Christian Ihle: Twin Peaks

Douglastannen, Kirschkuchen, verdammt guter Kaffee und die schönste Wasserleiche der Weltgeschichte: Welcome To Twin Peaks, Einwohnerzahl: 51.204

Der 10. September 1991 ist ein historisches Datum in der deutschen Fernsehgeschichte: die Erstausstrahlung von Twin Peaks auf RTLplus. Nicht nur markiert Twin Peaks einen der ersten Gehversuche der herumflegelnden Privatsender in dem Reich des Seriösen, sondern auch den ersten Medienhype um eine noch nicht gestartete Serie, der sogar so weit ging, dass Sat1 via seines eigenen Videotextes den Mörder der Hauptfigur Laura Palmer veröffentlichte, RTL strengte dagegen in der Folge ein Gerichtsverfahren an, das SAT1 auch tatsächlich verlor. In den USA lief Twin Peaks bereits ein Jahr zuvor auf ABC und war zu Beginn ein phänomenaler Erfolg. Den Piloten sahen 34 Millionen Zuschauer, was die erfolgreichste Filmausstrahlung des Jahres in den Staaten war – als kleiner Vergleich: der Pilot von Akte X drei Jahre später hatte gerade einmal ein Drittel der Twin-Peaks-Einschaltquoten.           


Twin Peaks – Wie alles begann

Aus einer relativ normalen Krimi-Exposition bildet sich über 31 Episoden der von David Lynch erfundenen Serie eine immer seltsamer werdende Welt heraus, die bis zum heutigen Tag in Film & Fernsehen oft nachgeahmt, doch nie mehr in ihrer surrealen Güte erreicht wurde.

Laura Palmer, die Ballkönigin der amerikanischen Kleinstadt Twin Peaks, wird in einen Plastiksack gewickelt als Wasserleiche gefunden. FBI Agent Dale B. Cooper, der eine Vorliebe für Kirschkuchen und „verdammt guten Kaffee“ pflegt, wird hinzugezogen und fährt in das beschauliche, von Douglas-Tannen umrahmte Twin Peaks. Nach und nach werden die liebevoll-skurril gezeichneten Bewohner des Städtchens vorgestellt, deren Lebensgeschichten auf vielfältige Weise miteinander verwoben sind.
Folge um Folge wird Beziehungsgeflecht um Liebesaffäre aufgedeckt während parallel – mehr gleichberechtigt, denn im Vordergrund stehend – das FBI seine Ermittlungsarbeit aufnimmt. Diese Art des Horizontalen Erzählens, also einer Geschichte über eine Staffel hinweg und nicht nur innerhalb einer Folge, hat Twin Peaks mehr oder weniger erfunden. Das heutige Fernsehen, insbesondere Netflix & Co, sind ohne horizontales Erzählen nicht denkbar.

Die Kleinstadt als Mikrokosmos der USA

Wir Zuschauer lernen gemeinsam mit Neuankömmling Dale B. Cooper die Wunderlichkeiten und Eigenheiten der Stadt und ihrer Bewohner kennen und tauchen Stunde um Stunde tiefer in den Kosmos Twin Peaks ein. Das wahrlich meisterhafte ist die Verquickung der verschiedensten Seriengenres zu einem großen Ganzen, das in sich stimmig, obwohl voll von Subversivität, Absurdem und Surrealem ist. „Das Geheimnis von Twin Peaks“ ist nicht nur who killed Laura Palmer? sondern auch, dass jeder Zuschauer „seine“ Serie daraus macht: es gibt die Thriller-Storyline wie die Daily Soap, Mystery- wie Coming-Of-Age-Handlungsstränge, absurde Komik, familiäre Tragik, Brutalität wie Liebe, Intrigen und Beschaulichkeit.
Der rote Faden der Serie ist natürlich die Suche nach dem Mörder von Laura Palmer und für die Antwort zieht Dale B. Cooper Zen-Techniken und Beschwörungen zu Rate, träumt von tanzenden Zwergen und glatzköpfigen Riesen, die entscheidende, aber absurd kryptische Hinweise geben.

Selbst als rational veranlagter Zuschauer lässt man sich auf die surreale Twin Peak Welt ein, weil die fest in der Kleinstadtrealität verankerten anderen Handlungsstränge dafür authentischer und ungeschönter wirken als es Fernsehen sich bis dato traute.

Die Visionen werden gegen Auflösung hin häufiger und insbesondere die Figur BOB, eine der furchteinflößendsten Gestalten, die das Fernsehen geschaffen hat, dringt immer weiter in das normale Kleinstadtleben ein, das von einem undefinierbar Bösen, das schon immer in den Wäldern um Twin Peaks gehaust haben soll, tiefer erschüttert ist als es die mühsam aufrecht erhaltene Fassade des Bürgertums zeigen mag.

Eine eigene Welt, eine eigene Zeit

Twin Peaks spielt dabei in einer eigenen Zeit. Die Kleinstadt und ihre Bewohner leben in einer Art 50er-Jahre-Welt, obwohl die Serie fraglos in der Gegenwart spielt. Dieser Kunstgriff David Lynchs unterstützt einerseits bereits das surreale Gefühl, das später durch die Plotentwicklung affirmiert wird und spielt andererseits auch auf der Storyebene eine Rolle. Die 50er Jahre repräsentieren die Zeit, in der noch alles gut war und doch ist all das nur Fassade. Das Böse und Schlechte, die Verderbtheit hat längst Einzug gehalten in Twin Peaks.

David Lynch hatte einige Jahre zuvor mit dem gefeierten Film „Blue Velvet“ eine ähnliche Thematik abgehandelt: den seedy Untergrund, auf dem die Bourgeoisie lebt und den sie verzweifelt versucht unter der Oberfläche zu halten.

