Daphne Elfenbein: Von der Mall of Shame zur kleckerfreien Fließbirne

Seit Daphne Elfenbein ihr lukratives Dasein als Büroratte hinter sich gelassen hat, wo sie nach Herzenslust Kolleginnen gebissen und Kabel durchgenagt hat, bis sie  – äh – befördert wurde, hat sie ein neues Hobby: Shopping! 

Berlin – die Schmuddelmetropole ihrer Träume – hat ja einen Mangel an Shopping-Centern. Das liegt daran, dass die Bauherren so gesetzestreu sind und niemals rumänische Arbeiter für 6 Euro die Stunde beschäftigen. Drum muss Daphne Elfenbein sehr weit fahren, um in das Shopping Center ihrer Träume zu gelangen, wo sie sich einen ganzen Tag lang austobt und immer wieder gern die weißen Handschuhe auszieht, um aus dem silbernen Beutelchen, das niemals leer wird, hübsche Scheinchen über den Ladentisch zu schieben und mit entzückendem Lächeln zuzusehen, wie sie auf Echtheit geprüft werden, um dann Produkte über Produkte einzusacken in diese schicken Einkaufstaschen mit den schicken Logos und den Tragekordeln, an denen jede kleine Hausfrau ablesen kann, in was für Luxusläden Frau Elfenbein ein und ausgeht. 

Dass die Sächelchen später gern bei DER Second Hand-Adresse in Berlin landen, sollte hier eigentlich nicht erwähnt werden, aber nun … der Vollständigkeit halber. 

Irgendwo müssen sie ja hin, die Millionen. Schließlich ist bald Berlinale. Und da braucht Frau was zum Anziehen. Schon bei der Feministischen Modenschau von Karl Lagerfeld ist das außerordentliche Model-Talent von Daphne Elfenbein Reportern von Vogue und Gala aufgefallen. Ein Model ist heutzutage kein feminines Dummchen mehr, dass grade mal zum Poppen taugt. Ein Model hat Betriebswirtschaft studiert, schaut klug und selbstsicher durch Brillengläser in die Kamera mit ihrer gerichteten Aristokratennase und lässt sich von keinem was erzählen. Der Mund kommt von Botox, die Frisur von L’Oreal und die Wimpern von – äh – Chanel. Und der rote Teppich kommt auch gleich angerollt. Aber heut wird nicht flaniert auf der Mall of fame, sondern demonstriert gegen die Mall of Shame. Jawohl. Für mehr Rechte und weniger Gewalt. Für mehr Geld und weniger Arbeit. Für große Lohntüten, die pünktlich ausgezahlt werden. Oder haben die die Rumänen etwa mit leeren Händen wieder heim geschickt, als die Mall fertig gebaut war? Oh je. 

Eine Million Friedenstauben für die Frauen dieser Welt, die zu viel gehauen werden, zu wenig verdienen. Eine Million Friedenstauben, damit die Rumänischen Bauarbeiter in beheizten Bauwagen schlafen dürfen. Frauen in der Politik kriegen allesamt eine Quote und kommen jetzt aus Hollywood in den Bundestag. Das macht Feminismus richtig sexy und auch für Männer angstfrei und potenzfreundlich.

Was ganz Anderes. Damit Daphne Elfenbein sich beim Berlinale-Presseball ihr neues Versace Kleid nicht ruiniert, hat sie sich einen Apfelschneider bei Rossmann-Ideenwelt gekauft. Eine halbe Stunde hat sie vor der strahlenden Auslage von Kurzzeit-Artikeln gestanden, der Lockenstab, die Toastbrotbox, die Knäckebrotbox, die Einweg Click-Box, das Trainings-Armband, die Kaffeepad-Dose, Puh…

Liebe Zuhörerinnen, wusstet ihr, dass Daphne Elfenbein eine Vorliebe für reife Birnen hat? Der 5. Gang beim Presseball-Dinner ist Daphne Elfenbeins glamouröser Höhepunkt. Da bringt ihr das griechische Personal traditionsgemäß eine riesengroße Williams-Birne, goldgelb, nebst einem Schälchen Frischkäse, drei Feigen und einem Messerchen und stellt es mit weißen Handschuhen auf die Tafel. Und da Daphne Elfenbein mit solch gewalttätigen Werkzeugen nicht umgehen kann und aus dem Alter raus ist, wo man sich ein Lätzchen umbindet, um nicht zu kleckern, hat sie sich für die Rossmann-Apfelschneider-Lösung entschieden. Diesen weiß-grünen Küchenhelfer ohne Migrationshintergrund wird sie um Mitternacht diskret aus dem Gucci Täschchen ziehen und damit ihre Fließbirne rituell in 6 gleich große Schnitze zerteilen, sodass der Saft üppig über den Tellerrand schwappt. Und während um sie herum die Größen aus Presse, Film und Fernsehen Name dropping betreiben, betreibt Frau Elfenbein Birnen-dripping. Na ja, sie sabbert noch ein bisschen bei der Obst-Attacke und ihre feministischen Fingernägel kriegen Säure-Flecken. Aber was soll‘ s – auch der liebe Gott hat nur geübt. Dem griechischen Kellner, der ihr eine zweite Serviette bringt, lässt sie später diskret 20 Cent in die Servierschürze gleiten.

Matt S. Bakausky: Wirtschaft als Chance

Ich kaufe am Bahnhof einen Big Mac für die Fahrt. Wussten Sie, dass der Big Mac verwendet wird, um die Kaufkraft in verschiedenen Ländern zu vergleichen? Das habe ich von Herrn Huber gelernt. Ein letzter Bissen vom Burger und der Zug fährt ab. Weg von der Zivilisation, raus in den Wald. Für ein paar Tage werden sie Herrn Huber nicht finden. Ich habe einen Vorsprung.

Ich putze mir die Zähne morgens mit Elmex und abends mit Aronal. Mittags bin ich in der Schule und putze sie nicht. Noch acht mal Zähne putzen bis zum Referat in Wirtschaft. Ich stehe auf einer fünf in diesem Fach. Kombiniert mit der fünf in Französisch würde das eine Wiederholung der Stufe bedeuten.

