Fabian Lenthe: Marie

Auf dem Schoß des Mannes, der neben mir sitzt, liegt der nackte Schenkel einer jungen Frau. Der Rest ihres Beines verschwindet zwischen seinen. Mit dem anderen steht sie elegant und sicher. Ihre Absätze haben Bleistiftlänge. Ihr Haar glänzt. Sie lächelt, streicht ihm mit der Hand über den Rücken. Gleich wird es passieren. Sie wird ihm die Wünsche erfüllen, für die er bezahlt hat. Ein Geschäft, nichts weiter. Ich trinke mein Glas aus und sehe mich um. Für einen Moment erliege ich der Illusion, doch ich gehöre nicht hier her. Zuhause schließe ich die Augen. Ich stelle mir Körper vor, Beine, Brüste, Haare, die glänzen. Ich ejakuliere in ein Taschentuch und spüle es die Toilette hinunter.

Ich verschwende die Tage so leichtfertig, wie sie vergehen. Unter der Woche sitze ich im Büro. An den Wochenenden in einem kleinen Café. Wenn es regnet, bleibe ich zuhause. Ich denke noch immer an Marie. Vor allem, wenn ich in dem kleinen Café sitze. Ich bestelle Weißwein und rauche und denke an Marie. Das ist alles.

Als ich den Baumarkt betrete beginne ich zu schwitzen. In den Gängen stehen junge Menschen. Paarweise. Sie müssen sich für ein Tapetenmuster entscheiden, für eine Steh- oder Wandlampe, für klassisches Weiß, oder Farbe. Sie machen Pläne. Für die Zukunft. Sie wirken weder traurig, noch glücklich. Ihr Handeln scheint instinktiv. In ein paar Jahren werden sie sich trennen, oder die erste Rate an die Bank überweisen. Ich tausche all das gegen einen Eimer Wandfarbe und einen lauwarmen Hot-Dog. 

Ich fange von vorne an. Die Wände sind weißer denn je. Die Wohnung, leer. Ich habe mich von allem getrennt, was mir als unnötig erschien. Die Matratze liegt auf dem Boden. Davor ein Stuhl auf dem ein Fernseher steht. Daneben ein Frühstückstischtisch. Ein Teller, ein Glas. Kartons mit Büchern. Die Stimmen aus dem Fernseher hallen durch den Raum. Das Fenster ist geöffnet. Die Nacht, klar. Die Luft, kühl. 

Tom sagt wir treffen uns im Casino. Spielhölle. Der Boden ist dreckig. Zwischen den Rauchschwaden hindurch blitzt und blinkt es. Die Melodien der Spielautomaten ertönen aus allen Richtungen. Ich lasse einen Zwanziger in einen Becher voller Kleingeld wechseln, bestelle mir Bier und setze mich Abseits auf einen freien Stuhl. Ich gewinne, zwei- dreimal, dann habe ich alles verloren. Tom ist verschwunden, oder war nie hier. Das ist fast schon egal. Auf dem Weg nachhause besorge ich mir Bier an der Tankstelle. Marie will nicht dass ich trinke, aber Marie ist nicht hier. Dazu kaufe ich eines der schwitzenden Würstchen, die in einem Warmhaltebehälter neben der Kasse stehen. Sie sehen aus wie alte, nackte Menschen.

Während ich esse überlege ich mich umzubringen. Um zu sterben benötigt man nicht einmal einen guten Grund. Tatsächlich muss man nicht einmal einer tödlichen Krankheit erliegen, ermordet, oder bei einem Unfall ums Leben kommen. Es reicht vollkommen aus, betrunken Fast-Food zu essen.

Manchmal höre ich den Nachbarn zu. Sie sind jung und schön. Liebe. Vielleicht. Marie schlief auf meiner Brust ein. Ihr gefiel wie schnell mein Herz schlug, mir die Schwere ihres Kopfes, der Duft ihrer Haare. Exotische Früchte, oder die Insel, auf der wir vorhatten zu sterben. Das Weiß der Decke frisst mich auf. Es regnet. Ich bleibe zuhause. Höre zu.

Der Qualm der Zigarette steigt in langen, blauen, Fäden nach oben.  Auf dem Balkon war es immer zu windig. Auch bei offenem Fenster. Jetzt sind alle Fenster zu. Ich gehe barfuß auf dem Holzboden von Zimmer zu Zimmer. In jedem hört er sich anders an. Aber nicht mehr so, als würde man auf ihm tanzen. Als wäre er eine Bühne und es würden Pirouetten auf Spitzenschuhen gedreht. Ich habe keine Vorstellung verpasst.

Der Stuhl mir gegenüber ist leer. Ich bestelle Weißwein. Die Bedienung kennt mich. Sie fragt nicht mehr nach Marie. Marie wird hier nicht mehr sitzen. Einmal hatte sich ihr Kleid in einem der Rattanstühle verfangen. Ich wollte nicht, dass es kaputt geht. Heute Morgen sah es nach Regen aus, doch inzwischen ist keine Wolke mehr zu sehen. Das ist gut. Ich rauche. Ich trinke. Marie.

