Matthias Rische: Besitzlos

Ein Junge robbt durchs Unterholz. Sein Gesicht ist dreckverschmiert und von Ästen und Dornen zerkratzt, die Haare mit Erde und Laub überzogen. Die Armeejacke am Rücken zerrissen. Noch einige kräftige Züge mit den Unterarmen und er hat die Straße erreicht. Ein erstes Ziel. Unentdeckt.

Es ist finster. Die Chance, gesehen zu werden, verdammt gering. Solange er sich im Schutz der Bäume bewegt. Als sich seine Atmung beruhigt, zieht er sich an einem kräftigen Baumstamm in die Höhe. Die Oberschenkel fühlen sich an wie Watte. Aus der klammen Hose ragen nackte Füße. Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis er dem Wald entkommen ist.

Jetzt, wo er steht, ist sein Alter schwer zu schätzen. Unter dem Dreck im Gesicht, verbergen sich sehr weiche Züge. Er könnte ein zu groß geratener Zwölfjähriger, ein Jugendlicher oder gar ein junger Erwachsener sein.

In der Dunkelheit sind Lichtreflexe oder Autoscheinwerfer weithin erkennbar.
Macht es Sinn zu warten, bis ein Wagen vorbeikommt? Aber wonach soll er entscheiden, welcher ihm Sicherheit bietet?

In welche Richtung soll er sich bewegen? Auf der Suche nach einer Ortschaft! Er hat keine andere Wahl, als sich Hilfe zu holen. Er weiß nicht, wo er ist. Er kann sich für keine Richtung entscheiden. Also hat macht er es wie immer. Das vierte Auto, egal woher es kommt, ist seines. Es ist immer die vier, sobald eine Lösung gefunden werden muss.
Die Automarke ist nicht zu erkennen. Mittelklassewagen schätzt er.                       

Eine dunkelhaarige Frau sitzt hinter dem Steuer, lässt auf elektrischem Weg das Fenster auf der Beifahrerseite herunter. Die Frau ist nicht mehr jung. Er wundert sich darüber, dass ausgerechnet sie angehalten hat. Sie hat etwas zu verlieren.           
Das bestärkt ihn darin, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.                       

Sie wirkt nicht erschrocken. Lediglich einen Tick irritiert. „Komm erzähl mir eine Geschichte!“, sagt ihr Blick, unterstützt durch ein offenes Lächeln.              
Sie ist auf der Suche nach einem Abenteuer. Eines, welches sie bei ein paar Flaschen Wein ihren gelangweilten Freundinnen darbieten kann. Die Wahrheit ist ihr egal. Das kann er ihr bieten.                        

Stumm streckt er seinen Arm aus und deutet vage in die Fahrtrichtung. Beinah schüchtern öffnet er die Tür und gleitet auf den ledernen Beifahrersitz. Geräuschlos setzt sich der Wagen in Bewegung. Die Scheinwerfer schneiden nur unvollständige Bilder aus der Dunkelheit. Hier einen abgeschlagenen Baum, dort feuchten Asphalt. „Lore. Ich bin Lore. Dein Name interessiert mich nicht. Ist eh nur gelogen. Bist du schon lange auf der Flucht?“ Er setzt ein verständnisloses Gesicht auf. Zuckt die Schultern. Er ahnt, was die Fremde in ihm sieht. Ein gebrochenes Häuflein Mensch, dem man böse mitgespielt hat. Sie hält ihn für vierzehn, vielleicht fünfzehn. Für einen Jungen, der versucht seinen bösartigen Rabeneltern zu entkommen. Einen Jungen, der Hilfe und ein wenig Zuspruch braucht.      

Schon streicht ihre beringte Hand durch sein sandiges Haar. Zieht sie angeekelt zurück, sucht nach einem Stück Stoff, an der sie sie abwischen kann. Das wird sie kein zweites Mal versuchen. Beinahe hätte er gelächelt.                    

Verlegen reibt er seine Jeans zwischen angewinkelten Zeigefinger und Daumen, als wolle er sie nicht anschauen. Vor Scham.          
„Ivo“. Er erzählt den Namen seinem Knie. Irgendetwas muss er ihr bieten. Der vierte Buchstabe. Beim der Letzten hieß er Emre. Beide Namen passen zu seinem südländischen Aussehen. Wie seine Mutter ihn einst taufte, hat er vergessen. Zu lange schon benutzt er Phantasienamen. Erzählt, wenn es überhaupt notwendig wird, Phantasiegeschichten.            

Mutter ist vor drei Jahren an Krebs gestorben. Sein Vater kommt gar nicht mehr klar. Hat zu saufen begonnen. Verprügelt ihn, beinahe täglich. Das ist die harte Story. Eltern nach der Geburt verstorben. Seine alte Großmutter hat ihn liebevoll großgezogen. Vor einigen Tagen lag sie tot in ihrem Bett. Er hat sich zu ihr gelegt. Sie festgehalten. Dann sei er wie in Trance, ohne zu wissen, was er tat, durch die Stadt gezogen.                

Bei den meisten Leuten fließen schon weit vor Ende der Geschichte die Tränen.        

Die erzählt er nicht so oft. Er will nicht ihr Mitleid. Er will, dass sie sich um ihn kümmern. Für ihn sorgen. Gerne dürfen sie ihn auch im Kinder- oder Jugendnotdienst abgeben. Da gibt es warmes Essen, ein frisches Bett, manchmal Taschengeld.      

Die Dunkelhaarige wird ihn mit nach Hause nehmen. Das sagt ihm seine Erfahrung. Ihn einige Tage verwöhnen. Mit allen Annehmlichkeiten, die ihr zur Verfügung zu stehen. Dass das nicht wenige sind, zeigt ein Blick auf ihre Ringe.        

Wieder muss er ein Lächeln unterdrücken. Wie gut er in den vergangenen zehn Jahren gelernt hat, Leute einzuschätzen. Anhand weniger Worte oder Gesten zu erspüren, zu lesen, wie er sich verhalten muss. Wie sich die Menschen ihm gegenüber geben werden. Wann es Zeit wird, Kurzbeziehungen abzubrechen.    

Dabei kam ihm sein zunächst kleiner Wuchs, sein zierlicher Körperbau zugute. Er wirkte schon immer jünger als er tatsächlich war. Vorgestern, allein im Wald und bei einem lodernden Lagerfeuer hat er seinen 23. Geburtstag gefeiert. Er hat die letzten Jahre noch einmal an sich vorbeiziehen lassen. Da sind viele gute Erinnerungen. Begegnungen mit Menschen, die immer nur das Gute im anderen sahen. Die er über Tage und Wochen ausbeuten konnte. Materiell und emotional. Zwei waren dabei, da machte er nach der ersten Nacht, dass er schnell wieder weg kam. Beide Male Männer. Die waren ihm unheimlich und sie rochen extrem schlecht. Er hatte das Gefühl, die waren auf der Suche nach einem Betthasen, den sie locker beherrschen konnten. Nicht, dass er sich davor scheute, seinen Helfern auch körperlich zur Verfügung zu stehen. Schließlich ging es um Geben und Nehmen. Egal ob Mann oder Frau. Aber opfern oder benutzen lassen wollte er sich nicht.  

Einmal wurde es brenzlig. Da hatte er es mit einer Story so weit übertrieben, dass das hilfreiche Ehepaar sich genötigt sah, die Polizei einzuschalten. Bei den Bullen tat er so, als verstehe er kein deutsch. Sprach nur gebrochen englisch. Aufgrund seines jungen Aussehens, haben die ihn dann ans Jugendamt vermittelt. Heimunterbringung. Ohne, dass sie Zähne oder Handknochen vermessen hatten. Anhand dieser Untersuchungen war sehr schnell nachweisbar, dass er nicht mehr jugendlich war. Das hatte er gelesen. Ob man damit auch seine Herkunft bestimmen konnte, wusste er nicht. Aber irgendeine Untersuchungsmethode dafür, gab es bestimmt.    

Er will nicht meckern. Er hat viele Städte gesehen, in einigen Ländern. Hat noch nie für seinen Lebensunterhalt arbeiten müssen. Was will man mehr.        

Er lässt seinen Kopf gegen die dunkle Satinbluse der Frau sinken und schließt die Augen. Er spürt ihren prüfenden Seitenblick. Der Wagen gleitet weiterhin ruhig durch die Nacht. Es hat sich gelohnt, einige Tage unterzutauchen. Für sich selber und auch mal hungrig zu sein. Das schärft den Blick für das Angenehme.

Wer weiß, wie lange die Tour noch funktioniert. Das Leben hat es gut mit ihm gemeint, den Haarwuchs am Körper lange zurückgehalten. Ehe er seiner Retterin morgen früh Gesellschaft leistet, muss er sich erst ganz genau im Spiegel überprüfen. Aus jedem Gesicht verschwindet irgendwann die Jugend.        
Für die nächsten Tage ist er sicher.                  

