Matt S. Bakausky: Das sechste Ei

Peinlich wäre es mir einen Bekannten zu fragen.

Nur noch wenige Tage bis Ostern. Ich hatte bereits ein Sechserpack Ü-Eier gekauft. Sie schauten mich vom Tisch aus an und es kam mir so vor als würden sie meine Lage belustigend finden. „Der ist 33 und will noch Ostereier suchen!“ … „Der kennt niemanden der uns für ihn verstecken will!“…“Voll der Versager!“

Ich steckte mir Kopfhörer in meine Ohren und stellte die Geräuschunterdrückung an. Dämliche Eier, kennen mich doch gar nicht. Ich wollte nur Ostereier suchen, wie ich es als Kind getan hatte.

Karfreitag war ich so frustriert, dass ich im Supermarkt neben einer Dose Bratheringe zwei Flaschen Wodka aufs Band legte. Die Kassiererin wünschte mir frohe Ostern. „Für Sie vielleicht!“, dachte ich mir, sagte jedoch nichts und packte die Waren schnell ein. Eine schöne Scheiße.

Zu Hause verhöhnten mich die Überraschungseier wieder. „Versager, Versager, Versager“. Ich nahm die Packung und steckte sie in den Schrank. Elendige Dreckseier, ihr habt doch keine Ahnung, dachte ich mir während ich das erste Glas mit Wodka füllte.

Dann startete ich die Passion Christi auf Netflix. Eine Wodkaflasche leistete mir Gesellschaft vor dem Schirm, die andere wartete im Kühlschrank auf mich.
Nach dem dritten Glas fühlte ich mich besser und hatte Lust raus zugehen. Ich schrieb einen Bekannten an und verabredete mich mit ihm in einer Bar. Während ich auf ihn wartete, trank ich schon mal ein Bier. Die Stimmung musste aufrecht gehalten werden.

Als ich am nächsten Tag  voll bekleidet inklusive Schuhen auf dem Boden liegend in meiner Wohnung aufwachte, wusste ich nicht mehr wie ich nach Hause kam oder was sonst in der letzten Nacht passiert war. Ich fühlte mich grauenhaft.

Nach drei bis vier Gläsern Wasser war es Zeit für ein Katerfrühstück. Ich hatte doch noch Brathering von gestern! Auf der Suche nach der Dose, fand ich die Ü-Eier-Schachtel. Sie war leer. Hatte ich sie gegessen? Ich schaute mich um, fand den Fisch und zwei leere Wodkaflaschen. Keine Spur von diesen gelben Plastikbehältern oder diesen Plastikfiguren und so weiter. Die Ü-Eier waren einfach verschwunden. Ich machte mich über den Hering her.

Den Rest des Tages verbrachte ich Abschnittsweise im Bett, in der Küche beim Wasserhahn und auf dem Klo.

Nach einer schlecht geschlafenen Nacht kam der Ostersonntag. Frisch aus der Dusche griff ich in den Kleiderschrank und wühlte nach einer Unterhose. Dabei fühlte ich plötzlich etwas ovales. Ich zog es heraus und siehe da: Ein Überraschungsei. Ein Flashback im Gehirn: Ich, wie ich im Vollrausch auf die geniale Idee komme Ostereier zu verstecken. Gute Arbeit, betrunkenes Selbst.

Eins von sechs habe ich schon. Was für ein Spaß. Nach und nach fand ich die anderen und sammelte meine Trophäen auf dem Tisch. Eins in der Abstellkammer hinter den Staubsaugerbeuteln, eins im Nescafé-Glas, eins in den Winterstiefeln im Flur. „Na, was sagt ihr jetzt, Eier?“ Sie jubelten mir zu. „Du bist der Größte!“, „Echt stark!“, „Was für ein geiler Typ!“

Das fünfte fand ich unter dem Bett. Dann vergingen Minuten, die zu Stunden wurden. Das sechste Ei wollte nicht auftauchen. Die anderen fünf fingen an immer mehr zu kichern, desto mehr Zeit verging.

In meiner Bude sah es aus wie nach einer Hausdurchsuchung. Irgendwann brach ich erschöpft zusammen in Mitten von den auf dem Boden verteilen Gegenständen.  
Das war das schönste Ostern seit langem! Seit meiner frühen Kindheit wahrscheinlich!

Die Überraschungen aus den Eiern stellte ich auf das leergefegte Bücherregal über dem Bett. Jede Nacht ruft von da oben der kleine Plastikzwerg herunter: „Na, wo ist das sechste Ei?“ Und das zusammengebastelte Auto hupt daraufhin schallend. Spätestens wenn dann der Plastikhelikopter hämisch den Propeller rotieren lässt, steige ich wieder aus dem Bett und setze meine Suche fort.

Jeder Mensch braucht eine Aufgabe im Leben. Viele suchen ihr Leben lang nach ihr. Ich hatte meine gefunden.

