen Hosenstall zu. Die automatische Spülung des Urinals war dieses Mal sogar zweimal losgegangen, während er noch im vollen Schwange uriniert hatte.

»Tragischer Unfall bei Spaziergang« notierte man sinngemäß auf dem Totenschein, nachdem Winfrieds bleiche, aufgeschwemmte Leiche einige Zeit später aus dem Fluss gezogen worden war; eine Fischerin hatte Winfried an einer der Biegungen des Flusses gefunden, dort, wo er so verträumt durch die Landschaft mäandert, bevor er parallel zur maroden dreispurigen Bundesstraße in die Stadt fließen muss.

Der Pfarrer sprach bei der Beisetzung nur die nötigsten, unbedingt vorgeschriebenen Worte und Gebete; nein: er murmelte sie vielmehr. Die beim widerlichen Eintopf seiner Haushälterin zusammenmontierte Grabrede aus Floskeln und Gemeinplätzen verlas er nicht; die Urnenträgerin hielt es nicht für nötig zu verbergen, dass sie in einem Fall wie diesem alles über »Türchen auf – Ürnchen rein – Türchen zu« Hinausgehende für Zeitverschwendung hielt und keinesfalls als »verehrte Trauergäste« angesprochen werden wollte. »Hoffentlich mäkelt diesmal keiner am Beisetzungskostenübernahmeformular herum«, dachte der Pfarrer, als er sein Weihwasserkesselchen zur Sakristei zurücktrug.

Der Nachwelt im Gedächtnis geblieben wäre Winfried, wenn es nur irgend möglich gewesen wäre, dass jemand davon mitbekommen hätte, dass Winfried es als erster (und bis heute einziger) Mensch fertigbrachte, sein Leben zu beenden, indem er durch nichts als einen reinen Willensakt seinen Geist zum Erlöschen brachte – was noch schwieriger ist als sich unter Wasser festzuhalten, bis man ertrunken ist. Winfried gelang es an einer Stelle, an der er nach dem Verlust der Kontrolle seines Geistes über seinen Körper mit ziemlicher Gewissheit die Böschung hinunter in den Fluss gleiten würde.

»Sind ja nur 17 Euro 40, was soll ich mich lang aufregen«, dachte die allseits nur Traudl genannte Gertraud, als sie den unbeglichenen und nicht sicher zuzuordnenden Bierdeckel, den sie beim vom Amt verordneten Schänkeputzen gefunden hatte, wegwarf, »vielleicht gehörte er ja diesem einen, der doch immerzu von dieser Sekte in Delaware redete, die ihn so faszinierte. Der – nach Amerika? Dabei war der wegen der Automaten nicht mal in der Lage, ein Busticket zu kaufen, und den Busfahrer wegen einem Ticket anzusprechen traute er sich schon gar nicht, weshalb er dann bei jedem Wetter mit dem Fahrrad kam. Oh, das Immergrün ist ja kaputt.«