Lea Schlenker: Der Kaiman

 Der Kaiman

Ich habe die Nachricht aus der Zeitung erfahren. Sie hat es zwar nicht auf die Titelseite geschafft, allerdings war sie auch für Personen, die normalerweise bloß nach den Kreuzworträtseln Ausschau halten, kaum zu übersehen. Fett gedruckt und neben einem anschaulichen Bild aus der Mediendatenbank las ich folgende Schlagzeile:  Aargauer Polizei jagt in Hallwilersee Kaiman. 
Ich war gerade bei meinem morgendlichen Tee, einer entspannenden Mischung aus Alpenkräutern und frischer Kamille. Um diese Nachricht aufnehmen zu können, musste ich allerdings sicherheitshalber meine Tasse absetzen und einmal tief Luft holen. Ein Kaiman im Hallwilersee! Das war schon eine eher ungewöhnliche Nachricht. Ich wuchs nur wenige Dörfer weit entfernt von diesem See auf und während meiner gesamten Kindheit schwamm ich jeden Sommer in diesen Gewässern. Der Gedanke daran, gemeinsam mit einem kleinen Krokodil gebadet zu haben, wäre sicherlich für die meisten Menschen eher erschreckend. Allerdings war dieses Thema für mich aber noch auf eine ganz andere, auf eine persönliche Art und Weise ungewöhnlich.  
Mir ist nämlich vor ungefähr zwei Tagen aufgefallen, dass mein eigener Kaiman spurlos verschwunden ist. Zuerst dachte ich, er hätte lediglich frische Luft schnappen wollen, weil ihm vielleicht die Decke auf den Kopf gefallen ist. Als dann aber Stunde um Stunde verstrich und von ihm nicht die geringste Spur zu sehen war, wurde ich misstrauisch. Etwas war passiert. Ich wusste zwar nicht genau, wie er hätte verschwinden können – habe ich ihm doch nie das Türe öffnen beibringen können. Auch von den Fenstern hielt er sich in der Regel eher fern. Die Nachricht aus der Zeitung ließ bei mir aber wenig Zweifel aufkommen – das wird wohl oder übel mein Haustier in diesem See sein. Die Situation war nun leider etwas ungünstig, da der Besitz dieses Kaimans in einer rechtlichen Grauzone lag. Mir gefällt der Ausdruck illegaler Handel nicht besonders, aber es war mir leider nicht möglich, das Tier auf rechtmäßige Art in meinen Besitz zu bringen. Ich habe viele Freunde verschiedenster Art. Manchen bin ich bis heute noch ein oder zwei Gefallen schuldig.  
Aber darum ging es nicht. Mein Haustier war verschwunden, und ich wollte es wiederhaben. Nachdem ich alle möglichen Optionen abgewogen hatte, rief ich meinen Bruder Lukas an. Er war Journalist bei einer 
renommierten Wirtschaftszeitung, hatte also mit dieser Lokalsensation kaum was am Hut. Ich fragte ihn, ob er am Nachmittag Lust hätte, mit mir an den See zu fahren. Mit dem miefigen Brummen in den Hörer hatte ich in etwa gerechnet. Er mochte die Sonne nicht, auch das Baden lag ihm fern. Seine Definition von einem Traumurlaub bestand darin, jedes Jahr an denselben Ort in dasselbe Haus zu fahren, jenes dann nur zum Lebensmittel einkaufen zu verlassen und dann den ganzen Tag fernzusehen. Wenn es dazu noch zwei Wochen lang regnete, umso besser. Heute war ich aber dummerweise auf ihn angewiesen. Ich hatte kein Auto, konnte selber nicht fahren und für den alle zwei Stunden fahrenden, nicht-klimatisierten Bus fehlten mir die Nerven.
Und tatsächlich konnte ich ihn dazu überreden, mit mir an den See zu fahren. Wieso auch nicht? Die Hitze machte ihm mehr zu schaffen als jedem anderen, den ich kenne. Vermutlich sah er ein, dass ein Sprung ins kalte Nass die einzige Möglichkeit war, sich abzukühlen. 
Wir fuhren also kurz nach drei Uhr nachmittags los. Schon bald erreichten wir den Parkplatz vor dem Strandbad. Die anderen Autos glitzerten in der Sonne wie feurige Metallsärge. Hoffentlich hat auch niemand seinen Hund auf dem Rücksitz vergessen. Manchmal liest man im Sommer auch etwas von Kleinkindern, die in der Hitze auf dem Rücksitz explodieren. Nachdem wir den vermutlich letzten Parkplatz gefunden haben, stiegen wir aus und marschierten Richtung Parkuhr. Ich sah ein junges Mädchen, deren Erdbeereis so schnell südlich tropfte wie die Gletscher im 21. Jahrhundert. Zurück blieb bloß eine zuckergetränkte Waffel. Ich sah Lukas an. Er hatte noch nichts gesagt, seitdem wir losgefahren sind. Er verzog bloß hin und wieder das Gesicht, vielleicht weil er seine Sonnenbrille zuhause vergessen hatte. Er warf Münzen in die Parkuhr und wischte sich dazwischen immer wieder den Schweiß von der Stirn. Ich lächelte ihn an, er kniff aber bloß die Augen zusammen und machte eine Handbewegung Richtung Strandbad. Wir trotteten träge in das Freibad, beim Eintritt wollte man noch einmal je fünf Franken von uns haben. Die Frau an der Kasse sah müde und abgekämpft aus. Ich war ehrlich gesagt froh, wenn kein aufmerksames Personal herumschwirrte, während ich nach meinem Liebling sah. Wobei ich zugeben musste, dass ich mich noch nicht auf einen definitiven Plan festgelegt hatte. Wenn ich ihn sehen und nur kurz fünf Minuten mit ihm allein sein konnte, könnte ich ihn vielleicht dazu überreden, nachhause zu kommen. Wobei ich mir ehrlich gesagt keinen Reim darauf machen konnte, wieso er überhaupt verschwunden ist. Ich dachte, wir hätten es gut miteinander. Wie dem auch sei, Lukas sollte nichts davon erfahren. Der Kaiman mochte es ohnehin nicht so gern, wenn ich in Begleitung kam. Ich habe bisher nur meiner Mutter von ihm erzählt, und sie toleriert die ganze Sache mehr oder weniger, weil ich ihr versprochen habe, dass sie ihn ab und zu mal ausleihen darf, um die Tauben auf ihrem Balkon zu jagen. Aber begeistert war sie nicht, das wusste ich genau.
Wir suchten uns ein halbschattiges Plätzchen irgendwo hinter den Bäumen aus. Lukas legte sich auf das ausgebreitete Badetuch und schloss die Augen. Ich griff in die Tasche, fischte nach der Sonnencreme und verteilte einen Klecks nach dem anderen auf meiner Haut. Danach machte ich das gleiche bei ihm, wobei er weder zustimmte noch protestierte. So langsam wurde ich ziemlich ungeduldig. Hinter dem Vorwand, eine Abkühlung nehmen zu wollen, spazierte ich von den Sonnenanbeterinnen weg ins Ungewisse.  
Ich lief vom Strandbad fort, dem Wasser und dem Ufer entlang. Vermutlich versteckte er sich im Schilf, damit ihn niemand finden konnte.
Ich hörte Vögel kreischen und Kinder laut schreien. Ab und zu rief ich leise nach ihm, und wartete dann wieder. Ich setzte mich auf einen Steg und hoffte, die Sonne würde erst mal nicht so schnell wieder untergehen. Mir war klar, dass ich ihn nicht mehr finden würde, wenn es erst einmal dunkel war. Daher ließ ich den See keine einzige Sekunde lang aus den Augen. Weder Hunger noch Durst noch Langeweile überkam mich. Alles, was ich tat, war der Sonne beim Wandern zusehen und dabei nach dem Kaiman Ausschau zu halten. Grillen zirpten, Vögel zwitscherten, und was Tiere in der Sommerzeit noch sonst so alles an Geräuschen zu bieten hatten. Noch mehr Kinderschreie, ich versank in Gedanken zum Thema Verhütungsmittel. Bis mein Kaiman dann tatsächlich aus dem Wasser auftauchte. Er schwamm auf mich zu und hielt am Seeufer an. 
Kaimi, wieso bist du abgehauen?  wollte ich von ihm wissen.
Das war eine unglaubliche Sache, meinte er verwirrt, du wirst mir diese Geschichte niemals glauben. 
In einer ruhigen, mütterlichen Stimme hielt ich ihn dazu an, mir doch zu erzählen, was genau passiert war. 
Du hast die Tür nicht abgeschlossen, und als deine Mutter geklingelt hat und niemand geöffnet hat, ist sie schnurstracks rein und zu mir ins Bad. Sie bat mich, mit zu ihr zu kommen, da die Tauben auf ihrem Balkon außer Kontrolle waren und der Plastikrabe, den sie aufgestellt hatte, um die Tauben zu verscheuchen, bloß weitere Raben angelockt hatte, die nun bei ihr lebten und ihre Walnüsse stahlen. Ich dachte, ich will nicht unfreundlich erscheinen, und begleitete sie daher zu ihr nach Hause. Allerdings hat sie nicht übertrieben – so viele Tauben wie auf ihrem Balkon habe ich noch nie in meinem Leben gesehen. Ich konnte nicht einmal erkennen, was noch Balkon war und wo die Tauben anfingen. Dementsprechend war ich völlig machtlos. Als ich die Tauben anschrie, sie sollen verschwinden, lachten sie bloß und schissen mir auf den Kopf. Nun war ich auch noch blind, und das einzige, das ich noch mitbekam, war, wie sie mich mit ihren Dinosaurierfüssen packten und über Himmel und Lüfte hinwegtrugen, bis ich mich endlich losreißen konnte und hier im See landete. Allerdings kenne ich den Heimweg nicht mehr. Als ich ein paar Angler fragen wollte, machten die bloß Fotos und rannten weg. Aber es macht nichts, denn es gefällt mir hier. Das Wasser ist tief und die Enten schmecken hervorragend.
Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich ihm helfen wolle, ihn wieder bei mir in der Badewanne platzieren wollte, aber er tauchte bereits wieder runter und verschwand in der Tiefe.  Bevor ich etwas unternehmen konnte, tauchte aber schon wieder Lukas hinter mir auf. Sein Gesicht war rot und verschwitzt. Er trug sein graues T-Shirt und hatte orange klebrige Flecken auf der Brust. Dem Anschein nach wollte er wieder nachhause, ganz im Gegensatz zu meinem Krokodil.
Ich hob bloß meine Schultern, ohne etwas zu sagen. Wenn er sich normalerweise dazu entschieden hat zu gehen, dann nutzte es in der Regel nichts, mit ihm zu diskutieren. Ich stand auf und zog das Kleid über, das er für mich mitgenommen hat. Es war das Kleid, das ich schon lange entsorgen wollte, es war puderrosa und ich sah wie ein Schwein aus darin. Wenn mich mein Kaiman noch sehen könnte, würde er vermutlich denken, ich wäre sein Abendessen und mich fressen.  
 