Daphne Elfenbein: Winterschlaf mit Aldi

Ein unspektakulärer Tag. Das Leben im Elfenbeinturm ist nicht eben glamourös. Im Gegenteil. Frau Elfenbein schaut zu, wie aus einer undichten Stelle am Himmel der weiße Elfenstaub herabsinkt und beschließt, sich wieder einzurollen und den Winterschlaf fortzusetzen. Da irgendwann gegen Abend die wöchentliche Auffüllung der Speisekammer ansteht, schickt sie ihre Dienstboten zu einem Aldi-Markt, der still und mit Essen lockend, wie einst Mama, im Schnee steht und Kundschaft jeglicher Herkunft gleichberechtigt aufnimmt. Aus den winterschlafverklebten Augen glaubt Frau Elfenbein zu sehen, wie ein Mann im Aldi einen Kohlkopf vor sich herträgt und auf das Fließband legt. Irgendwer sagte ihr später, das sei ein Baby gewesen. Aber man sieht ohnehin nicht gut in diesen Tagen. Gesenkten Blickes schiebt man den Einkaufswagen aneinander vorbei. Ab und zu ein halbherziges „Entschuldigung“ gemurmelt, wegen Rempeln, und weiter. Dabei gäbe es allerhand zu sehen bei Aldi. Die Osterware liegt doch jetzt in den Auslagen. Die hat das Jesuskindlein schon Heiligabend unterm Stroh in seiner Krippe versteckt und – schwupps – zur allgemeinen Stimmungsaufhellung in die Metallkörbe bei Aldi gelegt. Ostereier mit glänzenden Schleifen, doof grinsende Osterhasen, ein Jägermeister Verschnitt mit Namen „Mümmelmann“. Fehlen nur noch die Narzissen. Wem es in diesen Tagen an Spaß mangelt – kann ja schon mal zum Eierlaufen antreten, oder zur Hasenjagd im Schnee. 

Und während die Gemüsehändler mit ihren Ständen auf dem Gehsteig sich mit Wärmestrahlern und dicken Handschuhen warm hielten, holte sich Frau Elfenbein ein paar winterschlaftaugliche Träume aus dem Internet. Filme, in denen die Herzen voll und der Geldbeutel leer ist. Aber das macht nichts, bei so viel Liebe. Filme, in denen keiner Angst hat, die Wahrheit zu sagen. Filme, in denen die Leute noch Arbeit haben, die eine Aufgabe ist und Geld noch dazu. Filme, in denen alle sich lieben in der Familie und keiner enterbt wird.
In der Bundesregierung werden indes mit der Säge Kümmelkörner gespalten. Herr Spahn darf seinen Entsagungs-Zwang am Volk abarbeiten und Herr Scholz seine Durchschnittlichkeit zum Besten geben . Frau Merkel macht nach dem Besuch der Grünen Woche eine Diät und die Panzerknacker aus Steglitz sind mit ihrer Beute auf dem Weg nach Spanien. Nur die Schulkinder haben nichts zu lachen. Die schauen ängstlich auf den Leistungsbarometer und machen ihre Hausaufgaben. Gespielt wird morgen. Oder überhaupt nicht. 

Dafür spielt aber jetzt Daphne Elfenbein. Sie bastelt und schnippelt und musiziert und unterweist ein nicht essbares Katzentier in Lasertechnologie. Sollen doch die Anderen Fleisch essen und Anschaffen gehen. Frau Elfenbein genießt ihren Tee und lässt die Beine baumeln. Herrlich ist das… so herrlich, dass sie all die Schimpfwörter vergisst, die sie je gelernt hat: Rindviech, Dreckschwein, dumme Gans, blöde Kuh… Signifikant, dass unsere Sprache grade die Namen der Tiere, die uns am Leben erhalten, als Schimpfwörter verwendet. „Was du geliebt hast, sollst du auch töten“ würde Heiner Müller jetzt dazu sagen. Aber der ist ja schon tot. Wurde er auch geliebt? Nach all diesen Filmen hält Daphne Elfenbein es allerdings für unumgänglich, dass wir auch lieben, was wir essen. Drum: Wer gemeinsam mit Daphne Elfenbein aufhören möchte, am Ast zu sägen, auf dem wir sitzen, bitte melden. 

Mit freundlichen Grüßen, 

Daphne Elfenbein

Vorzimmer von Dr. Gott

Leo Fischer: Ostern

Ja, also eigenartig, Ostern. Also wir haben da immer, naja. Wie das halt damals so üblich war. Ja, wir haben uns nicht viel gedacht, es ist ja ursprünglich auch ein heimischer Brauch, und dann ging das eben so. Von statten, wie man so sagte. Das ist ja lustig, da haben die Christen, dass ist teilweise gar nicht bekannt mehr auch. Ganz viele christliche Bräuche sind ursprünglich pure Gewalt, und dann ist da irgendwann einfach noch die Bedeutung dazu. Naja, heute wissen wir es anders. Also einfach genommen und dann ganz tief in die Farbe hineingehalten, bis irgendwann dann ja auch keine Luftblasen mehr aufgestiegen sind teilweise. Das hat uns niemand gesagt, dass das. Nee. Naja, und es war ja auch schön, es gab Geschenke, und die Oma hat auch immer. Ja, so nämlich. Oft gab es etwas zu essen und so, das ist schon auch prägend auch, und es hat ja auch oft die Richtigen erwischt. Es geht ja um Tod und Wiederersterben, das ist ja auch universal so, so uralt als Thema so, da gibt es Klaviermusik dazu. Also zum Tod, heute haben ja viele Angst vorm Tod, aber wir haben den damals. Also für uns, für uns war das. Für uns war das da und auch gemacht. Ja, und wenn wir dann neben den riesigen, den riesigen Farbbottichen waren, und es hat ja auch viel gespritzt auch, und anstrengend war es auch, aber dann. Wir hatten ja auch ganz rote Backen auch und haben geschwitzt auch, aber das war ja auch. Ja und dann oft noch, naja, man war da schnell zur Hand, zu zweit, zu dritt, in die Büsche und einander umeinander, weil ja auch alles so aufregend war. Heute würde ich natürlich nie. Aber klar, naja, es muss ja nicht immer, also so. Manchmal frage ich mich schon.