Die in Twin Peaks behandelten Themen machen die Serie zu transgressiven Fernsehen, das Grenzüberschreitungen erzählt und bebildert, die bis 1990 kaum Gegenstand von TV-Serien waren – insbesondere was seine Hauptfiguren anbelangt: von Inzest zu Prostitution, von Drogenmissbrauch zu häuslicher Gewalt von seriellem Ehebruch bis zu sprechenden Holzscheiten.

Gut gegen Böse, Jung gegen Alt

Das Besondere an Twin Peaks ist aber das bereits angesprochene Nebeneinander der verschiedenen Serienformen. So wird Twin Peaks auch beim x-ten Durchlauf nicht langweilig, weil immer wieder ein anderer Handlungsstrang hervortritt, der wiederum der Serie eine andere Anmutung gibt. Der erste Durchlauf beschränkt sich normalerweise auf das Wahrnehmen der Thriller- und Mysteryebene, während bei späterem Anschauen der Serie der politische, gesellschaftskritische Subtext hervortritt oder das Coming-Of-Age-Drama der Jugendlichen von Twin Peaks in den Mittelpunkt rückt. Das Böse, das in Twin Peaks von den Schönsten und Besten der Heranwachsenden Besitz ergreift? Es steht für das Erwachsenwerden, das das einfache, vielleicht naive, aber immer gute Leben der Jugend vernichtet. Selten wurde der Generationenkonflikt mit so viel Wucht im Fernsehen ausgetragen.

Andreas Lugauer: Blue Velvet

Wer von den Hörer*innen hat schon mal den Film »Blue Velvet – Verbotene Blicke« von David Lynch gesehen?
Der Verfasser dieser Zeilen jedenfalls hat ihn nicht gesehen – aber er hat einmal nur anhand des Filmtitels eine Inhaltsbeschreibung verfasst:

In »Blue Velvet – Verbotene Blicke« geht es um einen Privatdetektiv (daher der Untertitel »Verbotene Blicke«), der sich in eine Frau verguckt, die er beobachten soll. Denn – was er da zu beobachten hat, gefällt ihm schon ziemlich gut, muss er sagen. Er macht sich also an sie ran – natürlich erfolgreich, denn er sieht aus wie ein Filmstar mit schneidiger brünetter Kurzhaarfrisur (so voll ange80ert) und Brusthaar, und zwar von genau der richtigen Üppigkeit. Außerdem ist er sehr eloquent und charmant und hat blaue Augen, in deren weichen, doch klar konturierten Blicken er Leute samten betten kann (daher der Obertitel »Blue Velvet«). Logisch, dass die beiden erstmal ordentlich Sex haben – aber noch mehr so tastend und suchend und nicht gleich aus dem Vollen schöpfend, denn sie kennen sich ja noch nicht so gut und außerdem gebietet dies die Sexfilmdramaturgie.

Freilich findet sie, die Ausgespähte, heraus, dass er als Detektiv auf sie angesetzt ist. Es wird ihr von einem Bekannten erzählt, in einem Café, und sie hätte niemals damit gerechnet. Der Bekannte sagt nicht, woher er das weiß, alles ist sehr geheimnisumwölkt. Beim nächsten Treffen der ProtagonistInnen – er, der Detektiv, hat Blumen dabei – gibt es Streit, sie ist sehr sauer auf ihn, es fallen böse Worte von ihr und besänftigende von ihm, die aber – zurecht – bei ihr alle ins Leere laufen. Sie wirft ihm den Blumenstrauß an die Birne, wobei der Topf daran kaputt geht, von dem kaum jemand weiß, wo der jetzt eigentlich herkommt, denn Blumen kauft man ja in so Papier eingewickelt – und zu Dates bringt man nicht schon Töpfe mit.

Spätabends, wieder alleine, vertraut sie ihrem Tagebuch an – man hört sie aus dem Off sprechen –, dass sie es eigentlich ganz anregend und aufreizend findet, von ihm beobachtet worden zu sein, und sie hofft, er habe ihr auch beim Umkleiden zugeschaut. Sie erinnert sich an ihr letztes, wie immer erotisches Umziehen – man sieht die Erinnerung, abgesetzt durch starken Weichzeichner – und den Zuschauer*innen wird klar, warum es für den Detektiv auch rentabel gewesen wäre.

In dieser Nacht schläft unser Detektiv mit seiner Auftraggeberin, mehr einfach so und es wird auch gar nicht klar, warum (es… gibt aber gute Bilder her). Wahrscheinlich hat er ihr Auftragsergebnisse vorgeflunkert, ohne zu erwähnen, dass er aufgeflogen war. Logisch, dass die beiden davon heiß aufeinander werden, also ist es doch nicht so unklar, warum sie es im letzlich Straßenlichtschein tun.

Am nächsten Tag oder vielmehr eine Woche drauf dann die große Versöhnung unserer beiden ProtagonistInnen, es gibt bald auch Sex, logo. Dann lernt die Ausgespähte irgendwie die Auftraggeberin des Detektivs kennen und auch sie schlafen miteinander.

Zufällig stößt danach, die beiden liegen noch sich bezärtelnd beieinander, der Detektiv dazu, er kommt gerade vom Sport. Und dann haben alle aber noch genug Energie und veranstalten eine menage à trois, wo sämtliche Sexregister gezogen werden und wirklich alle auf ihre Kosten kommen. Leider werden irgendwann die Credits eingeblendet und am Ende fadet das Bild der ekstatisch wogenden Drei einfach aus. Kabel-1-Werbung wird eingeblendet und dann Werbung normal