Noch zwei mal Aronal und einmal Elmex, dann muss ich das Referat halten. Ich habe mir ein wenig Ritalin rein gefahren. Ich habe zwar kein ADHS, jedoch hilft es mir wach zu bleiben. Dazu trinke ich Coca Cola und esse Pringles. Ich hoffe, dass ich mit dem Referat diese Nacht durchkomme.

Herr Huber betritt den Raum. Er stellt seine braune Ledertasche ab. Meine Mitschüler hören auf zu reden. Ich hole die gekritzelten Notizen auf Leitz Karteikarten aus meinem Eastpack-Rucksack. Mein Kopf hämmert leicht, außerdem bin ich übermüdet. Die zwei Aspirin-Tabletten wirken noch nicht. Nach den tagesaktuellen Themen zum Leitzins und der Eurokrise, wendet sich der Wirtschaftslehrer mir zu und fragt ob ich bereit sei. Ja, sage ich wie von selbst.

Herr Huber sitzt an einem Stuhl gefesselt in einem geräumigen Keller. In seinem Mund steckt ein Knebel. Das war nicht Teil seines Studiums gewesen. Nicht Teil seines bisherigen Lebens. Bisher schaute er nur gerne RTL-Krimiserien auf seinem Samsung-Fernseher. Jetzt war er selbst Teil eines Krimis. Er dachte sich, dass das gar nicht mal so schlecht sei.

„Das Referat heute, das war nicht so toll.“, sagte Herr Huber. Das war übertrieben positiv, denn ich verhaspelte mich die meiste Zeit und hatte das Thema kaum verstanden. Außerdem hatte ich die Karteikarten durcheinander gebracht. Ich fragte nach der Note. Eine Vier. Ich fragte ob sich nicht was machen ließe. Leider nicht. Mein H&M-Shirt fühlt sich auf einmal zu eng an. Diese Schuljahr war damit für mich gelaufen.

Ich betrat den Raum. Sagte: „Nicht schreien“. Herr Huber nickte. Ich entfernte den Knebel. „Bitte tu mir nichts, Matt“ sagte der Lehrer, „Lass mich gehen, ich sage niemanden was und du kannst das Jahr wiederholen.“ Das Wort Wiederholen ließ aufgestaute Wut in mir hochkommen, ich griff in die Seitentasche meiner Goretex-Jacke und holte einen spitzen Gegenstand hervor.

Irgendwo in der Pampa in der Nähe von Freiburg im Breisgau, laufe ich durch den Wald. Hexenwald steht auf einem Schild. Die Zähne habe ich seit gestern Abend nicht geputzt. Mein Ziel ist ungewiss, jedoch weiß ich, dass sie mich nicht finden werden. Das meine Schulpflicht getan ist.

Aus der anderen Jackentasche holte ich die Karteikarten mit meinen Notizen. „Lieber Herr Huber ich halte heute ein Referat über die Bilanzanalyse.“ Ich startete den Liesegang-Overhead-Projektor und zeigte mit dem spitzen Teleskopzeigestab auf die an die Wand  geworfenen Diagramme. Ich war komplett in Form. Herr Huber saß nur da und versuchte seine Hände frei zu bekommen, doch der Kabelbinder hielt ihn davon ab. Er kerbte sich in seine Haut.

Noch vierzehn Mal Zähneputzen, dann steht mein Wirtschaftsreferat an. Ich habe mega Schiss vor Referaten. Dieser Druck. Ich komme damit nicht klar. Und dann bereite ich mich auch noch schlecht vor, weil ich schon vorher Angst vor der Angst habe. Ein Valium half anfangs, mittlerweile nicht mehr.

„Und wie war mein Referat?“, fragte ich gespannt. „Du hast… das Thema… nicht verstanden.“, keuchte Herr Huber. „Du hast.. es.. wirklich nicht verstanden.“ „Das hier.. war… schlechter als dein vorheriges Referat! Du hast Fachbegriffe falsch verwendet, der Aufbau war einfach verwirrend und auch rein sprachlich warst du dem Thema nicht gewachsen. Du hast deinem Publikum nicht in die Augen geschaut… Alles was wir besprochen hatten, was ein gutes Referat ausmacht hast du missachtet. Nicht mal meine Fragen konntest du zusammenhängend beantworten. Das war eindeutig… eine sechs“ … Ich kann Herrn Huber nicht in die Augen blicken, sehe nur das kleine Krokodil auf seinem Hemd von Lacoste. Ich nicke, schalte den Overhead-Projektor ab und verlasse den Raum.

Im Wald außerhalb der Zivilisation fühle ich mich wie in einer anderen Zeit. Die Bäume überragen mich, passen auf das mir nichts passiert. An einer Quelle forme ich mit meinen Händen eine Schale und trinke etwas. Ich laufe über die gefallenen Blätter. Es weht ein heftiger Wind. Ich beobachte einen Ast, wie er sich erst biegt, bis er sich nicht mehr biegen lässt und bricht und zu Boden fällt. Ich nehme den Ast als Spazierstock und setze meine Reise fort.

Daphne Elfenbein: Der Zug nach Kötzschenbroda oder wie man zum Berliner Urgestein wird

Dass Daphne Elfenbein vom Himmel gefallen und auf den Füßen gelandet ist bei ihrer Geburt, ist in eingeweihten Kreisen hinlänglich bekannt. Dass sie aber nun, nach mehr als 50 Jahren des Irrens und Wirrens in Berlin angekommen ist, das soll heute über den Äther kundgetan werden. Zu Beginn des Neuen Jahres, wo die Glastonnen aus den Hinterhöfen verschwunden sind und an jeder Registerkasse auf Gedeih und Verderb Bons ausgegeben werden müssen, gibt es doch immerhin diese eine gute Nachricht. Frau Elfenbein ist von der Markgräflerin zum Berliner Urgestein mutiert. Zunächst soll hier in einer Schweigeminute der armen Verkäuferinnen gedacht werden, die bis zu 800 mal am Tag „möchten Sie den Bon?“ fragen müssen. —- (Schweigeminute). Und nun ein konstruktiver Lösungsvorschlag zur Kassenbon-Frage: Verlangen Sie den Bon doppelt! Dann haben Sie ein BonBon! 