Robert Alan: Ostern

Die Katze lag hinter dem Werkzeugschuppen meines Opas. Eines ihrer Augen war mit Blut gefüllt und der hintere Teil ihres Körpers war komplett zerdrückt. Der Mund stand offen. Kaum zu glauben, dass ich dieses tote, verformte Ding gestern noch gestreichelt und geschmust habe. Das Fell schien hart und verklebt. Robert da ist nichts! Du bist völlig falsch! – rief meine Mom. Es war ein schöner Tag. Ich wollte, dass er schön bleibt. Also unterdrückte ich die Tränen und suchte weiter mein Osternest.

Andreas Thamm: Die beige Hose meines Bruders

Mein Bruder trug diese beige Buntfaltenhose, die er ganz über den Bauch zog, sodass sie unten seine Knöchel freiließ. Er trug sie zum Wandern. Ganz im Gegensatz zum Rest der Familie war mein Bruder hoch gewachsen und schlank, sein Gesicht kantig und spitz an allen Stellen, die spitz sein können. Zur Buntfaltenhose hatte er, auch das wie immer, wie in jedem Jahr und an jedem Sonntag, ein weißes Hemd gewählt, darüber eine Weste, ebenfalls beige.

Er passte nicht zu uns. Er passte auch nicht zu sich selbst. Er war zu alt, obwohl noch so jung. Er sprach wie andere Aufsätze verfassen, lächelte immer und lachte nie laut. Und wie um den quälenden Umstand, dass er sich fremd fühlen musste inmitten dieser kleinen und pummeligen Familie in ihren karierten Freizeithemden und ausgebeulten Jeans, vergessen zu machen, wie um den Spalt zwischen sich selbst und seinen Eltern zuzuspachteln, biederte er sich an.

Sein Anbiedern an unsere Eltern, die er behandelte, als wären sie andere Eltern, Eltern, die ebenfalls in dieser Hose und mit dieser Weste spazieren gehen würden, widerte mich an. Einerseits. Andererseits, und das hätte ich vielleicht von vornherein dazu sagen müssen, war ich zehn, elf oder zwölf Jahre alt und gern bereit, die Vorzüge dieser Anbiederei zu genießen, denn das bedeutete Schokolade.

Wenn ich heute darüber nachdenke, glaube ich sogar, mein Bruder war in den Vor-Oster-Wochen in diesen Jahren höchtselbst und fröhlich zum Laden marschiert, um die Schokoladeneier für den Ostersonntag zu besorgen. Er marschierte und besorgte, um meinen Eltern zu signalisieren: Das Verstecken der Eier ist eine Aufgabe, die ich euch gern abnehmen will, denn mir liegt der Osterspaß der ganzen Familie, insbesondere der unseres Kleinen, sehr am Herzen.

Man muss sich meine Eltern diesbezüglich achselzuckend vorstellen, wie sie an dem riesigem Wirtshaustisch in unserer Küche sitzen, der ihnen dicht bis unter die Kinne reicht. Sie sitzen und heben und senken die in kleinkariertes und atmungsaktives Material gehüllten Schultern. Im Hintergrund läuft Hausmusik im Radio, der wollen sie eigentlich in Ruhe lauschen können, einmal in Ruhe der Hausmusik lauschen, das wär‘s, denn das gibt‘s heutzutage ja nur noch so selten. Und aus schaumumkränzten Lippen fallen meinem Vater ein paar müde zusammengeklaubte Worte: So. Is scho wieder Ostern.

Das Bemerkenswerte an dieser Hose war nicht etwa die schier unendliche Länge ihrer Beine, das waren beigefarbene Landebahnen, sondern der Umstand, dass mein Bruder sie zum Wandern trug, sie danach aber ebenso sauber zurück in seinen Kleiderschrank hängte wie er sie am morgen herausgezogen hatte. Mein Bruder war im Laufe des Nachmittags natürlich nicht müde geworden, süffisant lächelnd zu wiederholen, dass Wandern in diesem Fall ja vielleicht nicht ganz das richtige Wort und spazieren könne man wohl sagen, allenfalls. Er kicherte und lachte und pfiff sogleich ein Lied.

Wir drei, die anderen, pummeligen, kleinen schleppten uns ihm hinterher, wie er mit langen, beigefarbenen Beinen unaufhörlich plappernd voranschritt, wie er Pfützen und kleinere Tümpel elegant übersprang, tänzelnd den Blindschleichen auswich und mit langen Armen und ohne seinen Schritt zu verlangsamen nach Äpfeln und Erdbeeren griff. Wir drei, die Familie, die hier eigentlich fehl am Platz war, gar nicht mal umgekehrt, trotteten dem Langen nach, weil er glaubte, dass sich das so gehöre, wenn man Eltern hat und einen Bruder.