„Weck mich, wenn wir da sind, Lore!“                              

Daphne Elfenbein: Das Märchen vom Waldbaden

Es war einmal eine Elfe. Die lebte auf einem Baum. Der Baum stand mitten im Wald der im Sommer herrlich nach Zedernholz roch und im Winter nach  dem feinen Moder gefallener Nadeln.  Die Vögel begannen im März ihr Konzert und im Herbst zogen sie in lärmenden Schwärmen über die Wälder  hinweg.  

Gerne ließ sich die Elfe an sonnigen Tagen in einer Astgabel zum Mittagsschlaf nieder. Dabei ließen die Schatten der Äste im Wind Sonnenflecken auf  ihrem Gesichtchen tanzen. Den Winter durchschlief sie meist in einem hohlen  Stamm, der an einem Bach stand. Erst wenn es kalt wurde, verschwand sein  liebliches Gluckern und Plätschern unter starrendem Eis. Doch wenn die ersten  Rinnsale sich wieder lösten und die Vögel zurückkehrten, putzte die Elfe ihre  Flügel und flog übermütige Kreise und Schleifen um Blumen und Bäume herum. 

Da kam eines Tages ein großer alter Elch und sprach: Kleine Elfe. Komm in die  große Stadt. Dort wartet ein wunderbares Leben auf dich. Du kannst arbeiten  und Geld verdienen und wohnst in einem schönen Haus und am Wochenende  gehst du ins Kino. Schau. Ich selbst arbeite schon lange bei einer Bank und habe  Geld auf dem Konto für das ich mir alles kaufen kann: Elchkühe, Zähne, Häute,  Wassertränken aller Art, und im Winter gibt`s heiße Kastanien. Gibt es auch  Elfen in der Stadt?, fragte die Elfe und zirbelte mit den Flügeln. Sehr wohl, sagte  der Elch: Viele interessante Elfen. Du wirst staunen. Ach ich weiß nicht recht,  murmelte die Elfe, und wippte im Takt ihres Herzschlags davon.  

Des Nachts konnte die Elfe nicht schlafen. Zu schön klang das Leben, das der  Elch ihr vorgemalt hatte. Und hatte sie selbst nicht längst genug von dem ein samen Leben im Wald? Es wurde Herbst. Es wurde Winter. Und immerzu dach te die Elfe an die Worte des alten Elchs. Arbeit,  

Geld, Kino, viele aufregende Elfen… Es war an einem Novembertag, an dem sie ausgiebig ihre Flügel putzte, Nüsse und Honigwaben sammelte und zum hohlen Baum trug zur Vorbereitung auf den Winterschlaf. Doch diesmal war der Baum besetzt. Ein dicker fetter Dachs machte sich breit in ihrem Winterdomizil. Hau ab, grunzte der nur und drehte ihr sein Hinterteil zu. Jetzt reicht`s mir aber, sagte die Elfe und schmiss ihre Sachen hin. Denn mit dem Dachs wollte sich keiner im ganzen Wald anlegen. Ich geh in die Stadt, rief sie, jawohl! Und schon packte die Elfe ihr Bündelchen und flog mit ihren frisch geputzten Flügeln in die Stadt.  

Als sie klein war, hatten ihre Eltern sie oft mit dorthin genommen. Damals hatte  sie ihren Elfengeschwistern alle alle Reklameschilder vorgelesen, an denen sie  vorbei geflogen waren. Die Elfe konnte nämlich lesen. Und nun war die Elfe  schon groß und flog ganz allein in die Stadt. Als Erstes ging sie zur Bank. Die lag direkt neben der Börse: Bitte, ich möchte Herrn Elch sprechen, sagte sie zu der  Frau am Schalter, die sie verwirrt anschaute. Dann drehte sie sich um und rief  zu ihren Kolleginnen: Schaut mal! Eine Elfe! Eine Elfe! Die Anderen eilten herbei  und riefen: Ja dass es so etwas noch gibt. Aus dem Wald, rief eine. Was? Gibt es  noch Wald?, fragte eine. Und da kam auch schon der Herr Elch im feinen Anzug  aus dem Backoffice: Ja guten Tag liebe Elfe. Ich freue mich, dass du zur Vernunft  gekommen und in die Stadt gekommen bist. Endlich, rief er und breitete die  Arme aus. Die Elfe flatterte auf seine Schultern. Zeigst du mir wohl, wo mein  Baum ist?, und Ihre Flügel summten. 

Und so kam die Elfe in die Stadt.  Der Herr Elch zeigte ihr einen unbewohnten Dachsbau in einem Mietshaus, einen Laden, in dem es Honig und Nüsse in Gläsern und Plastiktüten gab und ein Büro, wo sie jeden Tag hingehen musste zum Geldverdienen. Letzteres leuchtete ihr zwar nicht so ganz ein. Doch der Elch versicherte ihr, das habe schon alles seine Richtigkeit. Jeder müsse sich nützlich machen. Aha, meinte die Elfe und nickte vage.  

Und so zog sie ein in einer kleinen Betonschachtel und ging täglich ins Büro.  Eines Tages aber lief ihr der Dachs über den Weg. Tollpatschig strollte er über  die Straße und ein Mercedes machte eine Vollbremsung direkt vor seinem fet ten Hinterteil, das jetzt noch fetter geworden war. Die Elfe blieb stehen: Was  machst du denn hier? Nu nä, grunzte der Dachs, das mit dem Wald war nicht  mehr so mein Ding. Man wird älter… außerdem hab ich einen Job bei der Börse  bekommen. Die Elfe legte das Köpfchen schräg an den Flügel und überlegte: Ja,  eigentlich… das mit dem Wald war auch für mich nicht mehr so… 

Und so nahm das neue Leben seinen Lauf. Sie fuhr U-Bahn. Sie fuhr im Bus. Sie  kaufte hinter großen Glasscheiben allerhand ein, und am Samstag ging sie ins  Kino. Alle anderen Tage flog sie in einem Büro herum und trug auf ihren dünnen  Ärmchen Papierstapel hierhin und dorthin. Sie tippte schwarze Buchstaben auf  einen weißen Bildschirm, von dem ihr die Augen brannten. Sie lernte, dass ihre  Arbeitskollegen alle so taten, als seien sie keine Elfen. Denn sie waren nie zum  Spielen aufgelegt. Immer guckten sie ernst und streng und schüttelten missbilli gend den Kopf, wenn die Elfe jubelte, weil draußen Blütenstaub in unsichtbaren  Wolken durch den Äther stob.  

Es ging nicht lange und die Elfe wurde krank. Sehr krank. Immer war sie müde. Und nie hatte sie Lust zu irgendwas. Sie fing an komische Sachen zu machen: dass sie immerzu gegen die Wand flog in ihrem Zimmer oder Nächte lang mit hohem Flügelschlag an der Decke neben der Lampe hing wie ein gefangener Nachtfalter. Es wurde so schlimm, dass sie sterben wollte. Der Herr Elch sagte, nimm eine Aspirin, und geh zum Arzt. Der Arzt betastete Panzer und Flügel der Elfe und befand: Eigentlich bist du ganz gesund. Das ist bestimmt psychosomatisch 

Ich gehe zurück in den Wald, sagte die Elfe zu einer Nachbarelfe. Das ist mir alles zu komisch hier. Ich will nach Haus. Es war schon  wieder Frühling geworden und sie vermisste so sehr das Gluckern des Baches beim hohlen Baum, den Duft der Schneeschmelze und der ersten Veilchen. Be stimmt ist mein Baum jetzt wieder frei, dachte sie, packte ihr Bündel und flog  zurück in den Wald.  

Aber ach! Der ganze Wald war gerodet. Ihr Baum war nicht mehr da.  

Der Bach war begradigt und verlief unter der Erde. Sie musste das Ohr fest an die Erde pressen, um ihn zu hören. Der hohle Baum fehlte gänzlich. Die Erde war aufgeschürft wie eine einzige große Wunde. Oh weh! Rief sie, wo ist mein Wald? Wo soll ich jetzt hin? Im Torkelflug landete sie wieder vor der Haustür ihres Mietshauses. Ja hast du denn nicht die Zeitung gelesen?, fragte der Elch. Es ist doch allgemein bekannt, dass die  Bank den Wald roden lässt. 

Es ist eben der Stress, das Wetter, die Jahreszeit, sagte der Doktor, der am  nächsten Tag ihr rasendes Herzchen abhörte. Dann setzte er sich hinter seinen  Schreibtisch und holte den Rezeptblock aus der Schublade. Ich verschreibe dir  Waldbaden, sagte er.  

Waldbaden? Fragte die Elfe und schüttelte den Kopf.  

Du weißt nicht was Waldbaden ist?, fragte der Arzt, du bist doch eine Elfe. Ja ja, meinte die Elfe, und ließ den Kopf hängen.  