Warum aber hat Daphne Elfenbein in Berlin nun ihre Heimat gefunden? Hat sie einen Test in Berlinkunde bestanden? Ist ihr Fell dick genug für die Unverschämtheit dieser Stadt? Nein. Wie jeden Morgen verließ sie heute mit 5 Minuten Verspätung das Haus, um 5 Minuten verspätet zur U-Bahn zu kommen und 5 Minuten später zur Arbeit. Ein wirksamer Auftritt. Doch hierzu gibt es mal eine eigene Sendung. Wenn es mal ein freies Thema gibt. 

Wie ging es weiter? Auf dem Weg zur U-Bahn nahm sie eine scheppernde klappernde Tasche mit leeren Gurkengläsern mit, die in die Altglastonne mussten. Nein, nicht im Hinterhof. Beim Park vorne, 200 Meter die Straße runter. Das erklärt das Zuspätkommen. Wenn die Glastonnen im Hinterhof gewesen wäre, dann wäre sie pünktlich gewesen. Die BSR ist schuld. Müssen die jetzt die Glastonnen aus den Hinterhöfen rausnehmen? Darüber hat sie sich lang und breit ausgejammert auf sämtlichen sozialen Netzwerken, so lange bis es eine Petition zur Wiedereinführung der Glastonne im Hinterhof gekommen ist. Darauf ist Frau Elfenbein stolz. Ihre Nachbarn haben kräftig mitgejammert: Es klappert so furchtbar, ich kann gar nicht mehr schlafen! Und wenn man über die Straße will, sieht man nix, das ist ja lebensgefährlich, mit diesen Glastonnen am Straßenrand. 

Die U-Bahn war dann berlintypisch auch zu spät, wegen einer technischen Betriebsstörung. Technische Betriebsstörung in Berlin kann dreierlei heißen: a) der Fahrer kam nicht zum Dienst oder ist in seiner Laube am gasenden Grill erstickt, den er zu Heizzwecken in sein Schlafzimmer gestellt hat. B) es hat sich wieder jemand vor den Zug geworfen oder ist von einem Irren auf die Gleise geschubst worden. C) es gibt einen Polizeieinsatz wegen Bandenkriminalität. Auch so eine Frage für den Berlin-Test. Aber um wirklich wirklich Berliner Urgestein zu werden, braucht es noch etwas ganz anderes…

Die Glastonnen waren so überfüllt, wie die verspätete U-Bahn. Frau Elfenbein zwängte sich in die Menschenmenge hinein zum BVG-Kuscheltreffen. Der Fahrer brüllte über die Fahrgastinformation: bitte benutzen Sie die Türen des gesamten Zuges. Und jetzt kommt’s: Frau Elfenbein brüllte zurück: „Und wer nicht reinpasst, fährt noch auf dem Dach mit!“ Die Fahrgäste stierten vor sich hin. Eine verzog schmerzhaft den Mund. Frau Elfenbein trällerte den „Zug nach Kötzschenbroda“ und ging beschwingt über den Kudamm: Das war echt Berliner Schnauze!“ Der Test ist bestanden! Daphne Elfenbein steht schon auf der Warteliste für einen Schrebergarten.

Lothar Gröschel: Ofenrohre und Gasflaschen

Manchmal hat man auch Glück und schafft es in einer Viertelstunde vom Prenzlauer Berg bis zum ICC, das sie jetzt nicht abreißen wollen, sondern mit einer Art Haube überdachen. In München würde ja auch niemand auf die Idee kommen, den BMW-Turm, der als zylinderförmiges Symbol die Kraft der bayerischen Ingenieurskunst verherrlicht, einzustampfen, bloß wegen mangelhafter Energieeffizienz oder so.

Das Auto hat mein Vater vor etlichen Jahren bei den Franzosen gekauft und mir neulich gegeben: „Dafür krieg ich nichts mehr, dann nimm’s doch Du, ihr braucht doch ein Auto, das geht.“ Er meinte: ein Auto, das fährt. Und das tut es auch. Nach drei Stunden passieren wir die alte Zonengrenze, die Brücke der Deutschen Einheit, und jubeln theatralisch: „Hurra, wir sind in Franken.“ Ein Ritual von früheren Fahrten, als die Kinder noch klein waren und ein bisschen Abwechslung das Durchhaltevermögen förderte.

Ab Bayreuth zählen wir die Ausfahrten herunter: Trockau, Pegnitz, Weidensees – wie die Ausscheider bei der Bundeswehr ihre letzten 100 Tage – und in Plech verlassen wir die Autobahn. In Ottenhof läuft ein Mann über die Straße: es ist 22.14 Uhr. Hier habe ich noch nie jemanden auf der Straße gesehen – ohne Auto, ohne Bulldog, ohne Panzer.

Kurz vor Betzenstein ein Warndreieck, mehrere Autos stehen am Straßenrand, Feuerwehr ist da, Sanitäter, ein Polizeiwagen steht in einem Feldweg. Männer starren vor sich hin, ein Auto kehrt vor uns um, fährt mit Vollgas in die andere Richtung. Wir rollen am Unfallort vorbei, ahnen nur, dass da unten in der Wiese ein Auto auf dem Kopf liegt. Ist da noch jemand drin?

„Du musst auf die Tiere aufpassen“, sagt Tanja. Kurz darauf steht ein junges Reh auf der Straße, schaut in unsere Richtung, Schrecksekunde, weiß nicht wohin, tänzelt dann auf die Seite und stolpert beim Überqueren des Grabens. Große Aufregung im Auto. Ich fahre jetzt noch langsamer. Meine Leute halten Ausschau nach Wild.

In der Stube ist es noch warm. Mein Vater hat den Ofen geschürt und einige Kohlen drauf gelegt, damit er die Wärme hält. Im Flur riecht es nach Kadaver, als wären fünf Mäuse hinter dem Schrank verreckt. Ich suche nach Bier, es stehen aber nur einige Weinflaschen herum. Dann lieber einen Whisky. Bowmore, schottisch, schmeckt ein bisschen nach Erde, torfig, ist gut, um nach diesem Ritt quer durchs Land wieder runter zu kommen. Dank der Luftheizung sind auch die Schlafzimmer leidlich temperiert: um die 6 Grad werden es schon sein.

Es regnet. Die Wiese ist grün. Die nackten Äste der Obstbäume zittern im Wind. Die Fassade vom Nachbarhaus – mit grauer Patina überzogen: Algen oder Schimmel? Beide können sich im körnigen Mineralputz hervorragend vertiefen. Beim Metzger lasse ich mich von meinen verborgenen Gelüsten hemmungslos verführen. Kaufe Kraut- und Leberwürste, beide leicht angeräuchert, Bauernseufzer, Pfefferbeißer, rohen Schinken und einige Bratwürste. Wenn ich auch nur zur Hälfte katholisch bin: der Besuch einer Metzgerei hier im Oberland ist ein Hochamt. Scheiß drauf: eine Schüssel Fleischsalat muss auch noch sein. Wer das alles essen soll? Die Metzgerin summt während sie mich bedient. Sie summt immer, wenn ich im Laden bin. Sie kann sogar summen, wenn sie mit einem spricht. Hochmusikalisch. Wird man das als Metzgersfrau in Franken?

Tanken bei Esso. Ein Familienbetrieb seit Generationen. Neben mir parkt ein Auto, das ich nicht kenne; aber die Besitzerin des Autos kennt mich. Vor einem halben Leben haben wir – mit anderen 14- bis 17-jährigen aus unserem Dorf – an den Freitag- und Samstagabenden zusammen saufen gelernt. Asbach-Cola, Bacardi-Orange, Persico-Apfel und natürlich Bier waren unsere Lieblingsgetränke. Die Mädchen mischten auch Rotwein mit Cola. Wir trafen uns oft in einer leerstehenden Wohnung, die ihrer Familie gehörte. Wir knutschten damals fast bei jeder Party herum. Und heute waren wir uns fremd. Wann hatte ich sie zum letzten Mal gesehen? Es hätte Liebe sein können. Warum vergisst man selbst solche Dinge? Gut, dass es so ist. Wir gaben uns die Hand zum Abschied. Keine Umarmung. Vielleicht hätten sich unsere Körper dann erinnern können.

Im Haushalts- und Eisenwarenladen steppt der Bär. Eine Frau mit getönter Kurzhaarfrisur, wie sie die Frauen hier tragen, studiert Tassen und Teller in der Abteilung für Geschirr der gehobenen Klassen. Ein Dreitagesbärtiger lässt sich von einer der Angestellten zu Espressomaschinen beraten. Ein Mann mit Arbeitsklamotten steht vor dem Regal mit Akkuschraubern: eine handliche Markita mit 17mA – das ideale Geschenk für den Schwiegervater.

„Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin“, ruft es hinter mir. Der Chef begrüßt mich. Gut gelaunt, wortreich, leicht gehetzt wie immer. Sein Vater, ein Flüchtling wie man hier nach dem Krieg sagte, hat den Laden aufgebaut. Zäher Hund, Geschäftsmann durch und durch. Mir klingt noch das feine, knarzende Näseln seiner Stimme in den Ohren, wenn er zu meinem Großvater sagte: „Was wir nicht haben, gibt es nicht.“ Damit hat er es zu Wohlstand gebracht.

Der Sohnemann schwärmt mir von seiner Liebe zur Hauptstadt vor. „Sie wohnen doch in diesem Bezirk mit der höchsten Kriminalitätsrate, wie heißt der nochmal? Wedding?“

Zusammen gehen wir in den Keller. In diesem Laden kriegt man alles, was man so braucht: Messer, Sägen, Schrauben (handverlesen), verzinkte Nägel, Gewindestangen, Scharniere, Schlösser, Schlüssel, Gartenschläuche, Kühlschränke, Pelletsöfen, Wasch- und Spülmaschinen, Küchenherde, Fahrräder, Sanitärmaterialien, Wasserkocher, und natürlich Ofenrohre. Der Meister sucht mir die passenden Rohre heraus, 120mm Durchmesser. Am Tresen schreibt seine Frau eine Quittung für die graue Kurzhaarfrisur, die sich einen Stapel cremeweißer Teller geleistet hat. Der Chef sagt zu seiner Frau: „Hier riecht es schrecklich nach Zwiebeln, widerlich.“ Seine Frau fühlt sich sogleich angegriffen: „Wie kommst Du darauf, hier hat keiner gegessen.“ Er: „Ein Zwiebelgeruch, das hab ich vorhin schon bemerkt“. Seine Frau: „Ich weiß gar nicht, was Du meinst.“ Sie isst gern, das ist mir schon bei früheren Besuchen aufgefallen: mal ein belegtes Brot, oder ein Nudelgericht aus einer Tupperdose, die neben der Kasse stand. Er: „Das war doch die Kundin, die sich nach dem Laubbläser erkundigt hat. Ein Ausdünstung hat die gehabt, unglaublich.“ Seine Frau kramt in der Schublade, wo die Quittungsblöcke und Stempel aufbewahrt werden.

„Der Mann hier kommt aus Berlin, um sich bei uns Ofenrohre zu kaufen …“, wechselt der Chef nun das Thema. Ich lege zwei Scheine auf den Tisch. Seine Frau schaut mich überrascht an: „Sie wohnen in Berlin? Aber ich kenne Sie doch, Sie kommen von hier, gell?“ Ich nicke. “ Sie sind wohl auf Besuch da? Und bleiben die Feiertage hier?“ „Ja, habe ich vor.“ Ihr Mann gibt mir das Wechselgeld und den Kassenzettel. „Wie lange wohnen Sie denn schon in Berlin?“, fragt mich die Frau. „Hm, das sind schon 25 Jahre.“ Sie hebt den Kopf, zieht ihre Brauen hoch: „Ja, haben Sie dann überhaupt noch Freunde hier? Ich meine, wegen Weihnachten.“ Ihr Mann klinkt sich ein: „Er hat doch noch eine Familie hier, mit der wird er feiern, oder?“

Ich verabschiede mich von der Frau. Ihr Mann geht mit mir nach draußen, schließt das Holzkabuff auf, das sich zwischen seinem Haus und dem Nachbarhaus befindet, und holt eine 11kg-Flasche mit Propangas heraus. Ich öffne den Kofferraum. „Sie fahren doch gleich nach Hause“, sagt er zu mir. „Weil, normalerweise dürfen Sie die Gasflasche nicht in einem geschlossenen Fahrzeug transportieren. Vorschrift! Explosionsgefahr!“ „Echt, hab ich noch nie gehört.“ Er verspricht, mich zu benachrichtigen, wenn er mal wieder nach Berlin kommt. „In diesem Kuhkaff hier hält man es doch gar nicht aus.“

Matt S. Bakausky: Nichtszuverlieren, außer

Im Psychiaterwartezimmer eine Art Stuhlkreis, nur dass die Stühle direkt an den Wänden stehen. Menschenbepackter Raum, ich fühle mich beobachtet. Schweiß, Herzrasen, Zitttern. Gedanken, was die Patienten über mich denken.

Herr Meier wird aufgerufen.

Herr Thomas wird aufgerufen.

Ein neuer Patient kommt hinzu. Draußen die Sprechstundenhilfen am Tippen und Telefonieren. Eine Patientin betritt den Raum. Und noch eine. Schreckliche Augen von überall auf mich gerichtet.

Frau Mühlen wird aufgerufen.

Zwei weitere Patienten betreten den Raum. Circa ein dutzen aufgerufener Patienten und zwanzig neuer Patienten später wird die Stimme in meinem Kopf kurz leiser.

„Herr Bakausky“ tönt es durch den Lautsprecher. Der Arzt zu gut gelaunt, ich vermute er kokst. Ich bekomme Beta-Blocker verschrieben. Der heiße Scheiß gegen soziale Ängste. Vielleicht. Eigentlich zur Senkung des Blutdrucks, können sie auch entspannend wirken. Off-Label, also anders als auf dem Beipackzetttel verschrieben, heißt das.

Große Erleichterung als ich die Tür der Praxis hinter mir schließe. Das ist der beste Moment, das beste an den Arztbesuchen. Nach dem größer und kleiner werdenden Stuhlkreis, kurze Pause vom Stress.

Der nächste Stuhlkreis in der Straßenbahn. Ich fühle mich im Mittelpunkt, denke dass es jedem auffällt, wie ich schwitze, zittere und schaue auf den Boden. Selbsthilfegruppe – der finale Endboss der Stuhlkreise für heute. Ich gehe nicht hin, lieber nach Hause. Vermeiden ist gut. Führt zwar zur Verschlechterung der Symptome, ist aber gut.

Am Abendessentisch fragt mich meine Oma, warum ich sowenig rede. Scheinwerferlicht auf mich. Der ganze Stuhlkreis wendet seine Augen auf mein schwitzendes Gesicht. „Äh, ich weiß nicht“ sage ich kleinlaut. Und schon ist das Thema gegessen und meine Mutter kommt mit dem Nachtisch rein. Warum habe ich solche Angst vor Fremden? Wahrscheinlich habe ich nicht vergessen, dass ich einst von zwei solchen groß gezogen worden bin.

In meinem Zimmer schalte ich den Monitor an und gehe in den Chat. Entspannt auf meinem Stuhl, ohne Kreis, ohne Augen die auf mich schauen. Ich bin der Boss, ich bin es der den Chat lenkt. Kein Zittern, kein Schwitzen, sanft gleiten meine Finger über die Tastatur. Menschen sind gleichzeitig Freund und Feind, hier bin ich jedoch pseudonym, hier kann ich sein.

Zerocool verlässte den Raum.

Hexe verlässt den Raum.

Wursthans betritt den Raum.

Der Bot kickt und bannt Wursthans, weil er spamt.

SevenEleven verlässt den Raum.

EvilSanta, Hackbert und Tiny sind afk.

Zeit herunterzufahren.

Hans-Hermann Plesch: Honigschön

Die Gebrüder Fransig hatten mit einer Erfindung, die sie als Honigschöns Bioelektrischer Autoanzünder bezeichneten und sich wie geschnitten Brot verkaufte, ein Schweinegeld verdient.

Die Erfindung, im Wesentlichen ein Kästchen mit fragwürdigem Inhalt, hätte eigentlich so gut wie jedem einfallen können, ausser vielleicht mir (wegen meiner ausgeprägten Linksfüssigkeit). Viel konnte man sonst damit nicht anfangen, aber es reichte (besonders zu Anfang). Es sollen sich welche bei Anwendung krumm und scheckig gelacht haben, ich habe allerdings nichts davon mitbekommen.

Mein Problem war vielmehr ein anderes. Mit dem vielen Geld, das die Gebrüder Fransig eingesackt hatten, kauften sie den Mäuseberg und störten meine Pläne empfindlich. Mit Arbogast hätten sie sich nie auf diese Weise angelegt, des war ich mir sicher. Das grössere Problem allerdings war, dass sie gar nicht wussten, dass sie mir Probleme bereiteten. (Sonst hätte ich aus meinem wasserdichten Keller herauskommen müssen.)

Das mit dem Keller hatte eine eigene Bewandtnis, das bitte ich vorläufig zur Kenntnis zu nehmen. Es war auch mehr ein Sousterrain, stark gefliest (zur Hälfte in Anthrazit. Das hat mit dem Mäuseberg aber nichts zu tun.) Die Sache ist vielmehr eine andere.

Honigschön bin eigentlich ich. Zumindest im Traum, wo ich umschürzt und schutzbebrillt in einem hohen Raum stehe. Den Anderen kannte ich da noch nicht, sicher aber war, dass ich gegen Abtretung meiner selbstausgedachten Erfindung ein Grundstück erhalten sollte, besagten Mäuseberg nämlich. Dieser war nach Lage und Ansehen förmlich dazu prädestiniert, Ausgangspunkt einer von mir geplanten Forschungsexpedition zu werden. Das alles stand jeden Morgen vor dem Aufstehen so farbig vor mir, als wärs ein gemaltes Bild. Dann setzte ich den linken Fuss auf den Boden und begann zu zweifeln. Auch der Mann im Spiegel, dessen ich wenig später gewohnheitsmässig im Bad ansichtig wurde, war zweifelsfrei nicht Honigschön. Honigschöns Bildportrait war in natürlichen Farben auf seiner Erfindung aufgedruckt und ähnelte mir, auch unter Weglassung des Bartes, nur ungenügend.

So verging Woche um Woche, wobei ich meine Zeit vorwiegend den geheimen Grabungsarbeiten widmete. (Ich hatte meinen Plan keineswegs aufgegeben). Dann änderte sich alles schlagartig. Zwei Beamte suchten mich unter einem Vorwand in meiner Wohnung auf. Sie verhafteten mich wegen Beschädigung des Grundwassers (Eine haltlose Anschuldigung). Wenig später auf der Wache, wurde ich in den Keller geführt und wurde Zeuge eines unglaublichen Vorgangs. Zeitlich war er allerdings eher platzsparend.

Anschliessend bekam ich eine gediegene Schaufel mit einem glänzenden Blatt in die Hand gedrückt. Die Bodenplatten waren zur Seite geschafft worden und ich konnte sofort mit weiterer Grabungsarbeit beginnen. Danach feierten wir ein kleines Fest (bei dem wir lebhaft anstiessen, später auch tanzten).

Den Morgen danach bereute ich bitterlich, aber schon Mittags war ich erneut guter Dinge.  Das mit dem Berg liess ich allerdings danach sein, zumal ich mit Schulze einen frohgemuten Partner für zündende Experimente gefunden hatte. Fransigs setzten später noch Honigschöns Nanotherapeutischen Allesentferner in Umlauf und verbrannten damit eine Menge Geld.

Der Mäuseberg verfiel in Folge und musste künstlich gestützt werden.

Andreas Lugauer: Alles spült

Traurig knöpfte Winfried seinen Hosenstall zu. Die automatische Spülung des Urinals war dieses Mal sogar zweimal losgegangen, während er noch im vollen Schwange uriniert hatte.

»Tragischer Unfall bei Spaziergang« notierte man sinngemäß auf dem Totenschein, nachdem Winfrieds bleiche, aufgeschwemmte Leiche einige Zeit später aus dem Fluss gezogen worden war; eine Fischerin hatte Winfried an einer der Biegungen des Flusses gefunden, dort, wo er so verträumt durch die Landschaft mäandert, bevor er parallel zur maroden dreispurigen Bundesstraße in die Stadt fließen muss.

Der Pfarrer sprach bei der Beisetzung nur die nötigsten, unbedingt vorgeschriebenen Worte und Gebete; nein: er murmelte sie vielmehr. Die beim widerlichen Eintopf seiner Haushälterin zusammenmontierte Grabrede aus Floskeln und Gemeinplätzen verlas er nicht; die Urnenträgerin hielt es nicht für nötig zu verbergen, dass sie in einem Fall wie diesem alles über »Türchen auf – Ürnchen rein – Türchen zu« Hinausgehende für Zeitverschwendung hielt und keinesfalls als »verehrte Trauergäste« angesprochen werden wollte. »Hoffentlich mäkelt diesmal keiner am Beisetzungskostenübernahmeformular herum«, dachte der Pfarrer, als er sein Weihwasserkesselchen zur Sakristei zurücktrug.

Der Nachwelt im Gedächtnis geblieben wäre Winfried, wenn es nur irgend möglich gewesen wäre, dass jemand davon mitbekommen hätte, dass Winfried es als erster (und bis heute einziger) Mensch fertigbrachte, sein Leben zu beenden, indem er durch nichts als einen reinen Willensakt seinen Geist zum Erlöschen brachte – was noch schwieriger ist als sich unter Wasser festzuhalten, bis man ertrunken ist. Winfried gelang es an einer Stelle, an der er nach dem Verlust der Kontrolle seines Geistes über seinen Körper mit ziemlicher Gewissheit die Böschung hinunter in den Fluss gleiten würde.

»Sind ja nur 17 Euro 40, was soll ich mich lang aufregen«, dachte die allseits nur Traudl genannte Gertraud, als sie den unbeglichenen und nicht sicher zuzuordnenden Bierdeckel, den sie beim vom Amt verordneten Schänkeputzen gefunden hatte, wegwarf, »vielleicht gehörte er ja diesem einen, der doch immerzu von dieser Sekte in Delaware redete, die ihn so faszinierte. Der – nach Amerika? Dabei war der wegen der Automaten nicht mal in der Lage, ein Busticket zu kaufen, und den Busfahrer wegen einem Ticket anzusprechen traute er sich schon gar nicht, weshalb er dann bei jedem Wetter mit dem Fahrrad kam. Oh, das Immergrün ist ja kaputt.«

Anja Gmeinwieser: München-Kabul (oder in die nähe) Abflug 09:16 (morgen)

wir sitzen im Garten, in deinem garten, ein gemieteter garten. Um uns herum mäht eine frau den rasen, immer in großem abstand zu unserer decke, dennoch näherkommend. irgendwann werden wir aufstehen müssen. 

das ist die vermieterin, schreist du. 

dir betrachten die vermieterin beim mähen, sie mäht sehr entschlossen, so von körperhaltung her. 

du schreist über das rasenmähermähen hinweg: die vermieterin ist beim bund. morgen muss sie nach afghanistan für drei monate, deshalb mäht sie jetzt nochmal rasen. ich betrachte die frau mit anderen augen, sie ist jetzt eine frau, die heute den rasen mäht und morgen nach afghanistan fliegt, weil sie morgen nach afghanistan fliegt, damit sie morgen beruhigt fliegen kann (nach afghanistan).

ich stelle mir vor, was die vermieterin vielleicht noch tut, heute am tag vor dem flug nach afghanistan. die bundeswehr nimmt keine linienflüge nach kabul, denke ich, die fliegen sicher direkt in den hindukusch, sicher ist da viel weniger flugvorbereitung als bei economy class. 

beispiel-todo-liste vor drei monate afghanistan: 

z.b. nachbarn schlüssel geben, damit der die yucca gießt.

z.b. nachbarn pralinen schenken, damit ers gerne tut. 

z.b. alle offenen und/oder verderblichen lebensmittel checken. z.b. selbige aufessen/wegwerfen/verschenken.

z.b. handwerker beordern, für das mietshaus, dessen rasen gerade gemäht wird. 

z.b. mit den mietern streiten: dürfen diese einen kompost anlegen? ( o ja,  o nein, o zu folgenden bedingungen).

z.b. das pferd im stall besuchen, abschied nehmen, den leuten vom stall instruktionen und geld weitergeben.

z.b. ein letzter ritt über felder. 

z.b. nochmal telefonieren. falls ihre eltern noch leben: auf jeden fall telefonieren.

z.b. einen guten braten essen, schweinebraten, das gibt es sicher länger nicht, ab jetzt.  

z.b. noch einmal mit dem glas guten wein auf dem balkon stehen, ein letztes mal, z.b.rosé. 

z.b. haltung annehmen auf dem balkon. 

z.b. abendspaziergang.

z.b. plausch mit den nachbarn. 

z.b. duschen, beine rasieren, eincremen, zähne putzen.

z.b. Unruhig schlafen.

welches Gefühl hat deine vermieterin für afghanistan? fühlt sie auch die mische aus banalität brachialität beklemmung, oder fühlt sie einfach alltag, der mir, der außenstehenden, plötzlich erst als möglicher alltag in den sinn kommen? 

sie hat eine schöne körperhaltung beim mähen. gibt es gras in afghanistan? mäht da jemand rasen, bei der bundeswehr? Oder ist alles wie auf fernsehbildern ganz graslos? 

ist rasenmähen ihr zeichen für daheimsein? ist vermieterin sein ihre freizeitidentität? 

ich kenne diese frau nicht. 

ich versuche, diese frau ein wenig zu hassen.

ich hasse sie aber nicht.

ich versuche, diese frau ein wenig zu lieben. 

natürlich liebe ich sie auch nicht. 

in drei Monaten liegt ja über dem rasen eine schneedecke, oder?

schippt sie dann schnee, mit der gleichen Haltung, wie sie rasen mäht?

hast du sie angesprochen auf afghanistan? Hast du die fragen gefragt du sagst, was hätte sie tun sollen und schilderst eine lebensgeschichte die ganz kausal beim bundeswehreinsatz in afghanistan endet, die abzweigungen wären hartz oder regaleräumen gewesen, da könne man sich ebenso für krieg entscheiden, da verdiene man wenigstens. in der logik mancher leute, sagst du, macht das sicher sinn. 

die raseninsel, auf der wir sitzen schrumpft, das getöse um uns wird lauter, die kreise, die die vermieterin um uns herumzieht werden enger, sie  beginnt schon, uns zu beäugen, wir äugen zurück und sind natürlich still jetzt.

bei anderthalb meter stehen wir auf und nehmen die decke, damit der tag weitergeht, damit sie morgen fliegen kann. 

Joe Wentrup: Alles fällt auf einen Tag

Wenn die Sonne am tiefsten ihre Bahn zieht und am frühesten erlischt, dann gedenken wir den Tod des Sonnengottes, des Mitras, von Rom – flüchtig mit Bibelversen übertapeziert – dereinst als neues Produkt präsentiert: als Jesus, beauftragt, das Reich unter seinem milden Blick zu stärken.

Doch halt – gedenken wir an diesem Tag nicht der GEBURT des Sonnenkindes? Auch dies trifft zu, denn auf den kürzesten Tag folgt immer auch ein längerer – Mitras erwacht zu neuem Leben. Doch noch ist dieses schwach und unbedeutend, noch wird es kälter, der Frost überzieht das Land, die Welt verharrt in Totenstarre.

Erschöpft kroch Jesus aus dem Schützen und starb im Steinbock – umgeben von elf weiteren Zeichen: seinen Jüngern. Am Himmel regiert nun die Dunkelheit, die Schwarze Sonne: Sie ist Saturn, der schwächste mit bloßem Auge sichtbare Planet – auch Satan genannt. Es ist die Zeit der Unterwelt, der Dämonen und des Jenseits.

Erst im Februar gewinnt Mitras langsam seine Macht zurück, die Menschen schöpfen Mut und beginnen hinter Teufelsmasken alles Zwielichtige zu verhöhnen und zu verscheuchen, im ekstatischen Treiben des Karnevals. Doch noch hat Jesus, Ra, die Sonne, Mitras, seinen Thron nicht bestiegen.

Bis zur Tag- und Nachtgleiche wird es dauern, daß der Göttliche seinen Platz einnimmt. Doch erst muss er nun den pietätvoll verschobenen Tod der Wintersonnenwende sterben und wie das winterliche Zentralgestirn sodann drei Tage scheinbar tot verharren – bevor er schließlich prächtig strahlend aufersteht!

Die Menschen sind erlöst; Weihnachten und Ostern auf einen Tag gefallen! Baalsfeuer brennen, gleich Hase und Kaninchen rammelt man zu Ehren der Fruchtbarkeitsgöttin Ostara – ihr Name sagt es: im Osten geht die Sonne auf – und reicht ihr und auch den Seinen als Gabe mehr oder minder lebensspendende Eier:

  • Ein gelbes, besonders süßes, das die Zahnärzte gelegt haben.
  • Ein rotes, mit dem Versprechen, dem Proletariat die Kontrolle über die Produktionsmittel zu verschaffen (wobei es sich – wie sollte es schon anders sein – umgekehrt verhält).
  • Ein grünes, ebenso verdreht gelegtes – aber immer eilfertig darauf bedacht, kein Nestbeschmutzer zu sein.
  • Ein violettes, welches eigentlich verdient hätte das rote zu sein, wäre da nicht der Beigeschmack von Zweitakt-Abgas und Norm-Eierkarton.
  • Ein schwarzes, unter Protest gereicht, da ich hier das Christentum entlarve (als würden sie das nicht die ganze Zeit selber tun).
  • Und schließlich ein blaues mit braunem Inhalt – welcher gewiss keine Schokolade ist.

Ich wünsche allen ein frohes Sonnenfest!

Robert Segel: Stiller

Stille.
Immer wieder diese Stille, atemlos und unschuldig.

Eine kalte Nacht, selbst in dieser Region.
Eine beschwerliche, eine trostlose Nacht.
Und immer wieder diese Stille.
Eine einzelne Kerze, die schummriges, rußiges Licht spendet.
Eine Kerze, die keine Wärme spenden kann.
Dazu abgekämpfte, raue Männer, die keinen Schutz vor dem harten Wind suchen, sondern das Neugeborene sehen wollen.
Männer, die seltsame Geschichten aus einsamen Nächten am Feuer murmeln.
Und dazwischen, wenn die Mutter den Blick auf das Kind freigibt, immer wieder diese Stille.
Vor dem Neugeborenen werden die zermürbten Männer, die so laut sein können, immer wieder plötzlich still.
Absolut still.
Ihre Tiere, die sie mitgebracht haben, rühren sich kaum.
Die Welt um sie herum wird still, man hört nicht einmal mehr den harten Regen fallen. Und selbst die Eltern werden still, nur die Mutter spricht ab und zu ein paar leise Worte zu ihrem Kind, so als wäre diese Stille zu intensiv für sie.
So stehen sie alle, Mensch, Tier und Welt, um das kleine, rotwangige Bündel herum, das in ihrer Mitte im warmen Stroh liegt und könnten ihre Aufmerksamkeit, atemlos und unschuldig, nicht von ihm lassen, selbst wenn sie es wollten.
Dieser kurze, unendliche Moment scheint zu intensiv für alle von ihnen.
Eine Stille, wie sie die Welt damals brauchte.
Eine Stille, wie sie die Welt auch heute noch braucht.
Eine Stille, wie sie die Welt auch morgen noch brauchen wird.

Die Kondenswölkchen vor ihren geschlossenen Mündern werden seltener.
Dabei hatte man sich das ganz anders vorgestellt.
Jeder, der die alten Schriften lesen kann und
jeder, der jemanden, der die alten Schriften lesen kann, zuhören kann, hatte sich diesen Menschen, den Grund dieser intensiven Stille, ganz anders vorgestellt.
Viel mächtiger.
Viel auffälliger.
Viel lauter.
Stattdessen immer wieder diese Stille.
Stattdessen frierende, ängstliche Eltern.
Stattdessen ein kleiner Verschlag, der die kalte Nacht nicht ganz aussperren kann.

Einige hatten in den alten Schriften von einem König gelesen.
Von einem König, der prunkvoll über alle Landstriche herrschen solle,
der die korrupten Machthaber vertreiben solle,
der endlich Frieden und Sicherheit bringen solle.

Stattdessen dieser kurze, unendliche Moment, so leise, wie ihn die Welt bis an das Ende ihrer Zeit benötigen wird.
Stattdessen ein kleines, rotwangiges Bündel im Stroh, das selbst Frieden und Sicherheit nötig hat.
Stattdessen atemlose, sprachlose Menschen an seiner Seite, die es so viel besser wissen in diesem Augenblick als die alten Schriften, obwohl keiner von ihnen lesen kann.

Denn vor ihnen liegt die Erkenntnis, dass kein König kommt, dass ein unschuldiges, stilles Neugeborenes kommt. Und sie wissen nicht, wie sie das so selbstverständlich erkennen können, doch sie spüren es.
Ihr Gespür dafür ist so intensiv an diesem Abend, dass sie ihre eigentliche Aufgabe vernachlässigen, fast jeder von ihnen, die Mutter nicht.
So intensiv, dass sie wildfremde, dunkle Männer ganz nah an ihren größten Schatz lassen.
Sie alle spüren, dass er es ist, eingewickelt in alte Decken, gegen die Kälte,
er, von dem in alten Schriften seit langem gesprochen wird.
Sie alle spüren, dass er es ist, der zum größten Schatz aller Menschen werden soll und werden wird.
Sie alle spüren, ganz ohne Anflug von Mitleid, dass er nicht mächtig ist, dass er nicht auffällig ist, dass er nicht laut ist, jetzt noch nicht.

Jedem von ihnen geht im Laufe dieses Abends derselbe Gedanke durch den Kopf – ob die alten Schriften veraltet seien, da ein König hier ganz und gar unpassend wäre.
Denn Machthaber sind zu laut,
Machthaber haben eigene Ziele,
Machthaber interessieren sich nicht für Leute, die in kalten Nächten Tiere hüten oder in windigen Holzbaracken gebären müssen.

Doch vor ihnen liegt die Erkenntnis, dass nicht die alten Schriften veraltet sind,
sondern der Begriff des „Königs“.
Ein wahrer König vermag es, eine Stille zu erzeugen, wie sie die Welt bis zum Ende ihrer Zeit benötigen wird.
Ein wahrer König hat keine eigenen Ziele und kommt genau zu den Leuten, die in kalten Nächten Tiere hüten oder in windigen Holzbaracken gebären müssen.
Ein wahrer König hat keine Macht, er gibt sie an die einfachen Leute weiter, an die, die sich Macht nicht zutrauen.
Und so erleben an diesem Abend die wenigen Menschen, die das Glück, oder vielmehr die Bestimmung haben, das Neugeborene kennen lernen zu dürfen, diese intensive Stille als ein göttliches Geschenk,
als Abkehr von allem, was das Leben erschwert und den Blick trübt für das, auf was es wirklich ankommt.

Die rauen, zermürbten Männer wenden sich schließlich ab, viel zu bald und viel zu plötzlich in ihrer Erinnerung, und gehen ihrer alten Aufgabe nach, die sie so vernachlässigt haben, ohne es zu bereuen. Sie wenden sich schließlich ab, nicht ohne warme Herzen und ungewohnt sanftes Lächeln auf schmutzigen Lippen.
Sie wissen nun, dass es in ihrer Welt auch Stille geben kann, intensive, wertvolle, geschenkte Stille, die den Blick freigibt für das, auf was es wirklich ankommt.
Sie werden ihre Erkenntnis mit allen Menschen teilen, denen sie noch begegnen werden, mit sanftem Lächeln auf schmutzigen Lippen.
Sie werden es nie bereuen.

Zurück, in einem kleinen Verschlag, der die kalte Dunkelheit nicht ganz aussperren kann,
bleibt die noch junge Familie,
frierend, aber hoffnungsfroh.