Wir waren müde und beschmutzt, die ausgebeulten Jeans bis zum Knie in Schlamm getaucht, die Münder verschmiert von Schokolade. Und sicher sehnten meine Eltern sich nach einem überschäumenden Krug voll dunklem Landbier so wie ich mich nach dem Fernseher sehnte. Und manchmal bückten wir uns ächzend hinab zu einem Moos oder einem kleinen Laubhaufen, weil wir darin etwas glitzern gesehen hatten. Hier hatte der Vorauseilende ein in dünne Knisterfolie gehülltes Schokoladenei deponiert.

Nie gelang es uns, ihn dabei zu beobachten. Wir wussten, es würde geschehen. Wir wussten auch, dass er es um meinetwegen tat, dennoch halfen mir unsere Eltern bei der Suche, worum ich sie nie hatte bitten müssen. Und natürlich glaubte niemand hier an den Osterhasen, der ja auch gar keine Sache ist, an die irgendjemand wirklich glauben würde, so wie andererseits das Christkind. Aber dass mein Bruder dahinter steckte, hinter den deponierten Eiern, wie in jedem Jahr, das konnte ihm niemand nachweisen und das freute ihn und mit zur Unschuld verstellter Grimasse sagte er: Ach wo kommen denn die Eier her, wie nett. Da hab ich mich doch nicht getäuscht, als ich meinte, vorhin den Osterhasen hoppeln zu sehen.

Es war unwürdig und widerlich. Ich wollte hier nicht sein, klar war aber, dass niemand den anderen allein lassen konnte. Ich wollte mir nicht ansehen wie er stolzierte. Die Schokolade aber wollte ich schon. Der Bruder kaufte Qualität, darauf konnte man sich verlassen, zartschmelzende süße Masse, die ich am Gaumen zerdrückte, knuspernder Krokant, den meine Backenzähne zermahlten. Am Ende wusste ich nicht mehr, ob mir wegen des Stolzierens, wegen des in der Buntfaltenhose steinhart hin und her schwingenden Hinterns, oder wegen der siebenhundert Mikrodosen Schokolade so übel war. War mir immer übel gewesen?

Ohne dass ich während dieser tatsächlich stundenlangen Ausflüge eine Armbanduhr getragen oder ein Handy einstecken gehabt hätte, wusste ich immer wie weit der Tag fortgeschritten war. Das heißt, die Uhrzeit aus Ziffern hätte ich nicht präzise nennen können, wohl aber die Fernsehsendung, die jetzt anliefe, die ich jetzt hätte sehen können, wäre ich nicht an dieses familiäre Naschritual gebunden. Das verriet mir meine innere Uhr.

Ein leichtes Ziehen in der Brust, wenn Pokemon begann, gefolgt vom aufgeregten Flattern des Herzens, das Digimon bedeutete, diesen herrlichen Abklatsch. Eine stabile Präsenz des Steißbeins, wenn Detektiv Conan anfing zu ermitteln und eine fast hysterische Weigerung in den Haarspitzen, mit der sich Sailor Moon ankündigte. Mutige Kriegerin Usagi, mit dir durfte ich, ein Junge, nur heimlich fiebern und nie wenn andere Jungsfreunde zu Besuch waren. So waren damals die Zeiten. Mit Sailor Moon fieberte jeder heimlich und für sich, ein wohl gehütetes Geheimnis, das sich nur als Geheimnis nicht zum Anschlag auf die noch so fragile Männlichkeit auswachsen konnte.

Fast schwindlig wurde mir, als es Zeit wurde, umzuschalten bzw. Zeit würde, wäre ich zu Hause gewesen. Ich fiel taumelnd etwas hinter meine Eltern zurück und sehnte mich nach Käpt‘n Balus pelzig warmer Pranke und dem eisigen Wind, der den Gargoyles um die steinernen Nasen weht. Ein pünktlich pulsierendes Gehirn bedeutete nichts anderes, als dass ich nun, wegen des immer noch eisern Stolzierenden und Eier Versteckenden auch den Kopfsprung in den Wahnsinn von Roccos modernes Leben und der Tex Avery Show verpasst hatte. Ich hyperventilierte heimlich.

Es spielte aber auch keine Rolle, es brachte nichts, sich diese schmerzhaft bunten Freunde zu imaginieren. Eine echte Nähe konnte ich in meiner Vorstellung nicht herstellen. Ich befand mich im Wald, der Winter war noch nicht wirklich vorbei, an manchen Stellen lag noch Schnee, es nieselte graues Wasser auf unsere Jeans, die sich vollsogen und langsam an unseren plumpen Hüften hinabrutschten, Erdbeeren wuchsen immer nur dort, wo mein Bruder fröhlich ausschritt. In diesem Zustand hätte ich alles gekuckt, selbst das debile Theater der absolut unsympathischen Puppen aus der Sesamstraße. Bloß nicht und niemals Blinky Bill, den komplett verblödeten Koala in seiner roten Latzhose. Dann lieber Wandern mit der Familie als diese Tortur, aber das musste mein Bruder freilich nicht wissen.