Waldbaden beruhigt, sagte der Doktor. Und Ruhe ist, was du jetzt brauchst.  Dann gab er ihr noch eine CD mit Vogelstimmen. Da, die musst du jetzt jeden  Abend zum Einschlafen hören. 

„Waldbaden ist gut gegen Krankheiten aller Art“, stand in dem Prospekt der Krankenversicherung. Die zahlte von nun an für das regelmäßige Waldbaden. Dazu musste sie lange im Zug fahren. Dann stand sie auf einem Parkplatz in einer großen Gruppe von Elfen auf Krücken, an Rädern, hustend, bleich wie der Tod. Die Elfe selbst war nur noch Haut und Knochen, winzig und blass mit durchsichtigen Flügeln. Der Waldtherapeut schnallte ihr einen Rucksack auf den Rücken. Ein Experte hielt den Neuankömmlingen einen Vortrag: Dieser Badewald gehört der Elch-Bank und ist zertifiziert wegen seines hohen Gehalts an Zedernöl. Hier liegt im Übrigen auch der Ursprung der Elfen! Am Bach könnt ihr das heilsame Plätschern des  Wassers hören. Aber ihr müsst immer auf den auf den vorgezeichneten Wegen bleiben…

Jacinta Nandi: Keine passive Hausarbeit

Mein Kumpel Jens ist heute wieder vorbeigekommen, weil er babysitten will. Na ja, vielleicht ist „will“ hier ein bisschen übertrieben. Aber er ist bereit, das zu machen, was mich total freut.

Jens zeigt sich sehr überrascht, dass ich Baby Leo gerade ein Märchen vorlese.

„Meinen Kindern habe ich nie Märchen vorgelesen!”, sagt er stolz.

„Die Armen!”, sage ich gleichgültig.

Er guckt mich unsicher an.

„Aber Jacinta”, sagt er, „ich dachte, du, gerade du als Überfeministin würdest diese altmodischen sexistischen Geschichten ablehnen? Das sind so schlechte Rollenbilder, die den Kindern dort vermittelt werden! Die Prinzessinnen sind so passiv, machen nur Hausarbeit, und machen das sogar gerne! Und warten drauf, dass sie gerettet werden von so einem Prinzen!”

Jens‘ Einstellung gegenüber Märchen und den Rollenbildern, die sie vermitteln, finde ich nicht besonders originell oder ungewöhnlich. Die Idee, dass Märchen sexistisch sind, vielleicht sogar frauenfeindlich, ist weit verbreitet.

Im Dezember 2012 sagte zum Beispiel sogar die damalige Frauenministerin, Kristina Schröder, dass sie die Grimms‘ Märchen für „sexistisch” halte. „Da gibt es selten eine positive Frauenfigur”, sagte sie im Interview mit der Welt, und deswegen hatte sie vor, „auch (!) andere Geschichten mit anderen Rollenbildern” vorzulesen.

Der Shitstorm, der drauf folgte, war genau so sinnlos wie vorhersehbar. Da sie im selben Interview gewagt hatte zu sagen, dass sie das N-Wort nicht laut vorlas, brach Deutschland in kollektive Empörung aus. Es war echt lächerlich, muss ich sagen, sogar als Märchen-Fan, sogar für deutsche Verhältnisse. Denn wer bitte schön liest seinem Kinder NUR Grimms Märchen vor? Sogar jemand, der nur Märchen vorliest, würde ab und zu Andersen oder russische Volksmärchen vorlesen, nur zur Abwechslung! Und es liest niemand nur Märchen vor, alle Eltern lesen auch manchmal Bobo, Conny, Julia Donaldson… Wo die Wilde Kerle Wohnen. Es wäre genau so albern, nur Märchen zu lesen wie nur bei McDonald‘s zu essen oder nur Britney Spears zu hören. Und dass eine Familienministerin das macht, weil sie ihren Kindern verschiedene Vorbilder geben möchte: ist das echt so empörend?

Die britische Schauspielerin Keira Knightley hatte auch eine ambivalente Beziehung zu Märchen, sie hat nicht alle Märchen aus dem Kinderzimmer verbannt – aber „Aschenputtel“ und „Die Kleine Meerjungfrau“ schon. „Ich bin sehr vorsichtig mit Märchen bei meinem Kind, weil ich nicht die Botschaft mag, die sie vermitteln” erklärte sie 2019 USA Today.

Und in einem Bustle.com-Artikel „5 Ways Fairy Tales Affected You Without You Even Realizing It“ von 2016 behauptet die Journalistin Claire Warner, dass Märchen uns mehr beeinflusst hätten, als wir es wahrnehmen:

„Während Männer im Märchen ihren Wert beweisen, indem sie zeigen, dass sie körperlich stark sind – auf Gralsuche gehen oder Glasberge erklettern –, bleiben den Frauen nur typisch ‚weibliche‘ Aktivitäten wie Kochen oder einfach nur Rumsitzen und schön Aussehen….Vielleicht scheint das gar nicht so wichtig, aber in einer Welt, in der Frauen die meiste Hausarbeit machen, ist diese Vorstellung so zu unterstreichen mit Märchen nicht gerade hilfreich.”

Der Hauptvorwurf an Märchen ist also: Die Frauen und Mädchen in Märchen sind passiv, machen nur – und gerne – Hausarbeit – und warten drauf, von einem Prinzen gerettet zu werden.

Also, den Vorwurf von Frauenfeindlichkeit finde ich ziemlich fair. Die böse Stiefmutter, die Königin, eigentlich eine Hexe, die Babys frisst, so wie bei den „Drei Raben“ oder „Zwölf Schwänen“, das ist noch schlimmer als der frauenfeindlichsten Mist, mit dem jemals in der Boulevardpresse eine Hartz-IV-Mama oder sogar Meghan Markle beworfen wurde. Und der Tod der Hexe in Schneewittchen: gewalttätiger und hässlicher als Quentin Tarantinos schlimmste Fantasien – sie muss in eisernen Schuhen im Feuer tanzen auf der Hochzeit ihrer Stieftochter mit ihrem Prinzen.

Ob ich die Tatsache, dass die Protagonistinnen in Märchen meistens hübsch oder sogar schön sind, an sich sexistisch oder frauenfeindlich ist, weiß ich nicht. Ich denke, es ist wie bei der ehemaligen Familienministerin: Wenn kleine Kinder nur diese Geschichten hören würden, wäre das vielleicht eine schädliche Lektion. Besonders wenig hilfreich ist, dass „schön“ und „brav“ immer gleichgesetzt wird. Und „schön“ und „blond“ heißt in englischsprachigen Märchen beides fair, was ich als rassistisch, aber nicht als sexistisch empfinde. Ich finde es aber ein bisschen unfair, das Märchen an sich vorzuwerfen – niemand hat uns verboten, unseren Kindern indische oder andere Märchen vorzulesen.

Märchen sind also sicherlich nicht unproblematisch, aber ich finde den Vorwurf, dass die Protagonistinnen passiv sind und “„gerne” Hausarbeit machen, während sie auf einen Mann warten, der sie rettet, ziemlich unfair. Macht Aschenputtel etwa gerne ihre Hausarbeit?  In der Disney-Version vielleicht, aber eigentlich geht es in dieser Geschichte darum, dass sie ihre Hausarbeit gerade nicht machen will, sondern zum Ball gehen, tanzen, schön sein. In der englischen Version, „Cap O’Rushes“, ist sie sogar gar nicht passiv, sondern schmeißt absichtlich einen Ring, den der Prinz ihr geschenkt hat, in die Brühe. Und ich finde, dass in vielen Märchen, in denen Protagonistinnen Hausarbeit machen müssen – und eigentlich ungern machen –, sie dieses Hausarbeit sehr unpassiv nutzen, um sich zu befreien, von der Armut, aus dem Elend – oder manchmal sogar aus einem tatsächlichen Turm.

Mein Lieblingsmärchen ist zweifellos Rapunzel – ein Märchen, in dem Schwangerschaft zweimal vorkommt (in der ursprünglichsten Version dreimal). Aus Heißhunger verkauft Rapunzels schwangere zukünftige Mutter das neugeborene Baby an die reichen Hexe, die neben an wohnt und Salate zieht. In der ersten Version der Geschichte, die die Grimms veröffentlichten, findet die Hexe raus, dass Rapunzel mit einem Mann geschlafen hat, weil das Mädchen sie fragt, warum ihre Taille so dick geworden ist. In der Version, die wir unseren Kindern vorlesen, unterläuft Rapunzel nur noch ein Freudscher Versprecher, sie verplappert sich. Und als der Prinz und Rapunzel sich wiederfinden, im Wald, hat sie ein Zwillingsbabys auf der Hüfte – vielleicht ist das Wort ‚vorkommen‘ hier ein bisschen übertrieben, aber wer Zwillingsbabys trägt, hat auch geboren, alleine im Wald. 