Einige Tage später lief ich an einer Zoohandlung vorbei. Im Schaufenster stand, man solle sich ein Reptil zutun, das seien Freunde für die Ewigkeit. Darunter ein Foto einer Eidechse, die im Wasser plantschte. Ich war erstaunt über dieses Zusammenspiel von Zufällen und betrat das Geschäft. Hinten im Laden, hinter dem Tresen, konnte ich einen gelangweilt wirkenden Verkäufer erspähen. Vor ihm hinter der Vitrine tummelten sich Eidechsen, Schildkröten, Bartagame und Geckos. Ich marschierte auf ihn zu und erklärte ihm meinen Wunsch. Er kratzte sich am Kopf, sagte ein paar Mal verstehe und griff dann nach einem Katalog. Er zeigte auf ein Bild. Ein so genannter Dornschwanzagame war zu sehen, der allerdings nicht einmal einen Meter groß werden würde. Ich schüttelte den Kopf. Der Haustierfachmann blätterte etwas im Buch und zeigte dann auf ein anderes Tier. Ich seufzte und runzelte die Stirn. 
„Tut mir leid, das ist leider das Einzige, das wir in diese Richtung haben. Wenn Sie möchten, kann ich noch meinen Kollegen rufen, der kennt sich besser aus mit der Haltung von größeren Reptilien.“  
„Ist schon in Ordnung. Trotzdem danke.“  
Die Bartagame hinter der Vitrine starrten mich mit ihren ausdruckslosen Knopfaugen an. Ich fragte mich, ob sie wohl auch lieber ein kleines Krokodil wären. Oder zumindest frei. 
 

Margit Heumann: Freiheit im Wandel

Es war einmal ein kleines Mädchen, das lernte die Freiheit beim Zuhören kennen. Oma, erzähl mir eine Geschichte, und schon durfte es sich in Fantasiewelten tummeln. 

Es war einmal ein Schulkind, das holte sich die Freiheit aus Büchern. Mit einem Buch vor Augen entfernte es sich aus der engen Umgebung, weg von den Hausaufgaben, vom lästigen kleinen Bruder, von der fordernden Mutter, von allen Pflichten. 