Mein Bruder ahnte von all den in mir tobenden Kämpfen ohnehin nichts. Je langsamer seine Familie trottete, desto agiler umkreiste er uns wie ein folgsamer Hund, war mal hier, mal dort, grüßte von einer kleinen Brücke und blinzelte neckisch durch wundersame Astlöcher. Fortwährend plauderte er Durchhalteparolen vor sich hin, nun haben wir es bald geschafft, ein letzter Anstieg noch und lobte abwechselnd die Route, die er selbst ausgesucht hatte, ach, was für ein Ausblick, nein, diese Landschaft, wozu in die Ferne schweifen, und so weiter. Ich spielte derweil mit dem Gedanken, wie es mir gelingen konnte, ihm diese Hurensohnhose einzusauen. Ich wollte mit Anlauf in Pfützen springen und mit Kröten nach ihm werfen, aber nichts traute ich mich, nichts gelang, die Hose war geschützt.

Am Ende fanden wir uns in einer Gastwirtschaft ein, deren Tisch meinen Eltern wie der zu Hause, bis unter die Kinne reichte. Wir stapelten diverse mit Käse überbackene Schnitzel auf die Schokomasse, die bereits am Magenboden schwamm. Mein Bruder aß Salat. Mein Eltern tauchten ihre Nasen tief in die Bierkrüge und waren auf einmal doch froh und ganz rot in den Gesichtern. Aus schaumglitzernden Lippen fiel meinem Vater so ein Satz wie: Na, haben wir das auch wieder geschafft. Und alle nickten zustimmend als wäre das die Weltformel.

Wenn ich heute an dieses Spektakel zurückdenke, wird mir vieles klar. Die Warnsignale, die wir nicht erkannt haben, die wir gar nicht erkennen konnten. Der Wahn, dem dieser junge Mann schon damals erlegen war ohne dass irgendjemand darunter hätte leiden müssen. Diese Welt aus Pappkameraden und Ideen, die er sich zusammengebaut hatte. Die vielen immer schon alten Sätze und Erkenntnisse, die er ununterbrochen von sich gab, als wäre er viele und würde sich zuhören.

An irgendeinem Sonntag im Frühjahr im Wald und ich weiß nicht einmal mehr wie alt ich dann war, ist mein Bruder zum letzten Mal ausreichend bei sich gewesen, um die Eier zu kaufen, die Route im Wanderführer auszusuchen, die Reservierung im Gasthaus vorzunehmen, die Hose aus dem Schrank zu nehmen. Und das war dann dieses berühmte eine letzte Mal, das man begeht, ohne dabei zu wissen, dass es das letzte Mal ist. Das letzte Mal, bevor sich sein Bewusstsein flüchtete und uns zu dritt und allein ließ und endlich hätte sich niemand mehr fehl am Platz fühlen müssen. Und alle taten es.

Nicolai Hagedorn: Ostern

Da erzählt mir doch die mir bis dato vollkommen unbekannte dm- Kassiererin gerade folgende Geschichte: „Ich sollte neulich meinem 6-jährigen Sohn eine Ostergeschichte erzählen und da hab ich dann irgendwas mit Jesus erzählt, der den Kindern sagt, dass nach dem Tod noch nicht Ende ist und so, und da fragte der Kleine nach der Geschichte, ob man dann also nach dem Tod im zweiten Level ist.“

Andreas Lugauer: Max Goldt liest ›zwischen den Jahren‹

Dass Max Goldt, der – man verzeihe mir den eigentlich unpassenden, aber zum Zwecke der Alliteration verwendeten Ausdruck Doyen – der Doyen der Digression, ›zwischen den Jahren‹ im Nürnberger Hubertussaal liest, das ist mittlerweile zur süßen Gewohnheit geworden wie der alljährliche grippale Infekt nach den Weihnachtsfeiertagen.

›Zwischen den Jahren‹, das sagen die Leute, weil ihnen als »Jahr« nur die Zeit ehrlicher Hände Arbeit gilt, was recht hübsch auch durch das Gegensatzpaar »unter der Woche« für die Werk- und »Wochenende« für die arbeitsfreien Tage Sams- und Sonntag illustriert wird. Denn ›zwischen den Jahren‹, da arbeiten normale Leute nicht, sondern geben sich der Erholung, der Muße, dem Skispringen und Biathlon sowie den Verwandten hin. »Biathlon«, mag jetzt jemand einwenden, »läuft doch zwischen den Jahren gar nicht!«, hat damit allerdings unrecht. Zwar findet, soweit hat der Einwender recht, zwischen Weihnachten und Neujahr kein Biathlonwettkampf statt, sehr wohl aber um den Dreikönigstag – und dieser erst beschließt die Zeit ›zwischen den Jahren‹. Wer was auf sich hält, nimmt sich nämlich bis zum Dreikönigstag frei – wenn dieser auf einen Mittwoch fällt, auch noch den darauffolgenden Donners- und Freitag – und startet dann erst ins neue »Jahr«.