„Passiv” zu sein, kann man Rapunzel nicht vorwerfen, finde ich. Sie MUSS am Anfang „passiv” sein, denn sie ist tatsächlich EINGESPERRT in einem Turm, seit ihrem 6. Geburtstag. Ihr aber diese Passivität als Charakterschwäche vorzuwerfen, ist albern. Bevor sie den Prinzen kennenlernt, weiß sie gar nicht, dass sie eingesperrt ist, dass ihre Adoptivmutter sie missbraucht. 

Ich finde nicht, dass Rapunzel brav und passiv auf Rettung wartet. Ja, im Turm, bevor sie den Prinzen kennenlernt und dadurch Männer und ihre eigene Sexualität, weiß sie gar nicht, dass sie befreit werden kann oder soll. Aber sofort nachdem sie den Prinzen kennengelernt hat, macht sie MIT ihm GEMEINSAME Pläne darüber, wie sie sich befreien könnte. Und dann benutzt sie Hausarbeit – ihre Näh- und Flechtkünste,  um JEDEN TAG ihrem Ziel von Freiheit näherzukommen. 

Okay, es stimmt, der Prinz hätte ihr einfach eine Holzleiter bringen sollen, um ihre Flucht ein bisschen zu beschleunigen. Und es stimmt, dass sie jeden Tag auf seine Ankunft warten muss, um mehr Seide zu bekommen, um weiter an ihrer Fluchtstrickleiter zu arbeiten. Es ist ein doofer Plan, aber kein passiver. Und ich finde, wer alleine im Wald gebärt und sich und seine Kinder mit Früchten und Nüssen ernährt, ist nicht passiv.

Hier wird traditionell weibliche von einer gefangenen Frau genutzt, um sich aus ihrem Gefängnis zu befreien. Wegen IHRES Fehler wird sie nicht befreit, sondern aus ihrem Turmverlies verbannt. Und ich finde auch nicht, dass der Prinz sie rettet. So gar nicht. Sie rettet ihn, indem sie ihm sein Augenlicht wiedergibt mit ihren Salztränen – sie rettet ihn viel mehr, als er sie rettet, und ich vermute, dass alle die glauben, die Protagonistinnen in Märchen sind passiv, haben einfach die Handlung von „Rapunzel“ vergessen.

Dass man traditionell weibliche Arbeit benutzen kann, um sich zu befreien, kommt auch in „Hänsel und Gretel“ vor, eins von vielen Märchen ohne Prinzessin übrigens. „Hänsel und Gretel“ ist unglaublich frauenfeindlich – warum will die Hexe Hänsel und nicht Gretel essen? Ich habe das immer komisch gefunden. Und die Tatsache, dass die Stiefmutter vorschlägt, die Kinder sterben zu lassen, und der Papa macht mit, ist aber moralisch unschuldig – das finde ich sehr fragwürdig. Wie viel Macht hat diese Frau denn über ihn? Ich finde ihn eigentlich schlimmer als die Stiefmutter – es ist sein Fleisch und Blut, das er versucht zu töten, er ist derjenige, der versagt in seiner Elternrolle, mehr, als ein Mensch versagen kann. Die letzte Seite von „Hänsel und Gretel“ macht mich immer sehr wütend: Wie er sich freut, seine Kinder mit geklautem Gold und geklauten Juwelen zu sehen – und wenn sie ohne finanzielle Absicherung nach Hause zurückgekehrt wären, würde er vielleicht noch mal einen „Spaziergang” organisieren, oder was? Arschloch, echt ey.

Aber ist Gretel passiv? Ich mag diese Geschichte trotz des Fake-Happy-Ends deswegen so sehr, weil die Kinder gar nicht passiv sind, sondern immer am Tricksen. Hänsels Idee mit den Steinen ist so gut, die Idee mit dem Knochen noch besser – aber Gretels Idee, so zu tun, als ob sie basic household tasks nicht draufhätte, ist einfach genial. Auch Gretel macht nicht gerne Hausarbeit, und sie wartet nicht darauf, dass ein Mann oder ein Prinz sie rettet. Sie benutzt die Tatsache, dass sie Hausarbeit machen muss, um sich selbst zu befreien und um ihren Bruder zu retten. Und vielleicht ist es brutal und frauenfeindlich die Hexe im Ofen zu verbrennen in einer Zeit, in der so viele unschuldige alte Frauen als Hexen verbrannt wurden. Aber ich muss  zugeben:  mein feministisches Herz findet es trotzdem gut.

Wir können die Protagonistinnen in Märchen auslachen dafür, dass sie „nur” Hausarbeit machen – oder wir können anerkennen, dass sie oft so viele Skills, so viele Fähigkeiten in diesen Sachen haben, dass sie dadurch auffallen. Die Baba-Jaga-Geschichten sind sicherlich frauenfeindlich in ihrer Darstellung von Stiefmüttern, die Hexen als Schwestern haben und absichtlich ihre Stieftochter deswegen hinschicken, wenn der Mann weg ist – aber die Arbeit, die das Mädchen macht, ist schwere körperliche Arbeit. Und sie macht sie nicht gern – genau wie Aschenputtel muss sie Körner sortieren. Sie macht es NICHT gern. Und wird dafür belohnt, dass sie es trotzdem gut macht und auch ein gutes Herz hat.

Mein zweitliebstes Märchen ist die englische Version von „Rumpelstiltkin“. In „Rumpelstilzchen“ prahlt ein Müller, nur weil er angeben will, dass seine Tochter Stroh zu Gold spinnen kann. Hier sieht man, dass Hausarbeit nicht unwichtig ist, sondern dass sich die Geschichte darum dreht. Er gibt an mit den Fähigkeiten, mit den Hausarbeitsskills seiner Tochter – und bringt sie dadurch in Lebensgefahr. Ich finde auch, dass die Müllerstochter bzw. neue Königin später für ihre eigene Rettung selbst verantwortlich ist. 

Die englische Version ist fast genau gleich, fängt aber lustiger an. Die böse Fee heißt Tim Tat Tot, ansonsten ist die Geschichte fast dieselbe. Eine Frau backt fünf Kuchen – und ihre Tochter frisst die alle weg an einem Tag (aus einem doofen Missverständnis, aber auch, weil sie gierig ist, denke ich!) 

Die Mama ärgert sich – und welche Mutter kann das nicht nachvollziehen – und versucht, ihren Frust loszuwerden, indem sie ein wütendes Spottlied über ihre Tochter singt:

My darter ha‘ ate five, five pies today.
My darter ha‘ ate five, five pies today.

Ein König läuft zufälligerweise an ihrem Garten vorbei, hört das Lied und fragt: Was singst du da? Die Mutter schämt sich zuzugeben, wie viel ihre Tochter an einem Tag gegessen hat und singt jetzt:

My darter ha‘ spun five, five skeins today.
My darter ha‘ spun five, five skeins today.

Allein wegen der unnatürlichen Fähigkeit dieser Tochter (auch wenn es eigentlich gelogen ist), fängt die ganze Geschichte an. Ich finde es sehr wichtig zu betonen: Wer fünf Kuchen an einem Tag wegfressen kann, ist nicht „passiv.”

Die Ablehnung von Märchen ist angeblich eine feministische, feministisch begründet, und ich finde auch, dass die bösen Figuren in Märchen viel zu oft weiblich sind. Und niemand soll seinen Kindern ausschließlich Märchen vorlesen. Aber die Vorstellung, dass es in Märchen nur um Prinzessinnen geht, kommt davon, wenn man zu viel Disney guckt. (Disney mag ich auch, aber genau wie man nicht nur Märchen lesen soll, darf man nicht nur Disney gucken!) Aber ich finde, es ist ein Denkfehler, wenn man Märchen deshalb ablehnt. Sie sind eigentlich oft voll von tollen, klugen, tapferen, inspirierende Frauenfiguren, und die beschäftigen sich mit Hausarbeit GENAU DESWEGEN, weil es oft das einzige war, was Frauen machen durften. Sie sind nicht passiv, sie sind gefangen, und in vielen Märchen retten sie sich selbst und in manchen fängt die ganze Aktion nur an wegen eines Fehlers der Hauptfigur. Wer seinen Kindern keine Märchen vorliest, weil er nicht möchte, dass sie Frauen und Hausarbeit in Verbindung bringen, soll in meinen Augen lieber, Conni boykottieren oder The Tiger Who Came to Tea! Bei Märchen kann man den Kindern wenigstens sagen, dass die Frauen damals keine andere Arbeit machen durften. Bei The Tiger Who Came to Tea hat diese arme fucking Hausfrau echt keine einzige Freundin, die sie vielleicht spontan besuchen könnte, ihre Isolation muss unerträglich sein. Ich liebe Märchen, ich liebe es, dass durch die harte Arbeit und angeborenen Fähigkeiten oder Tugenden Menschen befreit werden können. Obwohl, es stimmt wirklich: Der Prinz hätte Rapunzel einfach eine große Holzleiter bringen sollen! 