Es war einmal ein Mädchen, das wollte nicht immer nur anziehen, was die Mutter nähte, was die anderen trugen. Schließlich hatte der Papa Erbarmen: sie bekam eine Hose, dunkelblau, dreiviertellang, mit roten Kordeln an den geschlitzten Aufschlägen. Diese Hose machte sie zum ersten hosentragenden Mädchen im Dorf – der Inbegriff der Freiheit. 

Es war ein mal ein Teenager, die sah ihre Freiheit darin mit Worten zu provozieren. Sie war gegen alles: Gegen frühe Schlafenszeiten, gegen regelmäßiges Essen, gegen die spießige Wohnungseinrichtung, gegen die Verwandtschaft, gegen die Erwartungen der Mutter, gegen die Ansichten des Vaters, gegen den sonntäglichen Kirchgang. Taten beschränkten sich auf die Mitgliedschaft in einem Europaclub und immer noch auf Hosen zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit. 

Es war einmal eine Berufsanfängerin, für die es Freiheit bedeutete, die sichere Arbeitsstelle im Nachbardorf aufzugeben, den Freund zu verlassen und für ein Jahr nach England zu gehen. Der Preis war verdrängtes Heimweh, aber jeder Tag hatte sich gelohnt.

Es war einmal eine Zwanzigjährige, die nahm sich die Freiheit zweierlei Leben zu führen. Es gab das streng geregelte Tagleben im Büro von acht bis 17 Uhr, das ihr Wohnung, Auto und Plattenspieler finanzierte. Es gab das Nachtleben mit Studenten, Künstlern und Dichtern, die nach der Arbeit bei ihr aufschlugen zu gemeinsamem Kochen, Trinken, Rauchen und Diskutieren, was ihr chronischen Schlafmangel brachte.

Es war einmal eine Fünfundzwanzigjährige, der waren zweierlei Leben nicht genug. Sie verfolgte einen neuen Freiheitstraum und heuerte zwei Monaten beim Zirkus an  – und machte die Erfahrung eines anstrengenden und extrem reglementierten Alltags.

Es war einmal eine Familie, die hatten ihre Wunschtochter und wollte noch ein Kind. Um gleichzeitig einem Kind zu helfen, entschied sie sich für eine Adoption, ohne Not und freiwillig. So ganz nebenbei war die Mutter dadurch auch von der Mühsal einer zweiten Schwangerschaft befreit. 

Es war einmal eine selbständige Kleinunternehmerin, die entschloss sich nach dreißig Jahren das Landleben aufzugeben und das Kontrastprogramm Großstadt zu wählen. Dieser Schritt gab ihr die Freiheit einer bisher unterdrückten Leidenschaft zu frönen. 

Es war einmal eine Frau, die hatte wechselvolle Jahre hinter sich und wenn sie einmal gestorben ist, hat sie ihr ganzes Leben immer neue Freiheiten gesucht und gefunden. 

Andreas Lugauer: Stüssy

In meiner Jugend wollte ich Teil der Skatekultur sein. Skateboard fahren konnte ich nicht. Riefe Eric »Do a Kickflip!« Koston mir zu: »Do an Ollie!«, ich könnte heute noch nur verschämt weglachen. Aber Stunt Skates, auch genannt Aggressive Skates, also solche zum Grinden, hatte ich und ›stand‹ in der Alte-Leute-Dorfsiedlung auf von Vater zusammengedengelten Rails und Curbs auch den einen oder anderen Trick. Die etwa drei Jahre, die ich das machte, gingen gänzlich ohne Verletzung rum, obwohl ich die Skates derart läppisch locker schnürte, dass es »schnürte« heißen müsste und ich ohne Senkelöffnen raus- und reinsteigen konnte; weil ich wollte mich so gut es ging reinlegen können aufm Rail.

Im Straubinger Skateshop »77 Sunset Strip«, genannt Seventyseven, bewunderte ich in den Auslagen all die coolen Skateboard- und Klamottenmarken. Carhartt und Vans und Adio und wie sie nicht alle hießen. Und Stüssy.

Jetzt, 20 Jahre später, schauen Freundin und ich gerade Season 3 der Serie Fargo, worin einige wichtige Figuren den Nachnamen Stussy tragen. Ausgesprochen: [stassi]. Und es dämmert mir: Lag ich all die Jahre falsch mit der zumindest mental so getätigten Skateboardmarken-Aussprache [stüssi]? Ja. Indes die englische Wikipedia und das restliche Internet entgegen der Fargo-Aussprache sagen, es werde [stuːsi], also in etwa STOO-see ausgesprochen. Jedenfalls nicht [stüssi].

Mit 11, 12, 13, 14 Jahren aber wusste ich noch nicht um die im Englischen phonetisch bedeutungslosen Röck Döts wie in Motörhead, Mötley Crüe oder Queensrÿche. Und sagte eben, wie alle Normalen: [moutörhäd], [mötlai crü] und Queensrÿche kannte ich noch gar nicht. Woher auch.

»Die Bravo gabs bei uns am Dorf nicht«, antwortete der stellv. bayerische Ministerpräsident und ebenfalls in Niederbayern aufgewachsene Hubert Aiwanger kürzlich dem stalinistisch-genozidalen Sozenbengel Kevin Kühnert auf Twitter. »Wir waren sozusagen bewahrt von all dem, was Sie in Ihrer Jugend in Berlin aushalten mussten.« Woraufhin Kühnert, der ein bewunderns- wie beneidenswertes Twittergame fährt, das bekannte Söderfoto vorm FJS-Jugendzimmerposter postete mit dem Kommentar: »Bitter! Sie hatten also nie einen Bravo-Starschnitt an der Wand… « Was den gesunden Volkskörper Aiwanger veranlasste zur Antwort: »Nein. Keine beklebten oder beschmierten Wände. Geweißelt.« Weil’s beim Hubert schon innen im Kinderzimmer aussehen und zugehen musste wie später im repressiv durchkonformierten Dorferscheinungsbild.

(Offenlegung: Die Bravo gab’s bei »uns« »am Dorf« schon, und zwar beim Loibl-Bäcker an der Hauptstraße sehrschräg gegenüber der Pfarrkirche, aber da standen solche interessant-aufklärerischen Dinge halt auch nicht drin.)