Normale Menschen arbeiten ›zwischen den Jahren‹ erst recht nicht an den Feiertagen. Ihnen sind Leute suspekt, die etwa Heiligabend oder die Silvesternacht nicht ›im Kreise ihrer Lieben‹ respektive unter zum letzteren Anlass von der Kette gelassenen ›Feierbiestern‹ verbringen, sondern in Krankenhäusern, Pflege- und Kinderheimen, Polizeistationen, Gefängnissen oder Atomkraftwerken Dienst tun. Wenngleich nicht derart suspekt wie Leute, die an solchen Tagen die ebenfalls aufrechterhaltenen telefonischen Seelsorgedienste in Anspruch nehmen und trotz gemieteter Wohnung und Telefonanschluss, dem nicht die schuldenbedingte Abschaltung droht, in sozialer Hinsicht als obdachlos gelten können. 

»Ob die, die zu solchen Zeiten arbeiten müssen, wenigstens um Mitternacht mit einem Gläschen Sekt anstoßen dürfen?«, fragen sich die Leute besorgt und denken »Gläschen«, weil man zu besonderen Anlässen eben kein ganzes profanes Glas hinunterkippt, wie man es im Alltag macht, wenn man sich am Wasserhahn eines einschenkt und vor lauter Durscht, den einem Heim- und Hand- und Tagwerk verursachen, in einem Zug, der freilich aus mehreren Zügen besteht, unter hör- und sehbarem Schlucken austrinkt und sich anschließend die nassgewordenen Lippen abwischen und hart ausstoßend »’aaaaahh…!« sagen muß.

Ich könnte mich jetzt freilich noch darüber mokieren, daß die Leute in solchen Zeiten auch, obwohl sie das während des »Jahres« höchstens zu Ostern, bei Beerdigungen oder Hochzeiten tun, in die Kirche rumpeln oder Dinner for One …; aber das sollen die Schmöcke tun, wie die Leut’ es ebenfalls tun und halten sollen, wie sie munter, froh und fröhlich wollen. Ich stattdessen male mir nun aus, was Max Goldt dieses Jahr wohl tragen wird. Bei einem der letzten Nürnberger Auftritte nämlich erschien er in quadratisch geschnittenem, groß und grün kariertem Flanellhemd und schwarzbraun längsgestreiften, schlafanzugähnlichen Hosen. Aus Frankfurter Kreisen erfuhr ich, dass er bei der kürzlich dort stattgehabten Lesung wie üblich in unauffällig, in Hemd, Jackett und normaler Hose, auftrat. Aber dort las er auch nicht ›zwischen den Jahren‹.

Immanuel Reinschlüssel: Anconella

Scheppernd schleppt sich das stumpfgefahrene Triebwerk durch die hügelige Landschaft, die im Schein der ersten Sonnenstrahlen nur Konturen preisgibt. Ich höre die Lok ächzen und schnauben, während ich mich inmitten eines einzelnen verwaisten Waggons von ihr durch Täler und Hügel ziehen lasse, mein Schicksal in ihre staubigen Kolben lege. Im Gepäcknetz über mir wackeln meine Habseligkeiten und Mitbringsel hin und her, Geschenke für deine Großeltern, dunkle, ehrliche Schokolade, selbstgerührter Eierlikör, dazu ein Osterbrot aus der Backstube meiner Mutter. Dieser Feiertag, der für sie und ihr Land der höchste im ganzen Jahr ist und mir nichts bedeutet außer einem langen Wochenende und dem sicheren Übergang in die warme Jahreszeit, ausgerechnet er wird über uns entscheiden.

Niederlegung oder Auferstehung, so nah beieinander, einst drei Tage, für uns wohl nur drei Herzschläge voneinander entfernt.

Bis Bologna glitt ich in einem Hochgeschwindigkeitszug durch Voralpen, Tunnel und schwarze Nacht, eine surreale Reise ohne Anhaltspunkt für Raum und Zeit, eine konstante Überforderung der Sinne, die natürlich keinen Schlaf fanden im Angesicht der bevorstehenden, vielleicht letzten Begegnung mit dir. Der Umstieg im leergefegten Bologna Centrale, der sich in gespenstische Stille hüllte als kenne er das Ziel meiner Reise, ein letztes Lufthohlen. Ich hätte umdrehen können in diesem Moment, zum letzten Mal auf meiner Reise, hätte mich auf eine Bank setzen, das Osterbrot brechen und den Eierlikör entsiegeln können, auf den Zug zurück in den Nordnorden, das uferlose der beiden Monacos wartend. Und dann einfach einsteigen und alle Erinnerungen an dich für immer in den tiefsten Brunnen meines Geistes stecken, eine Felsplatte darauflegen und pfeifend nach vorne gehen können.

Doch im wahren Leben gibt es kein zurück und keine Felsplatten für Erinnerungen, sondern nur Niederlegungen und Auferstehung, getrennt durch Phasen heimtückischer Stille.

Also hinein in den schiefen Waggon, als einziger Mensch der Welt zu dieser unchristlichen Zeit an diesem christlichsten aller Tage. Hinein in den Anstieg zur letzten Etappe, hinauf nach Anconella, hinunter ins Reich des Zerberus oder den Himmel auf Erden. Langsam, beinahe unmerklich rollte der Zug aus dem Bahnhof und rumpelte durch das schlafende Bologna, diese letzte Schönheit vor dem Mezzogiorno.