Und wisst ihr noch was? Die Art und Weise, wie man auf deutsch Märchen beendet, ist einer der schönen Sätze der Welt. Und bei meiner Heldin Rapunzel und ihrem Prinzen stimmt es noch mehr als bei allen anderen: Wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute. 

Martin Knepper: Der trunkene Hausrat

Ein reicher Mann ist einmal ausgegangen, er wollt mit anderen Reichen speisen,  gerade, wie es die feinen Leute immer tun. Da aber haben die Dinge in seinem  Hause sich gedacht, dass sie sich’s auch einmal wollten gut gehen lassen. Und es  war ein Schrank unter ihnen, der hat den Bauch voll des Branntweins gehabt,  den tät er den anderen kredenzen. Und sind sie alle lustig worden und immer  wilder in ihrem Übermute; der alte Stiefelknecht tät sich auf die Chaiselongue legen, das Geschirr hat munter auf dem Tische geklappert und ein Hifthorn und  eine Tanzgeige, die haben ihnen dazu aufgespielt, die waren froh, dass sie sich  hören lassen durften; denn es hätt sie ihr Herr nur zum Zierrate an die Wand  gehängt, denn er war kein Musikus und pflag viel lieber dem Klingen der Taler  zu lauschen tagein, tagaus. Doch wie sie alle sind immer trunkener worden, ist  ein Streit aufgekommen, es war ein alter Stiefel wohl eifersüchtig auf einen  jungen Käs geworden, der hat mit seiner Bürste getanzt. Und hast du nicht  gesehen, gab ein böses Wort das andere, das Tintenfass hat mit dem Brotkorb das  Raufen angefangen, da traten dann auch Kerze und Schirm hinzu, und  schließlich hat die ganze Gesellschaft, die eben noch so munter miteinander ist  gewesen, einander Wims und Knuff gegeben. Und als unser lieber Herr Jesus,  der an seinem Kreuze an der Wand gehangen, ein begütigendes Wort spricht, hat  ihn der Wandschirm gepackt und in den Ofen geworfen, denn der Wandschirm  war aus dem fernen Nippon und achtete der anderen Götter nicht. Und noch  manch andres hat sein Leben ausgehaucht in dieser Rauferei, der Feuerhaken tät  ein ganzes Regiment von Tellern erschlagen, ein altes Buch ward in der  Waschschüssel ersäuft und gleich vieles mehr. Unter all dem kommt der reiche  Herr nach Hause und mag es gar nicht fassen, was er sieht, spricht „Weh!“ und  „Ach!“, und da er einen Schritt in die Stube macht, fällt er über ein sterbendes  Schemelchen, schlägt unglücklich mit dem Kopfe auf eine ohnmächtige Bain  Marie und war selbst hinüber. Und weil er ein alter Hagestolz gewesen ist, hat er  keine Kinder gehabt, und was noch zu gebrauchen von seinem Hausrate, das  ward in alle Welt verkauft. Manche haben’s besser funden, andere schlechter, just  wie es so geht in der Welt. Das Hifthorn aber ist zu einem Jägersmann  gekommen und fürderhin alle Tage an der guten Luft gewesen, war fröhlich  allzeit und hat nimmer der alten Tanzgeige und des Heilands im Ofen gedacht.

Zeha Schmidtke: Das Märchen von der Ameise und der Grille und ihrem gemeinsamen Feierabendpilz

Eine Grille hatte den ganzen Sommer über musiziert, während die Ameise für den Winter Getreide sammelte.

In Wahrheit nun taten es beide längst schon im Gefühl des zeitlos Immergleichen. Zu jeder Zeit und an allen Orten waren sie verfügbar für Königin und Publikum. Die Ameise durfte ihre Königin sogar duzen und fuhr mit ihr auf teambildende Erlebniswochenenden. Die Grille fiedelte auf den Bällen ihrer vermögenden Fans lustig zum Buffet. Selbst wenn sie insgeheim so manches Mal alledem schrecklich müde waren: Solange sie gebraucht wurden, konnten sie nicht untergehen im Mahlstrom des Weltengewimmels. So war ihr Glaube, und er stand fest.

Da aber kam ein Virus in die Welt, angsteinflößend unbekannt. Bilder von Toten und atemlos Kranken machten die Runde, und Sorge fuhr in alle Glieder. Das Leben blieb fortan daheim. Die belebten Plätze waren’s nimmermehr. Selbst im Ameisenhaufen wimmelte jede nurmehr noch für sich, allein in ihrer kleinsten Zelle. Und das Rad des Alltags, das niemals stillgestanden hatte, kam so schnell zur Ruh, dass jede Kreatur sich ungläubig die Augen rieb. Hatte es nicht immer geheißen, dass sein Schwung auch die Welt in Drehung hielt? Zum ersten Mal herrschte die Stille, und sie summte in den Ohren, als wären alle Nashornkäfer zugleich auf Paarungsflug.

„Nun also“, sprachen Grille und Ameise gemeinsam, „ein Neues ist ja stets auch Chance. Lasst uns fürs Erste Vorräte ausgeben; wir sind hier ja beileibe nicht arm.“ Als nun aber die Säcke zu den Wartenden gebracht wurden, da blieb’s doch wieder recht beim Alten: Wer vorher schon sehr viel besaß hatte, erhielt nun viel zum Ausgleich. Wer vorher aber wenig hatte, dem wurde nun noch weniger zuteil. „So hat es für alle einen Verzicht“, erklärten die Ameisen von der Ebene Verteilung, „und so sind wir es auch gewohnt. Wir wollen ja schließlich, dass es weitergeht.“ Da kam über die kleinste unter den Grillen ein bergegroßer Zorn. Sie hatte stets allein musiziert, in den allerkleinsten Ackerfurchen, wo immer man sie nur ließ, doch stets im Geiste für alle. Und alle wussten das, dessen war sie gewiss. Doch nun hatte man ihr aus dem Vorrat grad mal einen freudlosen Klumpen Hartz zum Mümmeln zugedacht. „Ging Euch Euer täglich Tun im Takte meiner Melodien nicht leichter von der Hand?“, fragte sie mit bitterer Zunge. „Und habt Ihr Euch nicht meine Verse vorgetragen, wenn Ihr von Liebe spracht? Und wenn mein Lied dann lief und ohne jeden Cent, spracht Ihr dann nicht: Sie spielen unser Lied?“ „Jawohl“, riefen da alle Grillen zum ersten Mal gemeinsam, „wir füllen Eure freie Zeit rund um die Bullshit-Jobs mit Poesie und Rausch. Mit Hoffnung, Sehnsucht, Lebenssinn. Wenn wir nicht wären, hättet Ihr längst vergessen, dass es das Streben nach dem Schöneren gibt. Wo hat es noch Momente, die nicht zweckgebunden sind? Nur in der Kunst und nicht in Eurem Alltagsleben! Und ist Euch das so wenig wert? Wollt Ihr all das schlicht verlieren? Es wird ein böses Ende nehmen, wo es den Freigeist bräuchte und doch die Krämerseele federführt.“

Diese Worte aber weckten in der mittelmäßigsten der Ameisen eine unbezähmbar speiende Glutwut: „Warum denn sollen wir Eure Künste höher preisen, als Ihr es selber tut? Ihr stellt Euch doch auf jedes Brett und unter jedes Licht, wenn man Euch nur ein Publikum verspricht. Und als das Virus kam, habt Ihr da nicht höchstselbst all Eure Kunst gleich online preisgegeben, bevor man auch nur Lockdown sagen konnte?“ – „Und gab es Elend vielleicht früher nicht?!“, führten es die anderen Ameisen eifrig weiter. „Gab’s vorher keine, unter Euch und unter uns, die still und heimlich längst schon nur am Krümel Hartze nagten? Habt Ihr die aufgefangen? In ebendieser Solidarität, nach der Ihr jetzt krakeelt, da es nun auch die Lauten von Euch trifft? Freilich, der Mensch ist so, dass ihm erst eignes Elend als unerträglich scheint. Doch sagt Ihr ja, dass ihn die Kunst verändern kann. Wo sieht man das bei Euch? Was ist denn die Lobpreisung Eurer hehren Kunst noch anderes als Preisen heiliger Ablassware? Spirituelle Krämerseelen, die Ihr seid, habt Ihr an dieser Welt genau so mitgewirkt.“      

Wild fuchtelten Insektenbeinchen durch die Luft und vor den starren Augenpaaren. Ameisenpiss schoss durch die Luft, man hörte Grillenzangen schnappen, und Kampfeshass nahm schnell Gestalt. An Mindestabstand dachte niemand mehr.