Julian Knoth: Die Stunde Fahrt

Die A9 kurz hinter der Brücke der Deutschen Einheit. Wir lassen die Raststätte Frankenwald hinter uns liegen. Fahren noch ein Stück weiter. Hier irgendwo muss sie sein – die Freiheit. Shell Autohof in Triptis. Eigentlich egal wo. Such Dir irgendeinen Ort aus. Irgendeinen der Kategorie „noch-nie-gehört“. Ich steige aus dem Van. Mir ist kalt. Nehme doch noch schnell die Jacke mit. Ich muss auf’s Klo und bin unterzuckert. Shell Autohof in Triptis und nicht Frankenwald. Denn Sanifair und Serways sind der Feind. Ich würde ja gerne, aber ich kann es nicht.  Ich meine, mich unter der Sanifair-Schranke durch zu drücken. Deswegen Autohof. Am liebsten für Trucker ausgelegt und mit Souvenirs. Das einzige Souvenir, das ich mir je gekauft habe war ein „Verbot der Einfahrt“- Verkehrszeichen als Sticker. Klebt auf meinem Laptop. Kann ich euch mal einen mitbringen, wenn ich mal wieder unterwegs bin. 

Zurück zum Text. 

Wir befinden uns schließlich immer noch im Shell Autohof in Triptis.  Auf der Toilette war ich mittlerweile und überlege nun, ob sich lohnt noch etwas gegen den Hunger zu unternehmen, oder ob ich doch lieber abwarten sollte. Ich verachte mich dafür, dass sagen zu müssen, aber ich muss leider beichten, dass eine Bockwurst mit Senf und Brötchen schon öfter die Rettung in höchster Not war. Heute nicht. 

Die Stunde Fahrt halte ich noch durch. 

Wisst ihr noch wie das riecht? So ein Club? Für mich immer im Moment des Ankommens nach Putzmittel und Bier und später dann nach Schweiss und Bier. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal vermisse. 

Die Stunde Fahrt halte ich noch durch.

Ich habe aufgehört den alten Zeiten hinterher zu trauern. So alt bin ich dann auch wieder nicht. Der Blick geht nach vorne. Nur unlängst, als ich mal wieder auf der Autobahn war und mir eine Bockwurst mit Senf und Brötchen gekauft habe, wurde ich kurz nostalgisch. Ja, ich schäme mich dafür. Für die Bockwurst und die Nostalgie und für mein Verlangen, mir noch einen verbrannten, scheußlichen Kaffee hinterher zu kaufen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal vermisse. 

Die Stunde Fahrt halte ich noch durch. 

Freiheit ist zu merken, was man wirklich vermisst. 

Das Gefühl der Freiheit kann man nicht in Worte fassen.

Morgens im Hotel. Viel zu viel mittelmäßiger Kaffee. Orangensaft in diesen kleinen Gläsern. Ein Brötchen bekomme ich irgendwie runter. 

Scheiße bin ich privilegiert.

Zeha Schmidtke: Ein Vogel frei

Beim ersten Knall bleiben die Dohlen sitzen. Die schmächtige ganz hinten links flattert kurz einen verschreckten Halbstart; die Ruhe des übrigen Schwarms bringt sie zurück auf den Boden. Aufgeregter als die anderen bleibt sie gleichwohl, sie pickt und scharrt und legt unter dem spinnwebdünnen Raureifglitzer das Schwarz der Ackerkrume frei.

Die nächsten Schüsse fallen ineinander, Maschinengrummel tönt dazu. Fehlzündungen und ein alter Motor sind das, von einem Schießauto, einem Scheißauto. Mit fettigem Orgeln schiebt es sich aus der sanften Kurve in Sicht, viel zu viel Lärm für das bisschen Tempo und Steigung.

Darinnen sitzt fast niemand. Vorn links so gerade mal einer, kleiner Leib inmitten übermäßig großer Dose, wie die einzig verschmähte Sardelle in einer leergefressenen Familienpackung. Das Fischlein immerhin lenkt den ganzen Wagen, Keilkissen auf dem Sitz, damit es ordentlich über das Lenkrad ragt. Der dritte Gang ist ein Problem, länger schon. Das ist kein Schalten mehr, das ist ein blindes Schieben in führungsloses Gallert, bis sich der Gang mit knarzendem Kranklaut so irgendwie noch einhakt. Jetzt, in der Kurve, dauert es fast zu lang, der Motor versäuft ums Haar, derweil er eine stinkendblaue Schmodderwolke aus dem Auspuff grunzt.

Das treibt die Dohlen nun doch in die Luft. Mit schwerem Krächz machen sie sich vom ausgesuchten Acker; der Schwarm steigt auf und ordnet sich und zieht dann feldereinwärts ab. Nur die besagte eine, die allererstens flüchten wollte, ist wieder anders unterwegs. Statt sich da einfach einzureihen, flattert sie kopflos schnell drauflos, nimmt parallel zur Straße Flugfahrt auf und schießt in blödem Bogen so nach rechts, dass es sie direkt auf die Windschutzscheibe saugt. Ein weicher Knall. Dann ist sie auch schon wieder weg. Die Scheibe ist noch ganz, ein wenig Federfett hat das Glas am Prallpunkt angeschmiert.

Die alte Karre hoppelt in den Stand. Die Tür knarzt auf, der Steuermann heraus, hektisch zurück – der Schlüssel! – wieder raus, jetzt hampelt er den Straßenrand entlang. Da liegt das bisschen Vogelkörper, das eigentlich noch brauchbar wirkt. Nur ein paar Federn staken schief in Hals und Nacken, als wären sie nicht seine.

Der kleine Mann gibt Laut; er will jetzt etwas sagen. Dass Dohlen doch angeblich solche schlauen Tiere seien. Dass sowas hier ja wohl niemals passieren darf. Nur sprechen kann er gar nicht mehr. Rotz und Verzweiflung schießen mit wilder Kraft aus allen seinen Poren, bis die Gelenke und der letzte Wille wachsweich werden und es ihn fast noch auf den Dohlenleichnam runterknickt.

Wenn wer von uns dabei gewesen wär – Du oder ich – und hätt ihn trösten wollen sollen müssen – es würde uns jetzt langsam reichen. Hör endlich auf, du feuchter Schluchz.

Er ist allein. Er lässt es laufen, bis zum Versiegen, vier Autostunden weg von seiner Hause in Berlin. Denn das ist auch das Schlimmste: Es gibt ja nicht mal einen Grund für seine Reise. Nur, weil er wieder mal nicht schlafen konnte. Statt sich zu wälzen, fährt er lieber, nächtelang. Die paar Penunsen, die er hat, tauscht er dann ein für Kraftstoff und Bewegung. Manchmal parkt er noch irgendwo und schläft im Fond. Das Häuflein, das nicht Elend heißt und doch kein Fisch ist, sondern Mensch. Der es so gern bis hierhin nicht gebracht hätt, an einem Donnerstag, um 05 Uhr 43.

Da geht die Sonne auf.

Matt S. Bakausky: Fliegen umkreisen seinen Körper

“Warum fliegen da fliegen um deinen Freund?”, fragt mich Sabrina.

Ich will es nicht zugeben, aber mein Freund ist tot.

“Er hat’s nicht so mit der Hygiene”, antworte ich selbstbewusst.

“Und wieso bewegt er sich nicht?”

“Er hat gerade eine außerkörperliche Reise, das macht er manchmal” sage ich halbgelogen. Damit ist Sabrina erstmal zufrieden, denke ich. Eine Sichtung der Smartphone-Uhr verrät, dass mein Freund wohl vor etwa zehn Stunden verstorben ist.

“Hast du das Geld?”, versuche ich das Gespräch wieder auf sachliche Bahnen zu lenken.

“Es müffelt ganz schön, wann kommt dein Freund wieder von seiner Reise zurück?”

Ich schreie sie an “Scheiße, er ist tot, siehst du nicht dass er tot ist?”

Jetzt fängt sie an zu weinen. “Gib mir schon das Geld, nimm den Stoff und verzieh dich”, sage ich etwas ruhiger, wobei ich ihr anfangs in die Augen starre und dann zu Boden blicke.

“Hör mal Marc, willst du nicht einen Krankenwagen holen?”

“Ich möchte keinen Krankenwagen holen” antworte ich trocken.

“Scheiße was ist nur aus dir geworden, Marc. Lässt hier einfach deinen Freund verrecken.”

“Ich weiß nicht was ich tun soll”, gebe ich schluchzend zu. “Er hatte einen Bündel Scheine dabei und wollte mehr als sonst”

“Du bist echt das Letzte”, faucht sie mich an, stürmt ins Bad und schließt die Tür von innen ab. Ich setze mich neben die Leiche, nehme seine Hand und fange an zu weinen. Sage ihm, dass er jetzt an einem besseren Ort ist. Sage mir, dass er jetzt an einem besseren Ort ist. Sabrina ist immer noch im Bad.

Ich rufe “Du weißt, dass ich keiner Fliege was zu Leide tun kann. Es war ein Unfall.” Jetzt entsteht ein Plan. Ich muss mich der Situation stellen, doch zunächst muss ich Sabrina auf meine Seite bringen. Ohne ihre Unterstützung geht hier nichts.

“Kannst du mir vielleicht helfen, Sabrina”
Sie antwortet nicht.
“Ich muss da ein paar Sachen wegschaffen, bevor ich die Sanitäter rufe”
Keine Antwort.
“Sabrina?” rufe ich. Ich gehe zum Bad und klopfe an die Tür. “Es tut mir Leid, Sabrina, aber ich könnte wirklich deine Hilfe gebrauchen”
Leises Schluchzen aus dem Bad.

“Es springt auch was für dich raus, Sabrina, mach bitte die Tür auf”

“Okay, du kannst das Zeug haben, alles, du musst es nur mitnehmen”
Sie öffnet die Tür, kommt aber nicht raus. Ich sehe das als Einwilligung. Nehme eine Plastiktüte aus dem Vorratsschrank und packe, die Sachen ein. Gehe durch die Wohnung von Geheimversteck zu Geheimversteck. Laufe mit dem vollen Beutel in den Flur und da steht sie mit rotgeweinten Augen.

“Ach Sabrina”, ich will sie umarmen, jedoch drückt sie mich von sich. Sie packt den Beutel in ihren Rucksack und verschwindet.
Jetzt ist der Moment der Wahrheit gekommen.
Mein Freund sitzt still da, Fliegen kreisen um ihn.

Ich wähle die Nummer.

Michael Ludwig: Fliegen

Wenn sich eine Fliege die Hände reibt, dann sieht das sehr menschlich aus. Sie ist voller Vorfreude, dass sie uns Menschen eines Tages überleben wird. Vielleicht freut sie sich auch gehässig über die Vorstellung, eines Tages ihre Eier in unsere verwesenden Körper zu legen und ihren Kindern, diesen weißen fettigen Maden dabei zuzusehen, wie sie uns auffressen. Der Entomologe nimmt uns aber jeden Spaß, wenn er erklärt, dass die Fliegen nur die Sensoren an ihren Beinen reinigen. Die Entomologie macht wie jede Wissenschaft irgendwann jeden fantasievollen Gedanken kaputt.

Obwohl… das stimmt nicht ganz. Es gibt viele wirklich fantastische Sachen die in der Natur tatsächlich passieren. Die Krötengoldfliege legt ihre Eier in die Nasen von Kröten und die Larven fressen das Hirn der armen Amphibie bei lebendigem Leib auf… aber das dauert etwas… das Futter, in dem Fall die Kröte soll ja nicht gleich verfaulen. Als Kind habe ich fasziniert auf das Schwarz-Weiß-Foto solch einer Kröte im Buch Urania Tierreich Band Insekten geschaut, die traurig und mit angefressenem Hirn in die Kamera schaute.

Solche Sachen haben mich schon als kleines Kind begeistert und ich begann den Insekten mein Leben zu widmen. Fliegen waren da allerdings nicht unbedingt die Nummer eins. Mein Bruder und ich nutzen sie nur in Ermanglung eines echten Hundes oder Katze als Haustier. Wir banden vorsichtig ein Faden um eines ihrer Beine und sahen zu, wie sie schwerfällig an die Decke flogen. Dort konnten wir sie einfach mit dem Faden zurückholen. Später taten sie uns leid und wir wollten sie losbinden, aber das ging meistens auf Kosten eins ihrer Beine. Aber hey… sie haben sechs. Im Gegensatz zu Käfern oder Schmetterlingen ergab das Sammeln und Präparieren von Fliegen nicht wirklich einen Sinn. Ich wusste ja auch was die fressen, jeder der beim Camping im Hochsommer mal in den Wald geschissen hatte, sah beim Anblick riesiger Schwärme, die sich in Sekunden näherten was Fliegen fressen.

Dabei gibt es nicht nur Schmeißfliegen, die Unterordnung der Fliegen, die wie die Mücken zur Ordnung der Zweiflügler gehören, ist riesig: Es gibt Raubfliegen, Bohrfliegen, Fruchtfliegen, Raupenfliegen, Zitterfliegen und noch viele mehr.

Zu so etwas wie Beliebtheit oder Ruhm haben es am Ehesten die Schwebfliegen gebracht, sanft schwebende Blütenbesucher, die sich als Wespen oder Bienen tarnen. Der Schwede Fredrik Sjöberg hat sie mit seinen Büchern so richtig bekannt gemacht. Weil ich als Jugendlicher in ein Mädchen verliebt war, die ich einmal im Jahr in so Biologischen Jugendlager traf und die sich die Schwebfliegen zum Objekt machte, kenn ich noch heute einige ihrer lustigen, deutsche Namen:

Gemeine Schattenschwebfliege
Gelbflügel-Erzschwebfliege
Zwiebelmondfliege
Späte Frühlingsschwebfliege
Halbmond-Blattlausschwebfliege
Gemeine Schnauzenschwebfliege
Goldhaar-Langbauchschwebfliege
Späte Großstirnschwebfliege

Das Mädchen hieß Anke.

Theobald Fuchs: Fliegen

Ich liebe es zu fliegen. Richtig zu fliegen, frei in der Luft, ohne Geräte, ohne Maschinen. Nur mit der Kraft meiner Arme. Dabei fühle ich mich sicher, da ich ja selbst entscheide, in welche Höhe ich steige und wohin ich segele. Da wo ich selbst hinkomme, komme ich auch wieder heil heraus und zurück und herunter. Das ist die alte Regel. Der ich vertraue. Deswegen hat eine Katze Schnurrhaare, damit sie spürt, ob sie aus einem Loch wieder herauskommt, ehe sie hinein kriecht.

Meine Mutter war dagegen, dass ich flog. Strikt dagegen. Sie wollte, dass ich etwas Gescheites lerne. Sie hatte wohl zu viele üble Geschichten gehört von Kindern, die ihren Eltern einfach davonflogen. Mein Vater hatte keine Angst deswegen, er unterstützte mich, zeigte mir auch ein paar gute Tricks wie am Rücken fliegen und in einer Wolke die Luft anhalten, damit einen keiner darin entdecken kann. Ich flog ja auch nicht einfach fort. Als es irgendwann soweit war, verabschiedete ich mich ordentlich wie es sich gehörte und sprang vom Fensterbrett aus der Küche. Meine Mutter weinte, ihr nasses Taschentuch flatterte im Wind, dabei flog ich nur ans Ende der Straße, wo die Schule stand.

Die Schule an sich war ganz o.k. Wir lernten dies und das, doch was mir nicht gefiel: es gab haufenweise unerfüllte Vorstellungen, nicht eintreffende Erwartungen, ungültige Versprechen.

»Gleich fliegst du raus!« sagten mir die Lehrer ein ums andere Mal.

Darauf freute ich mich immer, doch der Lehrer war ein Lügner. Große Enttäuschung. Zu Fuß verließ ich das Klassenzimmer, niemand beschwerte sich. Da war etwas versprochen worden, aber nicht gehalten.

Ich probierte es immer wieder, bis ich die Schule abgeschlossen hatte. Mit drei Schlössern, deren Schlüssel ich in einer Erdspalte versenkte. Und Wasser hinterher kippte. Heute ist dort das tote Meer. Das Salz darin kommt von den Tränen all der Schüler, die enttäuscht wurden. Von sich selbst, von den Lehrerinnen und Lehrern, vom Unmöglichen als solchem, das leider echt knorzengroß ist.

Doch was hülfe mehr gegen Kummer als Bewegung in der frischen Luft? Es gibt kein Problem, das sich nicht mit Fliegen lösen ließe!

Das Schönste aber ist, im Flugzeug zu fliegen. Während die anderen in ihre Sitze festgeschnallt dasitzen und Angst haben, dass die Maschine am Boden zerschellt.

Verkrampft und bleich klammern sie sich an die Armlehnen, stoßweise und gepresst atmen sie die dünne Luft in der Kabine. Nur ich bin entspannt, nur mich stört es nicht, wenn die Hände der Stewards und Stewardessen vor Angst zittern und sie den Gin Tonic verschütten und ihnen die Tränen über’s Gesicht laufen, während sie dir einen schönen Flug wünschen. Tränen, die sie um sich selbst weinen, dass sie so dumm gewesen waren und nichts Gescheites gelernt haben, etwas, worauf ihre Mütter endlos gedrängt hatten, sondern dass sie diesen Beruf ergriffen haben, der nichts anderes als ein Selbstmordkommando ist.

Ich gleite derweil sanft und entspannt über den Köpfen der Menschen von vorn bis zum Heck der Maschine und wieder zurück zur Tür, hinter der Pilot und Pilotin vor Angst Blut schwitzen und mit verkrampften Händen beten, was das Zeug hält. Immer auf und ab fliege ich, ganz ruhig, ohne Furcht. Bis wir zusammen landen, der große Vogel und ich.

Wenn ich es nicht könnte, wenn ich nicht fliegen könnte, überall hin, wo ich will, und ganz besonders im Flugzeug – ich glaube, ich hätte dann auch wie alle anderen höllische Flugangst… behauptet zumindest meine Therapeutin. Oh! Jetzt geht’s los. Hören Sie auch dieses Geräusch? Na, dieses sirrende Geräusch, das da aus dem linken Motor kommt? Ganz klar zu hören ist das, da stimmt doch etwas nicht! Ogottogottogott… wir stürzen sicher ab!

Matt S. Bakausky: F wie Liebe

Dieser Text beruht auf wahren Begegebenheiten.

Ich bin verliebt. Beim Online-Dating hat es Klick gemacht. Sabine liebt mich auch, ganz bestimmt. Ich wollte eigentlich das Angebot kündigen, doch dann tauchte sie plötzlich wie aus dem Nichts auf. Ist das nicht romantisch? Ich mit 35 noch einmal die große Liebe finden! Wer hätte das gedacht. Stolz erzähle ich meinem Kumpel Bert davon. Er kann sich das irgendwie nicht vorstellen, so ganz einfach nur durch den Austausch von Worten und Fotos sich zu verlieben. Man muss doch die Person mal treffen oder zumindest ihre Stimme hören. Aber ich bin auf Wolke Sieben. Sabine will nun mal nicht Telefonieren, so sind Frauen eben  schreibt sie, ja sie ist etwas schüchtern, traut sich nicht. Ich muss sie also erst mal überzeugen, dass es sicher ist mit mir zu sprechen. Auch ihre E-Mail-Adresse will sie mir noch nicht geben, sie meint, dass sie die vor allem geschäftlich verwendet. Ich zeige mich verständnisvoll, denn sie muss ja sehen, dass ich nicht gefährlich bin. Mein Kumpel Bert fragt nach ein paar Wochen, was denn jetzt los sei, ob ich sie mal getroffen hätte. Ich sage ihm, dass sie noch nicht so weit ist, dass sie zwar ein wunderbarer, jedoch schüchterner Mensch, sei. Bert ist auf einmal interessiert an dieser Online-Dating Webseite und fragt mich, ob die kostenlos ist. Ich sage ihm, dass man da nur Nachrichten schreiben kann, wenn man zahlt. Und er fragt wie viel ich dafür denn zahle, dass ich dieser Frau schreiben kann. Und ich traue es mich nicht ihm zu sagen. Doch er lässt nicht locker. Und ich sage es ihm. Er sagt: „159 Euro im Monat, spinnst du? Und seit wann bist du da dabei?“ Ich sage ihm, dass er sich beruhigen soll. Ich bin erst seit einigen Monaten dabei und anfangs hatte ich nur einen Basic-Account und jetzt habe ich einen Pro-Account. Der Unterschied ist, dass man mit dem Pro-Account besser gefunden wird, mehr Reichweite hat und man sehen kann, wer sein Profil besucht hat. Bert ist immer noch entsetzt und meint jetzt: „Die verarschen dich doch! Für 159 Euro im Monat würde ich dir auch ein paar Nachrichten zuschicken. Schon mal dran gedacht, dass das auch ein Dude sein könnte?“ Nein, nein, so ist das nicht. Ich breche erstmal den Kontakt zu Bert ab, denn meine große Liebe –  Sabine – ein Dude, das kann nicht sein und Bert scheint sich da in etwas hinein zu steigern. Aber es nagt doch an mir, dieses Gespräch und ich spreche meine Traumfrau darauf an. Sie reagiert geschockt und ist beleidigt. Als ich mich entschuldige, reagiert sie erst nicht. Ich habe es wohl versemmelt, sie hat sich seitdem nicht mehr gemeldet. Ich habe diese wunderbare, jedoch schüchterne Frau verjagt. Ich traute mich nicht mein Profil zu kündigen, Sabine könnte jeden Tag auf mich zukommen und antworten. 

Ich kam auf die Idee nach ihr zu suchen. Und begann eine kleine Zettelkampagne in meiner Stadt … „Wer kennt diese Frau?“ … jemand fotografierte diesen Zettel ab und er landete im Internet. Ein TV-Sender rief mich an und fragte mich zu meiner Kampagne aus. Ich wurde in eine Talkshow eingeladen. Erzählte von meiner großen Liebe Sabine und wie ich sie verloren hatte. Dann als ich eine Träne vom Gesicht wischte und die Kamera darauf zoomte, in diesem Moment sagte die Moderatorin … „Wir haben die Frau auf dem Foto gefunden!“ und ich freute mich so sehr das ich zu schwitzen anfing und mir ganz warm ums Herz wurde. Ich fragte: „Ist Sabine heute hier?“ … Und die Moderatorin sagt: „Nein, aber wir haben eine Videobotschaft“. Und da war sie – meine Traumfrau – auf dem Bildschirm. Ein Reporter interviewte sie scheinbar zu dem Foto meiner Kampagne… jedoch sprach sie auf einer anderen Sprache und ein Dolmetscher übersetzte ihre Worte. „Ich bin die Frau auf den Fotos, ja“ „und wie ist ihr Name?“ „Ich heißte Tereza“… „und kennen Sie diesen Mann?“ „Nein, ich kenne ihn nicht.“ – Wie ist das möglich, dachte ich mir… sie wird sich doch an mich erinnern… „Ich habe die Fotos verkauft an eine Bildagentur vor 4 Jahren, ich weiß nicht, was die damit gemacht haben!“…. Mir ist etwas schwindelig, sie haben bestimmt nur eine Doppelgängerin gefunden! Die sieht schon etwas anders aus als auf den Fotos und die spricht Tschechisch…. Auf einmal wird alles weiß. Ich höre eine Stimme aus der Ferne … „Matt, du bist auf ein Fake-Profil hereingefallen. Das tut uns ja sooo Leid.“ Ich sehe nichts mehr, nur noch weiß. Sterbe ich?
Später sehen Bert und ich uns die Sendung im Fernsehen an, in dem Moment, in dem ich nur weiß sah, wankte ich leicht hin und her und die Moderatorin stützte mich und brachte mich auf meinen Platz zurück. Dann kündigt sie die fünf Tipps an, mit denen man seriöses Online-Dating erkennt. „Und glaubst du mir jetzt?“, fragt Bert. Ich lache ihn aus und antworte „Nein, das haben die doch gefaket, Fernsehen ist alles Fake! Sabine hat sich wieder bei mir gemeldet und sie sagt das auch!“ Da schaut Bert mich traurig an. Vielleicht hätte er auch gerne so eine Frau wie Sabine, aber ich spreche es lieber nicht an.