Die Sonne steigt mühsam auf. Wie gerne würde ich den Sonnenaufgang bewundern, dem du seit vielen Wochen wohl genau so jeden Tag beigewohnt hast, die Uhrzeiten deiner WhatsApp-Nachrichten gaben mehr über deine Schlafgewohnheiten preis als deine Nachrichten selbst, nachdem du zu deinen Großeltern gegangen bist, oder sollte ich sagen geflohen. Zurück zum Ursprung, zu dem deine Familie bei allen großen Anlässen zurückkehrt. Die kleine Kapelle sah jeden Bund fürs Leben entstehen, den deine Familie je schloss, und ihr Taufbecken machte euch alle Teil der großen Ganzen, jedes dritte Kreuz auf dem kleinen Friedhof trägt die Namen deiner Ahnen.

Natürlich musstest du nach Anconella, ich hätte es auch ohne deine Nachrichten gewusst. Hier beginnt es und hier endet es, hier kommen Niederlegung und Auferstehung seit Jahrhunderten zusammen, warum sollten ausgerechnet wir die Ausnahme sein? Du musstest an diesen Ort, um dein Herz ganz spüren zu können, diesen unersättlichen Sammler, für den ein einzelner Mann nie mehr als eine Aktennotiz sein konnte, bevor es auf mein Herz traf, das weder Sammler noch Jäger, sondern einfach nur Muskel ist.

Ein Muskel, der seit dem deutschen Monaco verknotet in meiner Brust liegt wie das Osterbrot in seinem Papiermantel im Gepäcknetz über mir. Ein Muskel, der auf seine Bestimmung wartet, die sich auf dem oleanderbewachsenen Bahnsteig von Anconella offenbaren wird, wenn deine stumme Karfreitagsmesse Niederlegung oder Auferstehung predigen wird.

Andreas Lugauer: Nahteufelerfahrung

Für Eilige wird es am Ende dieses etwas längeren Textes eine Zusammenfassung geben.

In der Nürnberger Innenstadt gibt es ein kleines Café namens Treppenhauslounge. Es wird betrieben vom CVJM. Das ist der Christliche Verein Junger Menschen, der deutsche Ableger der – wir kennen sie von den Village People: YMCA, der Young Men’s Christian Association. Die Belegschaft der Treppenhauslounge wechselt häufig, immer aber besteht sie aus jugendlichen und jungerwachsenen Christ*innen von überall auf der Welt, die in ihrem jeweiligen Herkunftsland Mitglied des dortigen YMCA-Ablegers sind. Gelegentlich bin ich vormittags Gast in diesem Café, um vor der Schreib- und Lektürearbeit in einer nahegelegenen Bibliothek ein Frühstück einzunehmen. Es ist ein irgendwie subventioniertes Café und kann deswegen mit marktunüblich günstigen Preisen aufwarten. Das weiß aber kaum jemand, weswegen es dort meist angenehm oder vielmehr unangenehm leer ist.

Folgende Beobachtung mache ich bei diesen Besuchen immer wieder: Oft, wenn ich die Treppenhauslounge am Kornmarkt betrete und, noch bevor ich mir einen Tisch ausgucke und belege, am Tresen meine Bestellung aufgebe, machen die Mitarbeiter*innen so einen seltsamen Eindruck. So, als würde ihnen plötzlich eiskalt ums Heil, als umklammerten sie bei meinem Eintreten geschwind einen Rosenkranz in ihrer Hosentasche so fest, daß die Fingerknöchel weiß hervortreten, ja, als zögen sie augenblicklich einen Bußgürtel fester, auf daß er seine Stacheln noch tiefer ins Oberschenkelfleisch treibe.

Sie verhärten, verhornen dann in spürbar, dennoch verhalten bannendem Ausdruck, als fürchteten sie in meiner Gegenwart die Anwesenheit des Leibhaftigen. Sie scheinen, als glaubten sie ihn fast zu spüren, den großen Verwandler, den Verführer, das Große Thier, das alle ins Dunkel zu locken trachtet – zu spüren als eisigen Hauch, der ihnen vom Nacken aus beckenwärts schießt.

Während sie den Kaffee zubereiten, das Gebäck auf den Teller heben und dann kassieren, scheinen sie, als sagten sie innerlich hastig Ave-Marias auf, und zwar auf Latein. 

Ave Maria, gratia plena,
Dominus tecum.
Benedicta tu in mulieribus,
et benedictus fructus ventris tui, Iesus.
Sancta Maria, Mater Dei,
ora pro nobis peccatoribus
nunc et in hora mortis nostrae. Amen.

Angekommen beim Amen: wiederbegonnen beim Ave, und so in einem fort. 

Ave Maria, gratia plena,
Dominus tecum.
Benedicta tu in mulieribus,
et benedictus fructus ventris tui, Iesus.
Sancta Maria, Mater Dei,
ora pro nobis peccatoribus
nunc et in hora mortis nostrae. Amen.

Ave Maria, gratia plena,
Dominus tecum.
Benedicta tu in mulieribus,
et benedictus fructus ventris tui, Iesus.
Sancta Maria, Mater Dei,
ora pro nobis peccatoribus
nunc et in hora mortis nostrae. Amen.

Ave Maria, gratia plena,
Dominus tecum.
Benedicta tu in mulieribus,
et benedictus fructus ventris tui, Iesus.
Sancta Maria, Mater Dei,
ora pro nobis peccatoribus
nunc et in hora mortis nostrae. Amen.

