Eva Schwindsackel: Von der Linde und dem Nadelwald oder Alles Glück dieser Welt

I
Schlau, listig, durchtrieben heißt es, ist der junge Fuchs Reinecke mit seinem blass gewordenen orangefarbenen Pelz. Seine einst glänzende Silberbrust wirkt schon seit Langem etwas matt und ergraut. Nach außen hin zeigt er sich aber weiterhin stolz und trägt den buschigen Schwanz beinah zwanghaft hoch zum Himmel empor. Die Ohren gespitzt, die Augen bemüht wach. Niemals müde, sondern stets gefeit – vor Gefahren, Verpflichtungen und unliebsamen Aufgaben. Raffiniert wie er so ist, kostet ihn das nicht mal sonderlich Anstrengung. Seine einst so leichten und flinken Pfoten sind ihm aber auf dieser Reise schwer geworden. Dennoch durchwandert er immer weiter, wenn auch träge sein Leben. Dabei stets auf der Hut und von Fernweh getrieben. Zahlreiche holperige Pfade hat er genommen, viele Begegnungen und Erlebnisse sind ihm auf seinen Reisen widerfahren.  Gänzlich alles meint er schon zu kennen und dabei alles und jeden zu durchschauen. Der Weg ist sein Ziel, glaubt er zu wissen.
Und plötzlich im tiefsten und erfülltesten Grün ändert sich alles.

II
Man sagt, störrisch und faul ist der kleine Esel Boldeqyn – nicht schlau, nicht listig und bestimmt nicht durchtrieben. Sein strubblig silbergraues Haar ist vom Wind zerzaust und von der Sonne verblichen. Etwas dünn ist sein Haar über die Jahre geworden, in denen er gelernt hat, sich in seinen Tagträumen gekonnt zu verlieren. Und trotzdem scheint das Silber seines Fells von Tag zu Tag mehr zu glänzen, das Leuchten in seinen Augen zuzunehmen. In seinen Gedanken frei – nämlich manchmal in einer ganz anderen Welt, in entfernten Ländern oder anderen Köpfen – liegt er doch am selben Fleck, in seiner Kuhle unter der alten Linde. Denn genau dort lässt er sich die Sonne auf den Bauch scheinen und ist dennoch zeitgleich unterwegs auf den gefährlichsten und schönsten innerlichen Reisen. Nah und fern, alles in
Einem.

Eines Tages also, als Boldeqyn gerade seit bald sieben vollen Tagen vom höchsten aller Berge durch wilde Schneestürme hinabbrauste, erreichte er ihn endlich: den lang ersehnten Sandstrand und die warme, smaragdgrüne See. Er fand dort unzählige Muscheln und leuchtende Edelsteine, sodass er sehr froh war, mit großem Schlitten angereist zu sein. Aber nicht das sollte den Ort so einzigartig machen. Denn das riesige Sandschloss, das er an jenem Ort bewohnte, hatte in seinem Innenhof den wohl prächtigsten Nadelwald, den die Welt je gesehen hatte. Und dort mitten im Dickicht, im sattesten Grün, erblickte er ihn. Die Sonne verriet ihn. Denn in dem grünen Nadelmeer erstrahlte ein schlafender Fuchs mit einem so glänzend leuchtorangefarbenen Fell, wie es Boldeqyn noch nicht mal aus seinen wildesten Träumen kannte.

III
Tief und fest und völlig frei von seinen sonst stetig kreisenden Gedanken schlief Reinecke und bemerkte weder den Esel, noch den Schlitten voller unzähliger Muscheln und leuchtender Edelsteine. Verblüfft über die Reinheit des Grüns in den Millionen Nadeln fand er dort ganz unerwartet in sich und bei sich selbst das Gefühl tiefster, echter Zufriedenheit. Ein Gefühl, das ihm völlig neu war. Sein ganzes Wesen schien hier aufzugehen und die vielen Pfade, die er genommen hatte, die sich bisher scheinbar völlig willkürlich an einander reihten, ergaben nun Sinn. Hier will er sein, hier will er bleiben. Niemals spürte er das mehr. Erst in diesem Grün angekommen, fühlte er die Müdigkeit in seinen Augen und er spürte die Strapazen seiner lebenslangen Reise. Denn nicht listig und getrieben wollte Reinecke einst sein, sondern lustig und dabei durch keinen, auch nicht durch sich selbst getrieben. Mit wahrlich stolzer Silberbrust erfährt er hier den wahren Wert von Freiheit, den er bisher glaubte, nur durch stetiges Reisen zu finden. Erst jetzt, wo er erstmals nicht mehr weiterziehen will, merkt er, dass es die gedankliche Weite ist, die ihm den Einlass zu allen schönen und fernen Orten gewährt. Schlau ist der Reinecke, merkt er doch gleich, dass dieser Ort etwas Besonderes ist: Ganz nah und gleichzeitig fern.

IV
Der Wind weht durch die Blätter der großen Linde. Boldeqyn spürt die warme Sonne auf seinem silbern glänzenden Bauch. Er öffnet die Augen und weiß, dass er nur geträumt hat. Noch ganz müde und bisschen faul, kommt ihm der so friedlich schlafende Fuchs in den Sinn. Doch von der späten Abendsonne geblendet, reißt es ihn plötzlich schroff aus seinen Gedanken. Störrisch geht er vor der blendenden Sonne in Deckung und wird plötzlich Zeuge eines sonderbaren Farbspiels auf seinem strubbeligen Fell. So schimmert es doch im warmen Abendlicht in einem feuerroten Leuchtorange, wie er es gerade noch inmitten des tiefen Nadelwalds gesehen hatte. Ganz erschrocken schließt er die Augen für einen Moment und erinnert sich an etwas, das lange her ist. Der Wind bläst ihm kräftig ins Gesicht, Bilder von Wäldern, Feldern, Städten, Gesichtern, schöne und schlechte Begegnungen fliegen an ihm vorüber.

Ganz außer Puste, mit Rastlosigkeit im Herzen und dem Gefühl einer schon viel zu lang andauernden Reise lässt er sich erschöpft in seine Kuhle sinken und wird sich bewusst: Glücklich ist er hier, ganz reich und wach fühlt er sich. Reich an Erfahrungen durch die Vielzahl seiner zurückgelegten Pfade, die vielen Begegnungen und Erlebnisse. Wach durch die farbenfrohen Bilder, die das Leben gezeichnet hat. Lustig, denkt er noch, als er zufrieden in die Baumkrone unter dem Himmelszelt blickt und plötzlich weiß, dass er Reinecke und auch den sattgrünen Nadelwald schon lange kennt. Seine Augen strahlen, als ihm klar wird, dass ihm aus allen Erinnerungen, ob durch sein innerlich oder äußerlich erlebtes Reisen, am Ende das gleiche Gefühl bleibt. Nämlich das Gefühl, genau an dieser Stelle den Sinn von Nähe und Weite, von Freiheit und Geborgenheit, alles in Einem gefunden zu haben. Und ein Lächeln tritt in Boldeyqns Gesicht und er ist glücklich, dass auch Reinecke endlich den Platz unter seiner Linde gefunden hat. Denn nicht immer bleibt der Weg das Ziel. Manchmal ist es die Rast, die einen an genau jenen Ort führt, hinter dem sich ganz unerwartet aller Sinn verbirgt und der sich wie aus Zauberhand in alles Glück dieser Welt verwandelt.

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