Da trat ein seltsam Wesen zwischen sie in ihre Mitte, von platter Art in der Gestalt und sprach über das heiße Schwirren: „Hört, hört. Ihr kennt mich gut. Mein Name ist in aller Munde. Ich bin die Wanze Systemrele und ohne Neigung zu einer Partei. Drum lasst Ihr mich im Ring hier richten. Für meine Arbeit will ich nichts. Es reicht mir, dass Ihr aufeinander schlagt. Denn so erkennt Ihr an, dass es auch weiterhin so bleibt. Und ich mich an Euch laben kann, was Wanzen nunmal tun, hurra, die Runde Eins.“ Und dann, schon gar so kurz vor Zwölf, dass es niemand mehr glauben könnte, wenn das hier nicht ein Märchen wär, da kam Moral in die Geschicht’ – und zwar vom Grunde her. Der Boden öffnet sich und spricht: „Das, was Ihr Boden nennt, auf dem ihr kraucht, bin alles ich. Ich bin der Pilz, der größte, ält’ste Organismus hier, ich muss jetzt schließlich sprechen. Weil Ihr nun nicht erkennen könnt, dass Euer Unterschied Ergänzung heißt. Dass es das Spiel und seine Wartung braucht. Das Daheim und das Wolkenkuckucksheim. Die Wild- und die Geborgenheit. Ameisengrillen in der Welt, mit ernstem Spaß. Sonst wird das nix.

Nun hatte ihr ja so viel Zeit, Ihr Evolutionierten, dass es heißt: Es ist schon nix geworden. Mein fungizider Vorschlag also, gutes Ende, das noch kommen kann: Ihr macht nun einfach alle weiter. Oder auch nicht. Macht’s, wie Ihr wollt. Und ich wachse gemächlich drüber. Und füge uns zusammen. Zu der Gemeinsamkeit, die Ihr alleine nicht schafftet. Das tut nicht weh und kostet nichts.“

Und seitdem ist es also so. Wir machen weiter oder nicht. Und Pilz gibt uns die Sporen. Denn jener Virus, vom dem hier zu sprechen war, das ist nicht dieser aus dem Hier und Jetzt. Nein, die Geschichte ist schon eine Weile her, wie jedes Märchen. Und heut ist längst schon mittendrin im Einigwerden. Du kannst den Hautpilz gern noch einmal niedersalben, auch am Fuß. Auf die paar Tage kommt’s nicht an.

So gibt es dann zum guten Schluß, zum Feierabend Pilz für Dich, mich, jede, jeden. Und wenn wir nicht gestorben sind, sind wir dann endlich alle einig eins.

Theobald Fuchs: Tapezierer – Gefährder oder gefährdet, so viel ist unklar!

Wie gefährlich sind Tapezierer? Ist das massenhafte Auftreten von Tapezieren wirklich ein Zeichen für eine florierende Ökonische? Oder eher der Vorbote, dass die Menschen die Freundlichkeit verlernt haben?  

Aus aktuellem Anlass fragen wir: Wie gefährdet sind Tapezierer wirklich?  

Stimmt es, dass sie nicht mehr wissen wie man lächelt und daher alles »hinter die Tapete kehren« wollen? Fragezeichen…?  

Aber nein: wie ein Neuseeländisches Experiment gezeigt hat: die unkontrollierte Vermehrung des gemeinen Tapezierers bringt andere Gruppen rasch in Bedrängnis. Zum Beispiel den wandernden Kalkbrenner, die Papierschöpferin oder das nächtliche Mauerkratzerlein. Und was reimt sich schon auf Tapezierer? Richtig: Gegenieber.  

Das hat das Neuseeländische Experiment deutlich gezeigt: Die Übersiedlung der wenigen Überlebenden nach Australien – völlig sinnlos. Plötzlich flohen alle australischen Furzkissenbläser*innen über den »Leimeimer«, wie der Pazifik zwischen den Kontinentalstaaten genannt wird.  

Nun hat Neuseeland ein Problem, während in Australien alle Wohnungen schön Raufaser. Die Tapezierer jedoch, die haben sich erst noch einmal kräftig vermehrt und dann gegenseitig. So ist das eben in der Praxis.  

Scheiß auf Neuseeland. Elitäres Blumenmuster-Pack… Meine liebe Güte, bin ich heut drauf! Na ja, ganz normal. Lag heut früh schon Gefährdung in der Luft. Irgendwas mit dem Wetter, man glaubt es nicht! 

Gordie Lachance: Im Nebel oder Mit 17 hat man noch Träume

Ich bin bei dir und bin glücklich.  
Das Gedicht über deinem Bett sagt, dass kein Mensch den anderen sieht und jeder allein ist. Ich kenn dieses Gedicht fast auswendig, so oft habe ich es gelesen.
Jetzt lese ich es zum ersten Mal, ohne mich dabei einsam und ungesehen zu fühlen.
Weil du mich siehst. 

Meine Mutter ruft an und sagt, dass ich heimkommen soll, weil mein Vater „wieder spinnt“. 
Ich will bei dir bleiben, verdammt. Aber „spinnen“ kann Mord und Totschlag bedeuten. Glaub ich. 

Du sollst mich nicht für ein Muttersöhnchen halten. Ich versuche, einen coolen Abgang hinzulegen. Ich gebe dir einen pseudo-ironischen Handkuss. Bescheuert. Dann renn ich nach Hause, im Glauben, meine Mutter retten zu müssen.
Als ich heimkomme, ist gar nix los. Meine Eltern gehen sich nur aus dem Weg, sonst nix. Arschlöcher.

Ich telefoniere mit dir und irgendwie ist es komisch. Du sagst, dass du mich wieder anrufst und legst auf.

Du rufst nicht an und ich ruf dich nicht an, weil du gesagt hast, dass du mich anrufst und ich mich nicht aufdrängen will. 

Ich möchte irgendwas für dich sein.

An einem Sonntagabend sitz ich mit meiner Mutter vorm Fernseher. Es war den ganzen Tag friedlich, weil mein Vater Notarztdienst hatte und deshalb kaum zu Hause war. Jetzt kommt er heim. 

Er sagt, dass man deine Leiche gefunden hat. Dass du dich in den Tod gestürzt hast.

Sowas kommt vom Kiffen, sagt mein Vater. 

Sowas kommt von Menschen wie dir, schrei ich ihn an.

Am Ende bin ich nur sich selbst.

Felix Benjamin: Ausländer

In der zweiten Klasse laufe ich neben meinem Freund Tino die Straße entlang. Wir haben uns gerade das Sams im Theater angeschaut. Auf der anderen Straßenseite sehen wir zwei Jungs in unserem Alter, die sich in einer uns fremden Sprache anschreien und anfangen, aufeinander einzuschlagen. 

„Ich dachte, Ausländer halten immer zusammen,“ sagt Tino. Ich antworte: „Warum? George Bush und Saddam Hussein kämpfen doch auch gegeneinander.“

Raphael Stratz: Geschichte einer Selbstbefreiung

Eigentlich hatte P. es nicht tun wollen. Viel zu lange hatte er sich gesträubt, sich dem Gedanken widersetzt. Was hatte er nicht alles getan, um ihn aus seinem Kopf zu bekommen? Er hatte sich selbst verboten ihn zu denken, hatte sich seinem unveränderbar scheinenden Schicksal gefügt. Er hatte alles über sich ergehen lassen, all die Demütigungen hingenommen und sich nebenbei selbst verboten, den Gedanken der Befreiung und des echten Lebens in seinen Kopf hineinzulassen.

Nächtelang war P. wachgelegen. Nicht im Stande zu schlafen, da ihm seine Träume nicht gehorchen wollten und immer wieder dasselbe nach oben spülten. Wenn er dann schweißgebadet aufwachte, oft schreiend, und keinen Ausweg erkennen konnte, wusste er im Grunde seines Herzens, dass er es irgendwann würde tun müssen. 

Und doch hatte er es so lange geschafft, sich zu widersetzen.

Zu behaupten, er hätte ihn töten wollen, wäre nicht nur eine Lüge, es wäre eine Kränkung ohnegleichen gegenüber P. gewesen. Er hatte diesen Mann geliebt. Er war alles, was seinem Leben einen Sinn gegeben hatte. Er war abhängig von ihm gewesen. Und genau diese Abhängigkeit war das Problem. Er hatte ihn entmenschlicht. Hatte ihn von allen anderen abgeschirmt und nicht zugelassen, dass sie ihn sahen. Wenn er nicht gehorchte, hatte er ihn eingesperrt, bis er wieder handzahm war.

Es war kein Leben gewesen, das er mit ihm gehabt hatte. Es war schlicht und ergreifend die Hölle und das war ihnen eigentlich beiden klar gewesen, darüber war P. sich sicher. Auch wenn andere das vielleicht nicht erkannten, aber der Meister der Hölle war ein sympathischer älterer Herr mit Schnauzbart und runder Brille.

Seinen Plan, ihn umzubringen, hatte er gefasst, als er ihn wieder einmal in der viel zu engen Kiste eingeschlossen hatte, die sich nur von außen öffnen ließ. Wie jedes Mal hatte er panisch um sich geschlagen, hatte versucht, irgendwie zu entkommen und der allumfassenden, kompakten Dunkelheit zu entrinnen. Genützt hatte es wie immer gar nichts, aber dieses Mal war plötzlich alles anders. 

Als er sich hin und her warf, entgegen jeglicher Vernunft versuchte, sein Gefängnis aufzubekommen, obwohl sein Mechanismus das gar nicht zuließ, stieß er sich den Musikantenknochen an. Dieser Schmerz, der ihn daraufhin durchzuckte, ließ ihn sich zusammenkrümmen. Er hielt sich den schmerzenden Ellenbogen und atmete tief durch. Das war es, was ihn zur Besinnung kommen ließ. 

Er lag zusammengekrümmt auf der Seite und machte sich seine Situation zum ersten Mal seit Jahren überhaupt bewusst. Warum tat er sich das an? Warum ließ er zu, dass dieser Mann ihn behandelte, als wäre er sein Eigentum? Warum wehrte er sich nicht, wenn andere ihn wie Luft behandelten? Und überhaupt: Warum griff niemand ein? 

In diesem Moment hatte er erkannt, dass nur er selbst sich aus dieser Lage befreien konnte, für alle anderen war er unsichtbar. Er hatte ganz still in der Kiste gelegen und nachgedacht.

Ihn umzubringen war ihm selbstverständlich in den Sinn gekommen, alles andere wäre eine Lüge.

Doch hatte er sich diesen Gedanken nicht zu denken getraut. Wegzulaufen war auch keine Option. Wo sollte er denn hin? Erstens würde er keinen anderen Ort finden, an den er konnte und zweitens würde ihm niemand glauben, das wusste er.

Die einzige Möglichkeit, die er hatte, schien die zu sein, sich selbst das Leben zu nehmen. Doch das kam für ihn nicht in Frage. Er hing am Leben als solchem. Also blieb ihm nur, seinen Peiniger zu töten.

Wie er es anstellen würde wusste er nicht genau. Zumindest am Anfang nicht. Doch er tüftelte sich einen Ablauf aus. Zuerst musste er ihn bewegungsunfähig machen. Besser noch: Bewusstlos. Wenn er das schaffte, wäre es ein Leichtes, den Rest zu erledigen. Wer sich nicht wehren konnte, war ein leichtes Opfer. Er überlegte sich verschiedene Wege, wie er ihn würde ausschalten können. Ihm mit irgendeinem harten Gegenstand eins überzuziehen, sodass er die Besinnung verlor, war zwar verlockend, jedoch konnte er sich selbst gut genug einschätzen, um zu wissen, dass ihm dafür schlicht die Kraft fehlte. Und ihm eins aufzubraten und damit nicht den gewünschten Effekt zu erzielen würde sich mit Sicherheit noch negativer auf sein Leben auswirken als gar nichts zu tun.

Er dachte auch über anderes nach. Er könnte dafür sorgen, dass er die Treppe hinunterfiel. Allerdings war auch das mit Unwägbarkeiten verbunden, die ihm zu riskant erschienen. Wenn er blöd aufkam und direkt tot war, wäre er zwar frei, doch das Gefühl der Rache, nach dem er inzwischen ehrlicherweise immer mehr gierte, würde sich sicherlich nicht einstellen. 

So kam er schließlich zu dem Ergebnis, dass die beste Variante wohl die wäre, die er für sich selbst als erste im Kopf gehabt hatte, bevor er diesen Gedanken verwarf. Gift war zumindest als Anfang eine gute Option. Er tüftelte verschiedene Möglichkeiten aus, wie er ihm dieses zuführen konnte. Eine Möglichkeit wäre gewesen, es ihm in sein Bier zu mischen. Das trank er regelmäßig und viel zu viel. Es hätte auch kein Problem dargestellt, es unbemerkt hineinzubekommen, da er oft angetrunkene Flaschen offen in den Kühlschrank stellte, um sie zu einem späteren Zeitpunkt zu leeren. Das Problem bestand vielmehr darin, dass er keinen Zugang zu einem Stoff hatte, der sich dabei adäquat einsetzen ließ. Zwar gab es in der Werkstatt immer mehr als genug Stoffe, die eine giftige oder zumindest sedierende Wirkung hatten, doch diese hätte er alle herausgeschmeckt. Vermutlich hätte er den Geschmack nicht zuordnen können und das Bier für verdorben gehalten, aber die gewünschte Wirkung wäre auf diesem Weg eben nicht erzielt worden. Ihm kam auch der Gedanke, einfach Schnaps unter das Bier zu mischen, aber hier wäre der Effekt wohl entweder derselbe gewesen oder er hätte es zwar nicht bemerkt, aber dann wohl auch nicht ausreichend getrunken, um ordentlich weg zu sein.

Als ihm eine Lösung einfiel, war diese zwar nicht besonders elegant, aber so einfach, dass er sich selbst darüber wunderte, weshalb ihm dieser Einfall nicht schon viel früher gekommen war. Er musste ihn nur erwischen, wenn er eingeschlafen war. Ein gewisser Rausch konnte dabei nicht schaden, aber zwingend notwendig war er auch nicht.

Trotzdem wartete er einen Abend ab, an dem er noch etwas mehr trank als gewöhnlich.

Geduld war eine Tugend, die er sich mit den Jahren zwangsläufig hatte aneignen müssen. Wenn er in der Kiste eingeschlossen war, war sie seine einzige Rettung. Wenn er nichts zu essen bekam, war Geduld das einzige, das ihn aufrecht hielt. Und wenn wieder einmal andere Menschen bei ihnen waren, die ihn gar nicht erst wahrnahmen, oder die vielmehr so taten, übte er sich ebenfalls in Geduld, bis sie wieder fort waren. 

Der Abend, an dem er schließlich zur Tat schreiten konnte, kam früher als gedacht, doch wäre er auch jahrelang zu warten im Stande gewesen. Es war ein Sommerabend im August. Er war den Tag über alleine gewesen, zwar nicht in der Kiste, aber dennoch eingesperrt im Haus. Beinahe wäre er schon im Staub liegend eingeschlafen, als er ihn hereinkommen hörte. Er war wohl mit seinen Freunden beim Kegeln oder Kartenspielen gewesen, auf alle Fälle hatte er getrunken. Auf der Treppe hielt er zweimal inne, um tief durchzuatmen, einmal stolperte er an den Stufen. Dass er in dieser Verfassung war, erleichterte die Sache ungemein. P. fasste den Entschluss, es jetzt zu tun, sofort und ohne sich weiter große Gedanken darüber zu machen. 

Er würde es jetzt versuchen und sollte es misslingen, war die Wahrscheinlichkeit recht hoch, dass er sich am nächsten Morgen entweder gar nicht mehr daran erinnerte oder es schlicht für einen bösen Traum hielt. 

Er setzte sich auf und wartete ab, bis das Gepolter oben verstummt war. Als Ruhe einkehrte, schlich er sich so leise er konnte in sein Schlafzimmer, um die Lage zu überprüfen. Tatsächlich hatte er sich einfach ausgezogen und war auf sein Bett gefallen. Die Zähne hatte er sich zuvor offenkundig ebenso wenig geputzt, wie er irgendeine andere Form der Hygiene betrieben hatte. Das war widerlich, doch passte es in diesem Moment zu ihm und P. sollte es egal sein. Ein sauberer Toter war so viel wert wie ein ungewaschener, es kam darauf an, dass er am Ende nicht mehr leben würde. 

Er schlich sich wieder aus dem Zimmer und nach unten, wo er den Lumpen hervorholte. Er hatte ihn bereits vor einiger Zeit aus dem Abfalleimer gezogen und gut versteckt, sodass er ihn griffbereit hatte, sobald sich eine Gelegenheit bot. Wie er ihn präparieren würde, hatte er sich ebenfalls im Voraus überlegt. Da er nicht genau wusste, welche der Substanzen, die ihm zur Verfügung standen, am wirksamsten wären, um ihn wirksam auszuschalten, hatte er sich entschlossen, eine gute Mischung herzustellen und einfach alles zu verwenden. Damit hatte er einigermaßene Sicherheit, dass das richtige dabei war.

Er tunkte den Lappen in Leim, Lack, Alkohol, Farbe und andere Gefäße, deren Inhalt er nicht benennen konnte, die aber nicht rochen, als seien sie sonderlich gesund. Dabei achtete er stets darauf, dass die verschiedenen Stoffe nur die untere Hälfte des Lumpens bedeckten, sodass er ihn noch immer ordentlich halten konnte, ohne etwas davon an die Finger zu bekommen.

Damit ausgerüstet schlich sich P. zurück in das Schlafzimmer, wo sein Peiniger sich unruhig in seinem Bett herumwälzte. Er legte ihm den Lappen ohne Umschweife auf das Gesicht und stahl sich wieder hinaus. Was jetzt kam, war der schwierigste Teil. Er begab sich in die Werkstatt, wo er das Rollbrett, auf dem schwere Gegenstände durch die Gegend geschoben werden konnten, an sich nahm. Er schleppte es zurück in das Schlafzimmer, wo er ihn betrachtete.

Er war nur einige Minuten fortgewesen, doch das Herumwälzen hatte sich inzwischen gänzlich eingestellt. Nun lag der Mann, der ihn seit Jahren als seinen Gefangenen hielt, der ihn wie sein Eigentum behandelte und ihm sein Leben diktierte, reglos da. 

P. war erstaunt darüber, mit welcher Gleichgültigkeit ihn dieser Anblick erfüllte. Er hatte im Voraus befürchtet, dass ihn große Traurigkeit überfallen würde, wenn es auf das Ende zuging, war allerdings davon ausgegangen, dass er viel wahrscheinlicher von Erleichterung beflügelt wäre. Doch in diesem Moment war da einfach nur eine große Leere. 

Er atmete tief durch und kam zu der Einsicht, dass dies damit zu tun haben mochte, dass er noch nicht fertig war. Es gab noch einiges zu tun und außerdem konnte er sich auch noch nicht sicher sein, dass es wirklich schon vorbei war.

Noch einmal ging er zurück in die Werkstatt. Von der Werkbank nahm er sich die akkubetriebene Stichsäge und schleppte sie an das Bett. Was nun kam, war nicht schön, doch es musste sein. So, wie dieser Mann sein Leben zerlegt hatte, würde er nun ihn zerlegen.

Diesen Vorgang zu beschreiben, würde niemandem helfen, allenfalls wirre Geister könnten sich daran erfreuen. Wir springen daher zu dem Zeitpunkt, an dem P. diese Arbeit abgeschlossen hatte.

Tatsächlich ging die Sonne bereits wieder auf, als er alles vollendet hatte. Ohne Pause hatte er gearbeitet und Knochen für Knochen zersägt und die abgetrennten Teile im Anschluss auf das Rollbrett geladen. Immer, wenn dieses voll war, hatte er es zur Treppe geschoben und hinunterpoltern lassen. Das war zwar laut, jedoch befand sich niemand in der Nähe, dem es hätte auffallen können. Als er mit allem fertig war, hatte er die Einzelteile in der Kiste verstaut, in die selbst immer gesperrt worden war.

Nun war er frei und mit dem Sonnenaufgang kam auch die Erleichterung, die er sich so sehr erhofft hatte. Er war wieder richtiggehend fröhlich. 

Zum ersten Mal seit vielen Jahren hüpfte P. ausgelassen durch die Gegend und schmetterte einen selbsterdachten Reim: 

„Die Kommode ist schon ein Gewinn
Meister E., der liegt zerteilt darin!“

Uschi Heidinger: Tinkerbell in New York

Mit ihren 20 Jahren sitzt Tinkerbell angegurtet im Flugzeug, schwebend über New York. Gleich soll nun die Maschine landen. In Gedanken ist sie bereits bei ihrer besten Freundin, mit der sie zusammen eine kleine Wohnung tief unten in dieser Großstadt besitzt. Lyra wollte sie eigentlich abholen. Ob sie daran gedacht hatte?

Auf dem Nachhauseflug, von Paris herüber, konnte sich Tinkerbell gut mit ihrem etwa gleichaltrigen Reisenachbarn unterhalten. Er sah nett aus, mit seinem offenen Gesicht und den kurzen lockigen, dunklen Haaren. Sein Blick besitzt etwas Vertrauen Erweckendes, dass sie veranlasste, sich mit ihm zu befassen.

Als sie die Landung gut hinter sich gebracht, beginnt im Innenraum reges Treiben. Jeder will möglichst schnell sein Handgepäck mit sich nehmen, um sein jeweiliges Ziel zu erreichen.

So eilt auch Tinkerbell in die große Halle und vergisst doch, sich nach deem Namen ihres so netten Begleiters zu erkundigen. Freudig entdeckt sie in der Halle Lyra, die heute sehr fesch gekleidet, den Abholtermin der Freundin doch nicht vergessen. Lyra besitzt einen Kleinwagen, während Tinkerbell noch nicht die Prüfung für einen Führerschein in Angriff genommen.

Beide betreten den Flur ihrer gemeinsamen 3 Zimmerwohnung. Jede der Beiden bewohnt hier, am Central Park ein Zimmer, der dritte Raum dient als gemeinsames Wohnzimmer. Eine geräumige Küche lädt zum kochen, sitzen und klönen ein. Der gesamte Bereich beider ist hübsch gestaltet und trägt jeweils die spezielle Note der Einzelnen. Hier fühlen sie sich wohl. Auch eine große Terrasse, auf der viele Pflanzen wachsen, schließt sich der Küche an.

Tinkerbell erkundigt sich bei ihrer Mitbewohnerin, wozu diese heute so elegant gekleidet sei? „Nun, Du wirst nicht mehr daran gedacht haben, aber heute Abend ist mein erster großer Abend. In der Osloer Galerie. Wirst Du mich begleiten, damit ich seelische Unterstützung habe?“ „Da fragst Du noch? Natürlich werde ich dir Schützenhilfe leisten.“

„Tinkerbell, bevor wir los düsen, wollte ich mich noch nach Deinem Rückflug erkundigen. Hast Du immer noch Flugangst?“ Tinkerbell antwortet ihr: „Du wirst es mir nicht glauben, aber neben mir saß ein so himmlisch netter und interessanter junger Mann, dass ich kaum zum Angst haben gekommen bin. Leider vergaß ich, mich nach seinem Namen und der Adresse zu erkundigen. Aber er dachte auch nicht daran. Ich weiß nur, dass er auch in New York lebt und irgendetwas mit Theater zu tun hat. Wie soll ich ihn nur wieder finden in dieser großen Stadt?“ Geplagt von schweren Seufzern ruht sie auf dem Sofa des gemeinsamen Wohnzimmers.

Lyra fährt kurze Zeit später, nach Ankunft der Freundin weiter und parkt das Auto in einer Seitenstraße der Ausstellungsräume. Hier wird sie dringend von ihren Helfern gebraucht, um die Bilder während der Vernissage gut präsentieren zu können. Tinkerbell wird später mit einem Taxi nachfolgen.

Viele interessierte Gäste besuchen heute am 4. Juli, dem Nationalfeiertag der USA, die Galerie. Bei dieser Präsentation geht es für Lyra um mehr, als nur um einzelne Gemälde zu verkaufen. Hier dreht es sich auch darum, sich einen Namen in der Kunstszene zu machen. Aber ob das von Erfolg gekrönt sein kann, wird man doch erst am nächsten Tag in der Zeitung lesen können.

Eine Menge an Besuchern belagern Lyra. Tinkerbell kann unmöglich zu ihr durchdringen. So beobachtet sie aus den Augenwinkeln das Verhalten einzelner Kunstliebhaber. Die Bilder sind für die Freundin nicht neu. Sie kennt viele davon und hat auch schon für einige Modell gestanden. Wenn es sich nicht um ihre beste Freundin handeln würde, sie wäre längst nach Hause gegangen. Sie findet das ganze ein wenig affig. Tinkerbell, die selbst momentan noch eine Schreinerlehre absolviert.

Aber irgendwann wird es ihr doch zu viel. Sie spürt den Flug noch in den Knochen, winkt Lyra kurz zu und so verlässt sie die Ausstellung, indem sie die enorme Glasflügeltüre leise hinter sich schließt. Sie winkt eine Taxe heran. Zu Hause fällt sie todmüde endlich in ihr ersehntes Bett. Mit einem letzten Gedanken an ihren so gut aussehenden Flugbegleiter schläft sie endlich ein.

Tinkerbell erwacht am nächsten Morgen. Sie findet bereits in der Küche frischen Kaffee und Brötchen vor. Nimmt Platz.

Vor ihr liegt ein Zettel mit einer Nummer.

Lyra kommt aus dem Bad. Tinkerbell zu Lyra: „Was ist das denn für eine Telefonnummer?“ „Dreimal darfst du raten!“

Tinkerbell bekommt große Augen. „Nee, echt?“ Freudig öffnet sie ihr erstes Brötchen. „Wie bist Du denn an die geraten?“ Lyra: „Wenn Du nicht schon so bald gestern von der Ausstellung heimgegangen wärst, hättest du ihn selbst getroffen. Er war vergangenen Abend derjenige, der ein Bild mit Deinem Portrait von mir kaufte.“