Ave Maria, gratia plena,
Dominus tecum – und so weiter.

Äußerlich ist ihnen das fast nicht anzumerken, aber ihre Augen wandern kaum merklich unruhig hin und her, so als läsen sie die Zeilen des Gebets vom Blatt.

Verlasse ich das Café wieder, ohne daß jemand hinabgerissen wurde ins Fegefeuer, wirken sie sogleich erleichtert. Die Erleichterung entspringt dem Glauben, erfolgreich einer Prüfung widerstanden zu haben. Der mit meinem Eintreten heraufgezogene Schatten verschwindet, die plötzlich die Sonne verdunkelnden Unwetterwolken lichten sich, das Licht des Herrn bricht wieder in den Laden. 

Die Nahteufelerfahrung ist überstanden. 
Und die verstummten Vögel singen wieder ihr fröhlich Lied.

Hier gibt’s jetzt überhaupt keine Zusammenfassung. Das wäre ja, als schöbe man einen ganzen Leberkäse in den Backofen, büke ihn, schnitte ihn in Scheiben, äße dann aber nur die beiden Endstücke und würfe den Rest unverdaut in den Mülleimer. – Wir sind hier schließlich nicht bei Spiegel Online oder einem von seinen Epigonen. Mahlzeit!

Theobald O.J. Fuchs: Frühstück

Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages. Die Zeitung ist ein wichtiger Bestandteil des Frühstücks. Nicht der wichtigste, aber schon sehr wichtig. Aber die Zeitung kommt heute sehr spät. Durchs Küchenfenster sehe ich die Zeitungsfrau auf ihr Rad steigen und weiter fahren. Ich gehe hinaus, ziehe die Zeitung aus der grünen Plastikröhre, die außen an unserem Jägerzaun befestigt ist. Ich will schnell zurück ins Haus, weil das Frühstück wartet. Im Gehen werfe ich einen Blick auf die Schlagzeilen und bleibe überrascht stehen. Da steht: »Verdacht bestätigt – erster Todesfall seit 143 Jahren!«

Drinnen stehen für mich auf dem Küchentisch dreizehn Sorten Marmelade und elf Sorten Wurst bereit. Ich habe noch nicht einmal angefangen und will doch von allem essen. Von jeder Marmelade einen Löffel. Himbeere, Schlehe, Erdbeere, Zwetschge, Kirsche, Orange, Apfel, Rhabarber, Pfirsich, Johannisbeere, Quitte, Mandarine und Radieschen. Von jeder Wurst eine Scheibe: Bierschinken, Stadtwurst, Gelbwurst, Mettwurst, grobe Leberwurst, feine Leberwurst, kalte Bratwurst, Pfefferbeißer, Bauernseufzer, Räucherschinken und kalte Frikadelle. Immer nur diese Sorten, keine anderen. Und das jeden Tag.

Die Meldung in der Zeitung bringt mich aus dem Tritt, meine Routine ist unterbrochen, ich bin verwirrt. Seit einhundertdreiundvierzig Jahren ist das Rezept für die Unsterblichkeit bekannt. Sofort, nachdem die Formel für ein ewiges Leben bekannt wurde, begannen alle Menschen so zu leben wie die Wissenschaftler es rieten. Im Grunde war es ganz einfach, die Zutaten waren alle längst bekannt, jeder konnte sich einfach und billig mit dem notwendigen Zeug eindecken: Dreizehn Sorten Marmelade und elf Sorten Wurst. Jeden Morgen von jeder Sorte Marmelade einen Löffel, von jeder Wurst eine Scheibe. Dazu Kaffee oder Tee, was man eben bevorzugt, und ein Brötchen, kein Problem. Auch ein Ei oder ein Stückchen Käse – da gibt es keine Vorgaben. Hauptsache Marmelade und Wurst, in der richtigen Menge, die richtigen Sorten. Das Resultat: Unsterblichkeit.

Und nun das: Ein Todesfall, irgendwo in Kanada, in einem kleinen Dorf. Dort ist zum ersten Mal seit einhundertdreiundvierzig Jahren wieder ein Mensch gestorben. Schnell gehe ich ins Haus, setze mich an den Frühstückstisch, beginne Wurst und Marmelade zu essen. Immer abwechselnd, ein Löffel hiervon, eine Scheibe davon, dazu Kaffee und ein Bissen von der Semmel. Wie immer, wie jeden Tag. Wie gestern, vorgestern, vorvorgestern. Wie seit einhundertdreiundvierzig Jahren, jeden Tag. Immer dieselben dreizehn Sorten Marmelade und elf Sorten Wurst.

In der Zeitung steht, der Mann in Kanada ist gestorben, weil er keine Wurst mehr sehen konnte. Weil ihm die Marmelade zum Halse hinaushing. Weil er es nicht mehr ertragen hatte, jeden Tag dasselbe zu frühstücken. Seine letzten Worte hätten gelautet: »Ehe ich noch ein einziges Mal Gelbwurst und Rhabarbermarmelade auch nur anschaue, will ich lieber sterben.«

Das hat er nun davon, denke ich. Hätte sich halt nicht so anstellen brauchen. Selber schuld. Mir schmeckt’s jedenfalls. Mir schmeckt’s sehr gut, jeden Tag, immer dasselbe.
Weil: Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages.