Katrin Rauch: Nichts als die Wahrheit, schönes Fräulein

Es hatte zu dämmern begonnen und im Fenster des Tankstellengeschäfts sprang die Leuchtreklame an. In lauten, fast aggressiv blinkenden Farben stand OPEN im Fenster und warf zarte Schatten auf den Asphalt vor einer jungen Frau. Ihre Umrisse und die ihres Rucksacks zwinkerten ihr nun entgegen, während die Abendsonne den Zapfsäulen und dem Dach darüber einen goldenen Schleier überwarf, der die ganze Szenerie merkwürdig elegant erscheinen ließ. Ein paar Meter entfernt saß ein sichtlich betrunkener Mann auf einem der verwitterten Plastikstühle und murmelte in variierender Lautstärke diffuse Dinge vor sich hin. Die Frau biss unterdessen über die Worte des Herren leicht schmunzelnd in ihr Jausenbrot. Der letzte Trucker hatte sie hier abgesetzt; von hier aus würde man als Anhalterin gut weiterkommen, hatte er gemeint, vor allem Nachtfahrer kämen hier mehr als genug vorbei. Damit würde sie gut weiterkommen, hatte sie erwidert, sich herzlich bedankt und alles Gute gewünscht. Den Segen Gottes versuchte sie sich seit geraumer Zeit zu verkneifen. Es war eine hartnäckige Angewohnheit, ihn zu wünschen, jedoch wollte sie diesem Leben ja den Rücken kehren. 

Als Kind war sie so glücklich gewesen. Damals, in der Gemeinde, mit ihren Brüdern und Schwestern, den vielen anderen Familien und Kindern, hatte sie ein Leben in Harmonie und Gemeinsamkeit gelebt und es hatte ihnen an nichts gefehlt. Doch die kindliche Unschuld und Sorglosigkeit war bald aufgebraucht gewesen und je weiter sie dem Erwachsenenalter entgegenschritten, desto enger wurde das Korsett aus Regeln geschnürt, besonders für die Mädchen. Das kleinste aus der Reihe tanzen wurde bestraft, ein jeder Fehltritt gemaßregelt und man hielt sie und ihre Individualität fest in der Hand. So viele Jahre später blickte sie zurück auf dieses Mädchen, das sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als einen Mann zu heiraten, seine Kinder zu bekommen und als frommes Mitglied der Gemeinschaft zu dienen – so idealistisch, so naiv, so devot und verblendet vom heiligen Geist und den Menschen um sie herum, die ihnen dieses Märchen einzubläuen versuchten, im wahrsten Sinne des Wortes. Sie erkannte dieses Mädchen kaum wieder. 

„Es ist nicht die Wohltätigkeit des Metzgers, des Brauers oder des Bäckers, die uns unser Abendessen erwarten lässt, sondern dass sie nach ihrem eigenen Vorteil handeln.“ Der berauschte Tankstellengast bei den Plastikstühlen hatte wieder einmal seine Stimme erhoben, sodass sie unter dem Tankstellenvordach leicht widerhallte. Der jungen Frau entfuhr ein glucksendes Lachen, gedämpft vom Biss ins Brot. Sie kam um den Gedanken nicht herum, was dieser Herr wohl an Theorie konsumiert haben musste, um zu solchen Konklusionen zu kommen. Von wegen „nach ihrem eigenen Vorteil“ – war nicht ein jeder Mensch in seinen Grundfesten ein empathisches und soziales Wesen? Davon war sie fest überzeugt, trotz der Strapazen und Misshandlungen ihres alten Lebens und trotz ihrer 

kleinen, individuellen Aufklärung, die ihre Verblendung schwinden gelassen hatte. „Keine Gesellschaft kann gedeihen und glücklich sein, in der der weitaus größte Teil ihrer Mitglieder arm und elend ist.“, bellte es von ihrer rechten Seite herüber. Sag‘ ich doch, pflichtete sie dem Trunkenen gedanklich bei. Sein Gerede wirkte auf sie wie eine Antwort, als konnte er sie denken hören. 

Brotkauend sank sie weiter in ihre Träumereien hinab, auf dieser Tankstelle, auf der Bordsteinkante neben ihrem Rucksack sitzend, vom roten und blauen OPEN beleuchtet. Was freute sie sich auf die Gesellschaft, von der der Mann sprach, in der sie gedeihen und glücklich sein konnte, auf diese bunte Welt, in der alle Menschen gleichberechtigt und frei waren, und die mehr bereithielt als die Verbindung zu Gott über alte Geschichten und nie enden wollende Kasteiung. Was freut sie sich auf dieses Leben in dem sie eigene Entscheidungen treffen konnte und nicht dafür bestraft würde. In der sie Make-up würde tragen können, ohne dafür eine Rüge zu bekommen oder gar geschlagen zu werden. In der sie sich selbst aussuchen konnte, in wen sie sich verliebt und wen sie heiraten würde. In der sie keinen patriarchalen, physisch und psychisch misshandelnden Männern mehr ausgesetzt sein würde. In der sie Bücher würde lesen können, sogar die über Wissenschaft und über Hexen, einfach so, nicht heimlich unter der Bettdecke, und sie würde sich nicht mehr davor fürchten, zur Strafe auf dem Steinboden im Gang schlafen zu müssen. Sie würde sich die Haare abschneiden, kurz, wie ihre Brüder, sie würde sich ihre Nägel lackieren und enge Kleidung tragen, hübsche Kleidung, und es würde keine negativen Konsequenzen nach sich ziehen. Sie würde irgendwann ein eigenes Haus oder eine Wohnung besitzen und es mit ihrem eigenen Charakter füllen und einrichten können, mit einer eigenen kleinen Bibliothek mit Büchern zu allen möglichen Themen, und sie würde sich eine eigene Meinung anlesen können. Sie würde sich die Welt nicht länger erklären lassen müssen, schon gar nicht von alten, grausamen Männern, die Liebe predigen und Hass säen, sie würde sie sich selbst erklären und die Wahrheit finden, die irgendwo außerhalb dieses verblendeten Kosmos, aus dem sie entflohen war, existiert, da war sie sich sicher. Sie würde sich mit all den Themen beschäftigen können, die als Häresien und Teufelszeug verleumdet, beschimpft, tabuisiert und aus der Gemeinschaft verbannt wurden. Ja, sie würde nicht nur über Wissenschaft lesen, sie würde sogar selbst Wissenschaftlerin werden können, oder Hexe. Sie lachte, aber dieser Gedanke ließ Zuversicht und eine unaufhaltsame Energie durch ihren Körper wabern, ehe von drüben neuerlich ein Satz herüberschwappte: „Die Wissenschaft ist das Gegengift der Verführung und des Aberglaubens.“ Nun wurde es ihr doch etwas unheimlich. Sie warf einen Blick in die Richtung, aus der die klug klingenden Worte kamen, und wo immer noch derselbe Mann weiterhin eifrig gestikulierte und lallend seine Rede fortsetzte. „Es ist die grundlegende Illusion des Sozialismus, dass sich Armut durch Umverteilung des vorhandenen Wohlstandes beseitigen lasse.“ Diesem Gerede musste doch auf den Grund zu kommen sein. Die junge Frau räusperte sich und setzte zaghaft zum Gespräch an: – „Ähem, entschuldigen Sie bitte, dürfte ich … ?“ – „‘Niemand hat vom Kapitalismus mehr profitiert, als die Arbeiterklasse.‘“ – „‘Tschuldigung? Könnte ich … ich hätte eine Frage …“ – „‘Sozialismus und Freiheit schließen einander definitionsgemäß aus.‘“ – „Entschuldigen Sie bitte!“ – „Hä? Ja? Was willst du?“ – „Ähm, entschuldigen Sie bitte, wenn ich sie unterbreche, aber mich würde interessieren, also, ähm, worüber sprechen Sie denn?“ – „Ach so! Ja, über die Wahrheit, schönes Fräulein! Nichts als die Wahrheit!“ 

NedGPT: Feuerzangenbowle und Esoterik

Es war eine kalte Winternacht und ich traf mich mit meinen Kommilitonen zu einem kleinen Weihnachtsspaziergang. Wir kamen auf den Wintermarkt und dort gab es Feuerzangenbowle. „Feuer – Zangen – Bowle“, flüsterte ich andächtig, als ich den dampfenden Becher in meinen Händen hielt.

Ich hatte die Feuerzangenbowle noch nie zuvor probiert und war begeistert von ihrem süßen, warmen Geschmack. Wir tranken Runde für Runde und ich fand mich plötzlich in einem tiefen Gespräch über Esoterik mit meinen verbliebenen Freunden wieder.

Wir philosophierten über die Energie des Universums und wie wir uns in sie hineinversetzen können, als ich plötzlich bemerkte, dass ich kein Geld mehr hatte. Ich bat meine Freunde um eine letzte Runde Feuerzangenbowle und lieh mir sogar noch etwas Geld für den Nachtbus, um pünktlich zu meinem Vorstellungsgespräch für eine Esoterik-Firma zu kommen.

Ich war noch immer betrunken, als ich im Vorstellungsgespräch ankam. Ich versuchte, meine Esoterik-Kenntnisse zu zeigen, aber es endete damit, dass ich versuchte, meine Handflächen zu lesen und den Interviewer versehentlich mit meiner Feuerzangenbowle bespritzte.

Am Ende bekam ich den Job nicht, aber ich hatte eine großartige Zeit mit meinen Freunden und ich schwöre, dass ich nie wieder so viel Feuerzangenbowle trinken werde, bevor ich zu einem Vorstellungsgespräch gehe.

Elisabeth R. Hager: HARAKEKE

Te harakeke
Te korari
Nga taonga whakarere iho
O te rangi
O te whenua
O nga tupuna
Homai he oranga mo matou
Tihei mauri ora1

Das dunkle Deckhaar der Ärztin wippt strähnig vor und zurück, während sie dem Paar, das hinter ihr aus dem Behandlungszimmer tritt, zum Abschied zunickt. Im Hintergrund dudelt ein Weihnachtslied, dabei ist heute schon der zweite Januar. Das Paar – er Surfbuddy mit Basecap, sie strahlende Yoga-Augen, winziger Bauch – winkt uns im Vorbeigehen zu. Die Ärztin bleibt einen Moment von uns abgewandt stehen. Ich spüre, wie fertig sie ist. Dann dreht sie sich her.

„Hello, Tommy Tuwhare and Rosmarie?“

„Schweiger.“

Ihr von Zähnen gerahmtes Lächeln macht kurz Pause, dann setzt sie umso freundlicher an: „Happy new year to the three of you.“

„Happy new year to you too,“ sagt Tommy.

„Please follow me“, sagt die Ärztin und tritt vor uns ins Behandlungszimmer.

Beim Blick auf ihren fettigen Haaransatz bekomme ich Gänsehaut. Wahrscheinlich liegt es an der aufgedrehten Klimaanlage. Ich greife nach Tommys Hand. 

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Wir stehen im Halbkreis um den Flachsbusch herum, zwei junge Französinnen, Kristin, ich und in der Mitte Heather, unsere Lehrerin. Die Nachmittagssonne knallt  herunter und überzieht das Gestrüpp vor uns mit einem mattweißen Film. Wir sind hier, um die Grundtechniken des Harakeke² zu lernen, des traditionellen Flechtens der Maori. Es war Kristins Idee, aber ich bin nicht komplett dagegen. Besser als daheim in der Badewanne sinnlos vor mich hinzuschrumpeln.

Die Flachsblätter ragen als biegsame Lanzen in die Höhe. Manche sind geknickt wie Strohhalme. Ich schaue zu Heather hinüber. Alles an ihr wirkt dunkel, großporig, fleischig. Ihre Beine in den Shorts, die Schultern im grellgelben Tank Top, die knollige Nase. Der Pounamu³ um ihren Hals ist groß wie ein Faustkeil. Heathers Locken bauschen sich unter einem geflochtenen Haarband. Ihre Finger sind flink wie Tentakeln. Sie wandern die Blätter entlang, scheinen Längen zu messen, Breiten zu erfühlen. Heather nickt, dann bückt sie sich, setzt andeutungsweise die Klinge ihres sichelförmigen Sägemessers an und nimmt mit jeder von uns Blickkontakt auf.

„To harvest Harakeke you need strong arms.“

Keine von uns hat Arme wie Heather, aber es wird schon irgendwie gehen.

„And something else: Are any one of you ladies having your moon-days?“

Die Französinnen werfen einander entrüstete Blicke zu. Kristin schüttelt den Kopf. Ich mach es ihr rasch nach.

„It’s just: Girls who are having their period are not allowed to cut Harakeke. It’s tapu4.“

Die Augen der Französinnen weiten sich. Heather wirft ihnen einen ernsten Blick zu.

„So you two girls don’t bleed either, ey?“

Sie winden sich noch ein bisschen, schütteln dann aber auch ihre Köpfe.

„Okay then, let’s get started. Just watch my movements, then take the knife and copy me. But before we start, I want everybody to silently thank the plant“, sagt Heather.

Sie murmelt ein paar Sätze auf Tereo5. Dann beginnt sie zu sägen.

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„There’s nothing in here about former scans for baby?“ sagt die Ärztin und schaut mit hochgezogenen Brauen vom Mutterschaftsheft auf, erst zu Tommy, dann zu mir.

„Rosi is from Austria“, springt Tommy mir bei. „She’s been here for just a few months and didn’t get medical treatment on her tourist visa. We got clearance on the 23rd, so we made the appointment for today.“

„I see“ sagt die Ärztin. „A little Christmas present from our New Zealand government“, und fletscht wieder die Zähne.

„How do you feel, Rosi? Your’e at thirteen weeks I guess?“

„Fourteen weeks. I feel good. Just tired, but the sickness is gone.“

Die Ärztin sagt etwas, das ich nicht verstehe, und deutet mir, mich hinzulegen. Sie zieht mein Kleid hoch und schmiert kaltes Gel auf meinen Bauch. Dann klappt sie einen Screen in meine Richtung.

„You guys must be really excited to see baby for the first time.“

Wir nicken. Die Ärztin lächelt. Dann fährt sie mit einem grauen Joystick über meinen Bauch. Tommys Hand ist vor Aufregung feucht. Er lächelt mir zu, dann sehe ich sein schönes, ernstes, auf den Bildschirm gerichtetes Profil, konzentriert wie bei einer Sportübertragung.

„Your baby must be hiding very well“, sagt die Ärztin, während sie auf meinem Bauch Pirouetten dreht. Plötzlich bekommen ihre Bewegungen eine Unwucht. Sie nimmt das Gerät von der Haut, setzt es wieder an. Macht ein paar Fahrer, hört wieder auf. Kommentarlos klappt sie den Bildschirm von mir weg und zieht nun ganz langsam und mit zusammengepressten Lippen Kreise um meinen Bauchnabel.

„Not sure… Not sure, what that actually…“

Dann bricht ihre Stimme und die Bewegung erstarrt.

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„Look at the plant. See those tiny leaves in the middle? That’s what we call the baby. It’s protected by its father on the right and its mother on the left side. Cutting Harakeke you’ll always go for the grandparent-leaves and let alone the parents and the baby. If you regularily cut the elders you’ll get a beautiful, healthy plant.“

Heather lacht, dann wird sie ernst.

„Here, Rosy! Have a go!“

Ich knie mich unter den Strauch und beginne von außen nach innen Blätter abzusägen. Eine Spinne seilt sich vom Blatt auf meine Hand. Ich schüttle sie ab und setze die Klinge neu an. Es dauert ein paar Sekunden bis ein Blatt durchgesägt ist. Dann fällt es schwer und lang zu Boden.

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Die Ärztin fängt sich wieder, doch einen Augenblick lang sehe ich deutlich ihr Entsetzen. Tommys Augen sind unbewegt auf den Bildschirm gerichtet. Die Ärztin deutet mit spitzen Fingern auf etwas, setzt zu sprechen an, zögert. Schließlich sagt sie es doch: „I haven’t seen this in a long time.“

Ich hebe den Kopf und stemme den Oberkörper hoch, um Sicht auf den Bildschirm zu bekommen. Was ich sehe, ergibt keinen Sinn. Das da auf dem Monitor sieht nicht aus wie ein Baby. Es sieht wie aus ein aufgequollenes Gummibärchen, das in einer engen Wasserhülle schwimmt.

„Very rare“, sagt die Ärztin nach langem Schweigen. Dann entschuldigt sie sich. Mir schießen Tränen in die Augen. Ich höre Tommy und die Ärztin reden. Schnell und hektisch und besorgt. Immer wieder höre ich, englisch ausgesprochen, die Worte Hydrops fetalis.

„Hydrops fetalis“, sagt die Ärztin wieder. Und ich kann nicht anders als denken, dass die Sau sich nicht mal die Haare gewaschen hat, bevor sie mir diese Scheiße antut.

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Jede von uns braucht zehn Blätter des Hakareke-Buschs für unser erstes Werkstück. Wir schleppen die Blätter auf eine große, geflochtene Matte, die Heather auf dem Rasen vor ihrem Häuschen ausgebreitet hat. Ein alter, dunkler Mann in einer ausgebeulten Jeans trägt unter jedem Arm einen blau-weiß gestreiften Sonnenschirm aus dem Schuppen zu uns herüber. Auf seinen Wangen prangen in grünlichen Spiralen Tā moko7, dünn tätowierte Linien.

„Say Hi to my pupils, Nathan, you old fart“, lacht Heather.

Nathan hebt die Hand, spreizt die Finger, bleckt die Zähne und sagt: „Hi folks!“

Während er die Sonnenschirme in die Ständer hievt, kommt ein etwa siebenjähriger Junge mit wippendem Haarschopf aus dem Haus gelaufen, ein Tablett mit fünf Saftgläsern in Händen.

„Thanks Mokupuna6“, sagt Heather lächelnd, als er bei ihr ankommt, und nimmt sich ein Glas.

„This is my grandson Witi. He’s a good boy. Help yourself!“

Ich nehme mir ein Glas, bedanke mich mit einem Nicken bei Witi und Heather und nehme einen Schluck. Kaum hat Kristin sich das letzte Saftglas genommen, rennt der Bub wortlos mit dem leeren Tablett ins Haus zurück, während der alte Mann noch ein paar Augenblicke um uns herum flattert und die Schirme aufspannt. Dann verschwindet auch er wortlos im Schuppen neben dem Haus.

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Auf der Rückfahrt brennt die Sonne durch die Windschutzscheibe. Ich habe gelesen, dass man in Neuseeland sogar durch Fensterglas einen Sonnenbrand bekommen kann. Wir treffen hier ständig Leute mit Sonnenbrand. Viele der Älteren haben Hautkrebs. Irgendwann bricht es aus mir heraus: „What are we going to do now?“

Ich sehe den Horror in Tommys Augen. Erst jetzt, schießt es mir durch den Kopf, lernen wir uns kennen. Und Tommy ist einer, der den Schmerz einfach verschluckt.

„Further examinations“, sagt er nach einer langen Pause. Dann biegt er in den schmalen Weg zur Selbstbedienungstankstelle ein, steigt aus und bleibt ein paar Herzschläge lang wie ausgeknipst neben der Tanksäule stehen. Während der Schlauch Benzin in Tommys Auto pumpt, schaue ich auf einen kreisrunden Vogelschiss auf der Windschutzscheibe.

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Heather zeigt uns wie wir die Blätter knicken müssen, damit wir gleich große Hälften bekommen. Dann reißen wir unter ihrer Anleitung Flachsstreifen ab. Sie dreht sich eine Zigarette und lässt genüsslich ein paar Minuten verrauchen, während wir uns mit dem Flachs abmühen. Ich brauche ewig, bis ich die Blätter zu zwanzig, zirka gleich dicken Streifen verarbeitet habe. Als wir fertig sind, nimmt Heather die stumpfe Seite ihrer Sichel und zieht die Unterseite des dünnen Streifens kraftvoll drüber: „It’s a bit like wrapping up your christmas presents. Remember? You hold the strip on one side and pull it over the edge to get the juices out and make our strips soft and bendy.“

Ich halte den Flachsstreifen in der einen Hand und ziehe ihn über die Klinge. Hellgrüner Saft dringt aus den Poren.

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„Tu dir das nicht an“, sagt meine Mutter am Telefon, als ich ihr erzähle, dass ich warten will, wie sich mein Baby im Bauch entwickelt.

„Tu dir das bitte nicht an“, sagt sie noch einmal und stößt einen endlosen Seufzer aus. Dann erzählt sie von ihren Schwangerschaften. Sie rückt mit Geheimnissen raus. Überhaupt rücken die Frauen in meiner Umgebung plötzlich alle mit Geheimnissen raus. Hinter der Welt, die ich kenne, mit ihren Gesetzmäßigkeiten und Regeln, schält sich eine zweite heraus: schleimig, stinkend und monströs. Eine Welt, in der Frauen einander traurige Geschichten zuflüstern, die der offiziellen Welt nicht zumutbar sind. Ich will das Fenster aufreißen und rausschreien, was mit mir ist. Ich will die offizielle Welt, die Welt der Regeln und Gesetze, mit meinem stinkenden Schleim überziehen. Ich will, dass sich die Welten begegnen. Auf dem Flachsbusch vor dem Fenster sitzt ein Tui und lässt sein stranges Gezwitscher hören, diesen typisch neuseeländischen Synthesizer-Sound. Dann höre ich den Rasenmäher. Unser Nachbar hier, ein pensionierter Busfahrer, der uns immer mal wieder eine Gurke aus seinem Garten vor die Haustür legt, fährt seinen Mähtruck aus der Garage. Er winkt. Hier winken immer alle so freundlich. Wo stecken die nur ihre Leichen hin? Ihre Totgeburten? Ich versuche ein Lächeln, hebe den Arm. Dann gehe ich zur Couch zurück, ohne den Nachbarn und seine Welt aus Regeln und Gesetzen mit meinen Geschrei zu verstören, das von ganz unten kommt, aus dem Erdkern zwischen meinen Beinen. Stattdessen mache ich Youtube an und singe leise mit.

It must be that old evil spirit /
So deep down in the ground /
You may bury my body /
Down by the highway side/
You may bury my body/
Down by the highway side.

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Wir sind bei Tommys Familie zum Essen. Von allen Seiten wird mir Fleisch und geröstete Kumara8 auf den Teller gelegt. Wir erzählen nichts von den Untersuchungen. Tommys Mutter soll sich nicht unnötig aufregen. Sie hat ein leichten Herzinfarkt hinter sich und wälzt sich auch so schon im Schlaf hin und her. Der Termin in Auckland ist in drei Tagen. Ich weiß den ganzen Abend nicht, was ich sagen soll und stopfe Unmengen an Fleisch und Kumara in mich hinein. Der Großteil der Leute, denen ich hier begegne, hat mittleres bis schweres Übergewicht. Niemand, der es nicht weiß, bemerkt, dass ich schwanger bin. Stattdessen loben alle meine schlanke Figur.

Tommy hat seine eigene Strategie mit dem Ganzen fertig zu werden. Er redet nur das Nötigste und spielt in jeder freien Minute Minecraft auf dem Tablet. Das ist das Spiel, bei dem man alles Mögliche aus würfelförmigen Blöcken bauen kann. Übers Wochenende hat er eine riesige, goldene Pyramide gebaut. Im Inneren soll eine Krypta entstehen, wo er, falls unser Baby stirbt, eine Gedenktafel anbringen will. Ich weiß nicht warum, aber neben der Pyramide hat Tommy eine Gartenanlage mit einem großen Spielplatz gebaut.

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Das Krankenhaus von Auckland ist riesig. Es dauert fast eine Viertelstunde bis wir im richtigen Stock vor dem richtigen Behandlungsraum stehen. Bei der Untersuchung, zu der wir gehen, wird ein stricknadeldickes Werkzeug durch die Bauchdecke der Patientin gestoßen. Ich hab es mir vorher im Internet angeschaut. Es besteht eine zwei bis vierprozentige Chance, dass der Fötus beim Eingriff verletzt wird oder stirbt. Wir müssen vorher unterschreiben, dass wir dieses Risiko eingehen. Wir diskutieren lange, unterschreiben dann aber doch. Während wir warten, spielt Tommy Minecraft auf dem Tablet. Ich schaue ihm zu, wie er Blöcke hin und her schiebt, zerstört und wieder neu anordnet. Als er meinen Gesichtsausdruck sieht, macht er das Tablet aus und nimmt mich in den Arm.

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„Are you alright?“ Heather schnippt die Finger vor meinen Augen. Ich nicke und starre erst auf ihren abstehenden, grünverfärbten Daumen, dann auf die beiden Flachsbänder, die sie in der anderen Hand hält.

„If you want to weave a basket, just looking at what other people do, doesn’t help. Your body must learn the movements.“

Ich nicke und lege die beiden Bänder so nebeneinander, wie sie es mir gezeigt hat. Dann beginne ich zu flechten. Ich knicke ein Blatt um und schiebe ein zweites darunter. Ich lege ein Drittes daneben und webe es unter die anderen. Und immer so weiter, eins nach dem anderen, gewinnt das Körbchen an Tiefe und Raum.

Während wir die einzelnen Stränge verweben, erzählt Heather uns alte Maori-Legenden. Es wirkt, als wären die Geschichten Teil des Programms, das sie bei jedem ihrer Workshops abspult, aber interessant es ist trotzdem. Ich erzähle nicht, dass ich keine echte Touristin bin und viele der Geschichte von Tommy kenne. Ich höre einfach zu und flechte. Hauptfigur der Sagen ist Māui te tikitiki a Taranga, einer der Söhne von Ranginui und Papatūānuku, Vater Himmel und Mutter Erde. Heather erzählt die Geschichte, wie Māui die Sonne mit einem Seil gezähmt und die beiden Hauptinseln Neuseelands mit dem magischen Backenknochen seiner Großmutter an Land gezogen hat

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„I’m not a breeder“, hat Tommy ganz am Anfang unserer Beziehung einmal gesagt. Für mich war das in Ordnung. Die Vorstellung, selbst Mutter zu werden, fand ich bis Anfang Dreißig absurd. Ich wollte studieren, reisen, Politik machen. Doch wenige Tage nachdem Tommy mich in Auckland vom Flieger abgeholt hat, ist mir nach dem Yoga schwindlig geworden. Dann haben die Brüste begonnen, so komisch zu spannen. Zwei Wochen lang dachte ich noch, es läge am Jetlag. Dann hab ich doch einen Test gemacht. Und als ich Tommy die beiden Striche drauf gezeigt hab, konnte ich an seinem Gesicht ablesen, dass er doch ein Breeder ist.

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„Māui has not just fished up New Zealand. He also tried to conquer death“, sagt Heather und richtet ihr Werkstück auf dem Schoß neu aus. Dann erzählt sie, wie er nach vielen anderen Heldentaten Hine nui te Po, die Göttin der Nacht und des Todes bezwingen wollte. Seine Freunde, die Vögel des Waldes, begleiteten ihn. Als sie bei der Göttin ankamen, schlief sie tief und fest. Māuis Plan war es, den Geburtsvorgang umzukehren, durch die Vagina in den Körper der Göttin einzudringen und sich einen Weg bis zum Mund hinauf zu bahnen, sie zu töten und den Tod so zu besiegen. Er bat die Vögel, still zu sein, um die Göttin nicht zu wecken und kroch langsam in ihre Vagina. Alle Vögel waren still, nur einer, der Fantail, konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Da machte die Göttin die Augen auf, presste erschrocken die Schenkel zusammen und zerquetschte Māui.

„This is the reason why humans are mortal“, sagt Heather und knüpft eine letzte Reihe Flachsstränge zusammen.

„And it’s also the reason why in Tereo we call the vagina ‚Whare o Aitua or Whare o Mate‘, house of misfortune and disaster.“

Sie bricht in ein schallendes Lachen aus, das nur langsam verebbt. Dann schaut sie uns herausfordernd an: „Now ladies, I’ll show you how to finish your baskets.“

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Ich träume, die Abtreibungsärztin ist eine hünenhafte Fa’afafine9 mit Knoten auf dem Hinterkopf und Blume im Haar. Unterm weißen Kittel trägt sie ein Abendkleid. Während wir über die Diagnose reden, hält sie meine Hand. Erst jetzt wird mir klar, wie sehr ich mich schäme, dass mein Körper seine Kraft und Liebe in den Versuch investiert, ein nicht lebensfähiges Wesen herzustellen. Und dass ich dieses kaputte Ding trotzdem schon liebe. Die Ärztin erzählt von ihrer Kindheit als Junge in Samoa, vom Rugbyspielen und den Ringkämpfen, an denen sie teilnehmen musste, um den Vater nicht zu enttäuschen. Und vom Mut, sich schließlich zu erlauben, sie selbst zu sein. Im Moment bevor ich aufwache, sehe ich ihre rotgeschminkten Lippen in Großaufnahme vor mir. Sie flüstert mir mit tiefer Stimme ins Ohr: „If you fuck up a cake, you bake another one.“

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Nachdem unsere Körbchen geflochten sind, sitzen wir noch eine Weile auf der ausgebreiteten Matte um Heather herum, nippen an den Saftgläsern und hören zu, während sie erzählt, wie sie vor einem halben Leben von ihrer Großmutter das Flechten gelernt hat. Die anderen beratschlagen, wofür sie ihre Körbchen verwenden und was sie darin aufbewahren wollen. Ich kann nicht sagen, wofür ich meines brauche, aber ich bin zufrieden. Mein Körbchen ist schön. Hinter den Harakeke-Büschen beginnt es zu dämmern, rosa Wolkenschwaden treiben über den Himmel. ‚Die Engel backen Kuchen‘, hat meine Mutter mir als Kind beim Blick auf das Abendrot erklärt. Irgendwann stehe ich auf, gebe Heather die zwanzig Dollar und verabschiede mich.

„Take care, Sweetheart“, sagt sie und steckt den Geldschein in die Hosentasche.

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Auf dem Spielplatz an der Taupiri Avenue spielen noch ein paar Kinder. Ich bleibe etwas entfernt an einem der großen Pohutukawa10 Bäume stehen und schaue ihnen zu. Zwei Buben im Vorschulalter turnen auf den Geräten herum, ein dickes, blondes Mädchen schaukelt. In der Ferne ragen Palmen auf wie Staubwedel, durch die der Wind fährt. Zwei Häuserzeilen, dahinter ist schon das Meer. Es brandet direkt an mein Ohr. Plötzlich kommt aus einem der Häuser, im Halbdunkel, ein kleiner weißer Hund gelaufen. Er springt auf das Mädchen zu, lässt sich von ihr streicheln, wirft sich auf den Boden vor der Schaukel. ‚Tu dir das nicht an‘, höre ich meine Mutter sagen. Ich stelle sie mir vor, wie sie mit in Sorgenfalten gelegter Stirn in unserer vertäfelten Tiroler Stube steht, auf der anderen Seite der Erdkugel, und sich das graue Telefonkabel, ohne es zu merken, um den Arm wickelt. Im Kachelofen ein Feuer. Vor dem Haus zwei Meter Schnee. ‚Tu dir das nicht an.‘

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Am nächsten Morgen fahren wir ins Krankenhaus. Die Tablette, die ich vor dem Einschlafen genommen hab, scheint zu wirken. Ich weine nicht, spüre nur eine Leere in mir, Vorbotin der noch größeren Leere, die mir bevorsteht. Das geflochtene Körbchen liegt auf meinem Schoß, so feierlich, als läge unser totes Baby schon darin.

„I told you a few legends about Māui“, sagt Tommy in die Stille hinein und deutet mit der Hand, die nicht am Lenker liegt, auf das Körbchen.

„Yeah.“

„But did I tell you how he was born?“

Ich schüttle den Kopf. Zum ersten Mal seit Wochen sehe ich Tommy lächeln.

„When Taranga, Māuis mother, gave birth, she thought Māui was dead. She thought her son was stillborn. So she cut off her hair, wrapped it around him and gave his body to the sea.“


Sprecherin: Verena Schmidt
Regie: Lukas Münich
Schnitt: Andreas V. Weber

Glossar:

1 Karakia (Gebet) vor dem Flechten von Harakeke. Der Karakia ist eine Anrufung der Harakeke-Pflanze, ein Lob ihrer Eigenschaften & ein Dank dafür, dass sie ihre Blätter gibt. Karakia werden traditionell nicht wörtlich übersetzt.

² Harakeke: Neuseelandflachs

³ Pounamu: dunkelgrüner Stein, der als Anhänger um den Hals getragen wird (Maorijade)

4 Tapu: Tabu, etwas Heiliges

5 Tereo: Sprache der Maori

6 Mokupuna: Kind/Sohn

7 Tā moko: traditionelle Tätowierung der Maori

8 Kumara: weißliche Süßkartoffel der Maori

9 Fa’afafine: eine Person, die sich der Einteilung in zwei Geschlechter entzieht (körperlich werden Fa’afafine meist als „männlich“ gelesen, sozial aber als „weiblich“)

10 Pōhutukawa: Baumart mit schönen, roten Blüten (Eisenholzbaum)

Anne D. Plau: Der Großsprecher

Der Personalchef betritt den Raum und alle Menschen beginnen zu nicken. Sie nicken wie braune Wackeldackel auf der Ablage eines Autos. 

„Meine lieben geschätzten Mitarbeiter!“

Wackel dackel da dum.

„Wir werden right now weiterführen!“

Wackel dackel. 

„Erneuerbare Interpretationstendenzen führen nach ganz vorn!“

Wackel dackel wackel.

„Die restriktive fakultative Verabfolgung lässt Probleme verblassen. Mit anderen Worten, das Konzept der wasserdichten Neuorientierung ist maximal erfolgreich.“

Der Sprecher scheint seinen Worten zu glauben. Und die Nickenden? Man hat ihnen eingeschärft, sie sollten sich zustimmend verhalten. 

„Sonst?“, hatte eine gefragt. 

Ihr Vorgesetzter wedelte mit einem amtlich aussehenden Papier mit Firmenkopf.

„Sonst?“, wagte sie zu erwidern.

„Abmahnung. Und die nächste Woche wieder. Und dann noch einmal. Und dann dürfen wir Sie kündigen.“

„Das geht doch gar nicht!“

„Dieses Vorgehen wurde von der Rechtsabteilung geprüft, hat ab sofort seine volle Gültigkeit. Hören Sie genau zu, sonst.“ 

Das „Sonst“ wuchs langsam heran. Es wurde im Dunklen gefüttert. Die Nachfragen verhalten langsam. 

Die Jungen, Ungebunden, Querulanten, Alleskönner und Spiegelsehenden verließen das Unternehmen. 

Die anderen nicken weiter. 

So könnte man meinen. 

So meinte es die Führung, die diesen Großsprecher auf die Bühne schickte, der nun die Hände erhob und lauthals verkündete: „Mitarbeiter, die Früchte unserer Arbeit subsummieren sich. Der glückliche Tag der Ernte rückt näher.“

„Sonst?“, fragte jemand.

„Sonst?“, ergänzte ein anderer.

Da dum.

AnneDP Parallelen mit der wirklichen Welt sind unbeabsichtigt, aber nicht zu vermeiden.

Susanne Stiegeler: Die dumme Eichhörnchenmama

Mama hatte viele Jahre lang einen Schrebergarten, den sie sehr liebte. Er war ihr Paradies: Sie verbrachte soviel Zeit wie möglich dort. Er war vielen der anderen kleinbürgerlichen, pingelig veranlagten Schrebergärtnern ein Dorn im Auge, da Mama die Bepflanzungen nicht ordentlich in Reih und Glied vornahm, sondern Blumen, Kräuter und Gemüse -zwar sorgsam gehegt und gepflegt -aber dennoch recht frei und wild durcheinander und miteinander wachsen ließ. Einige der besonders vorschriftsstrengen Gartennachbarn beschwerten sich darüber und machten Mama bisweilen das Leben zu Hölle, so dass sie sich irgendwann sogar Hilfe von einem befreundeten Anwalt, Herr Dorn, nehmen musste – von da an war Ruhe. Viele waren aber auch beeindruckt und begeistert von dem wildwuchernden, verwunschenen Fleckchen Erde, das sich Mama im Laufe der Jahre herangezogen hatte:

Im vorderen Bereich gab es einen roten Ahorn, den sie besonders mochte, daneben einen kleinen, umwachsenen Teich. Ein großer, wunderschöner, knorriger Haselbaum, Akeleien, wilden Wein, ein Quittenbaum, Beerenbüsche, Oregano, Salbei, ein Feigenbaum, Kohl, Löwenzahn, Minze, Petersilie, Rosen, Bohnen, Narzissen, Tulpen und noch viel mehr – nicht zu vergessen ihr ganzer Stolz: Die Kürbisse.

Direkt außerhalb, neben dem Garten floß der Lochbach. Das Gartenhäuschen war blau – und Mamili hatte große, gelbe Bienen auf seine Fassade gemalt. Vorne am Häuschen hing ein Vogelkasten, in dem jedes Jahr mehrmals Stare brüteten, hin- und her flatterten, piepsten, riefen und einen riesigen Aufruhr um ihre Brut veranstalteten.

Wenn Mama im Sperrmüll oder Flomarkt weggeworfene Plastik- oder Porzellantiere fand, oder wenn zuhause ein Kreuz oder eine Marienstatue kaputtging, dann brachte sie sie in ihren Garten und stellte sie dort auf: In die Wiese, zwischen eine Astgabel oder in ein Blumenbeet. Die Figuren verblieben dort bei Wind und Wetter, während aller Jahreszeiten, verwitterten, verwuchsen mit den Pflanzen, gingen teilweise weiter kaputt und verliehen dem Garten einen märchenhaften, etwas morbiden, eigenartigen Charakter: Es gab ein Reh ohne Beine, zwei Schwäne mit abgebrochenen Schnäbeln, ausgebleichte Portugal- und Deutschlandfahnen, Marienstatuen mit abgefallenem Heiligenschein, violett bemalte Schaufensterpuppen mit ausgehöhlten Köpfen, Hasen ohne Ohren, Hähne, Bären, Vögel. Diese Armee der ausrangierten Plastikwesen bevölkerte den Garten, genau wie Salamander, Schnecken, Käfer, Amseln und Eichhörnchen.

Und Mama fuhr auf ihrem Dreirad meistens schon in aller Früh hin, wenn noch keiner der anderen Schrebergärtner dort war, betrachtete sich jedes Gewächs, zupfte hie und da Unkraut, sammelte Schnecken und erntete und pflegte alles mit Hingabe. Im Sommer und Herbst ernährte sie sich fast ausschließlich von den Erträgen des Gartens. Wenn sie ihre tägliche ‚Inspektionsrunde‘ erledigt hatte, setzte sie sich in einen Stuhl vor ihr Häuschen, las, betete und war einfach nur glücklich.

Am meisten Freude bereitete es ihr, die zahlreichen Tiere zu beobachten. Eines Tages rief sie mich an und berichtete von einem Abendteuer mit einer „Eintschörnschenmama“ und ihrem Baby: Sie war wohl wieder auf ihrem Stuhl gesessen, als sie ein Eichhörnchen beobachtete, das versuchte, mit ihrem Jungen im Maul über den Lochbach zu springen. Das Junge fiel herunter und konnte sich gerade noch am Rand des Baches festkrallen – schaffte es aber nicht mehr hinauf; die Mutter rannte aufgeregt hin und her und konnte scheinbar ebenfalls nichts machen. Ohne Hilfe würde das winzige Geschöpf wohl bald kraftlios ins Wasser fallen und jämmerlich ertrinken.

Sofort sprang Mama auf und raste zum Ort des Geschehens: Wildentschlossen, das arme, dem Ertrinken geweihte Eichhörnchenbaby zu retten. Sie zog es unter großen Mühen (das Ufer des Lochbachs ist recht hoch, steil und eingewachsen) heraus und legte es ins Gras.

Daraufhin muss es die Eichhörnchenmutter wieder ins Maul genommen haben, um abermals über das Wasser zu springen, wobei sie das Kleine nochmal verlor! Soviel Leichtsinn konnte Mamili beinahe nicht ertragen: „Diese Eintschörnschenmama! Sie war dumm! Dumm! Dumm!“  Sie rettete natürlich das kleine Eichhörnchen trotz dieser himmelschreienden Blödheit ein zweites Mal aus dem Wasser und brachte es dann aber vom Ufer in ihren Garten. Dort legte sie es in ein altes, verlassenes Vogelnest, das sie mit Taschentüchern polsterte: „Damit die Mutter sieht: SO geht man mit einem Baybie um!“

Die Eichhörnchenmutter nahm diese Lehre wohl an: Sie holte ihr Kleines aus dem Nest, und versuchte den gefährlichen Sprung nicht nochmal, sondern verschwand mit ihm im Wald. Vorher aber, so erzählte Mamili gerührt, muss sie vor ihren Stuhl gehüpft sein, und sie direkt angeschaut haben, so, als wolle sie sagen: „Entschuldigung, dass ich so dumm war! Danke für Deine Hilfe!“

Susanne Stiegeler: Das, was Könige nicht sehen

Manchmal weckte uns Mama ganz früh am Morgen und sagte: „Kommt Kinder, aufstehen! Zieht Euch an! Heute werdet Ihr etwas sehen, was sogar die Könige nie sehen!“

Dann ging sie mit uns in die Natur: Auf ein Feld, um den Sonnenaufgang zu beobachten, oder in den Wald, um zu sehen, wie die Natur und alle Tiere des Waldes nach und nach erwachten. Es war immer wunderschön, friedlich und irgendwie zauberhaft. Sie erzählte uns, dass wir das schon gemacht hätten, gemeinsam, als Papa noch lebte; und dass unser Opa Joao in Portugal mit dieser Tradition begonnen habe.

Könige bekämen diese wunderbaren Schönheiten nie zu sehen, weil sie immer viel zu lange schliefen…

Susanne Stiegeler: Gewitter

Mama hatte große Angst vor Gewitter. Angeblich hatt sie in ihrer Jugend zwei Menschen gekannt, die von einem Kugelblitz getroffen starben und zumindest durch Verbrennungen entstellt worden waren. Und so war sie ständig auf der Hut: War der Himmel nur auf trügerische Weise blau? Verhießen die Wolken am Horizont nicht ein nahendes Gewitter?

Man durfte keinesfalls und unter absolut überhaupt gar keinen Umständen außerhalb seiner Wohnung sein, sollte ein Gewitter losbrechen. Und selbst dann war man keinesfalls in Sicherheit: Die mussten die Fenster unbedingt geschlossen bleiben, die Stecker aus den Steckdosen gezogen. Es kam häufig vor, dass sie bei schönstem Sonnenschein in Befürchtung eines Gewitters aus ihrem Garten nach Hause floh. Oder sie rief mich an, um mich vor der Bedrohung zu warnen: „Susaninha! I habe gesehen, bei Euch gibt es gleich ein Gewitter! Bleibt zuhause! Geht nicht raus!“

Sogar der Hund fürchtete sich vor Gewitter: „Das Mädschen hat Angst, Angst, Angst! Sie zittert und versteckt sich unter dem Bett!“

Anne D. Plau: Erinnerung im Regen

Begonnen hatte alles mit einem Bauern, dem sich ein anderer entgegenstellte. Zur Verteidigung hieß es.
„Wie immer,“ murmelte ich und wandte mich ab. Mich betraf das nicht, für die Großen war ich unsichtbar. Ich rollte die Kniestrümpfe runter und zog ein Bonbon aus der Hosentasche.

„Das jetzt mit den Bauern. Reine Vorkehrung. Letztes Mal ist er völlig verdroschen worden“, flüsterte jemand. „Komm“, erwiderte sein Nachbar, „suchen wir bessere Plätze. Aber nicht zu nah dran!“

Die zwei Männer schoben mich zur Seite. „Pass doch auf, Bub!“

Ich unterdrückte mit geballten Fäusten eine Erwiderung. Oberstes Gebot: Wer angreift, muss immer mit einer Verteidigung rechnen. So wie bei den Bauern, zu denen nun andere eilten. Selbst ihre Pferde führten sie herbei, sie wieherten und schnaubten.
Ein Raunen erfüllte den kleinen Saal, dann hielten alle den Atem an. Eine Dame lief eilig einige Schritte und blieb in der Mitte stehen.

„Schmeißt sie raus!“, rief einer laut. Einige klatschten.

So gemein, dachte ich. Und auch heute, so viele Jahre nach dieser Begebenheit, fühle ich Wut. Wäre ein Faustkampf im Stall für sie nicht angebrachter? Wo das das Brüllen vom Stroh gedämpft wurde?

„Macht sie fertig!“, schrie jemand.

Doch die Dame wich nicht zurück, sie lief mit erhobenem Haupt weiter. Um ihren weißen Hals lagen sehr feingliedrige Finger. Ich drängelte mich ganz nach vorn.

Diese Hände. Sie waren anders als die der hiesigen Bauern. Sie waren kleiner, sogar noch viel kleiner als meine. Sie strichen langsam über die Krone der Dame, bevor sie sie anhoben und die Figur schräg vor dem schwarzen Turm abstellte.

Der Turm wurde angehoben. Er setzte sich in Bewegung und glitt auf das Feld a4.

Es schien, als habe sich Schwarz damit eine bessere Position geschaffen. Ich schob mich an allen vorbei, ganz nach vorn.
Der weiße Läufer eilte schnurstracks auf die linke Spielseite. Warum denn das? Ich schaute vom Schachbrett auf und erblickte nun gänzlich die Person, die mit den weißen Figuren spielte. Ein Mädchen. Auf dem Schoß ihres Vaters, sie biss sich auf die Lippe, kniff die Augen fest zusammen und setzte den Läufer.
Dann schaute sie im Raum umher, auf Augenhöhe blickten wir uns an. Sie blinzelte. Schau, ich werde gewinnen.
Die schwarzen Türme kämpften, die schwarzen Läufer flitzen über das Brett. Jedes Aufbäumen ließ das kleine Mädchen ins Leere laufen, sie übersprang mit ihrem weißen Pferd die Barriere, bedrängte die Türme, ließ ihre Dame erneut eilen, direkt bis vor den schwarzen König, der nun „Schach matt“ sagte. Wohin hätte er auch gehen sollen?

Begonnen hatte alles mit einem Bauern, dem sich ein anderer entgegenstellte.

Noch immer denke ich an das schachspielende Mädchen und lange stellte ich mir vor, aus ihr wäre eine Meisterin geworden. Alle hätten geklatscht bei ihren Siegen. Damals, in dem Saal der Wirtschaft, hatten die Bauern jedoch nach dem Spiel lediglich murrend einzelne Münzen in die Mütze ihres Vaters geworfen.
Dieser hob das Mädchen vorsichtig auf seinen Arm. Zusammen traten sie aus der Tür hinaus auf den Dorfanger. Das Mädchen sah mich die ganze Zeit ernst an. Siehst Du? So ist es. Lange starrte ich ihnen hinterher.

Aus dem Fenster meines Arbeitszimmers beobachte ich den Regen, der langsam die Scheiben entlang fließt. Ich bedauere noch immer, sie nicht nach ihren Namen gefragt zu haben. Die weiße Dame jedoch hatte ich gerettet und sie verstohlen in meine Hosentasche gleiten lassen.
Sie steht bis heute auf meinem Schreibtisch.

Miriam Gil: Regenbogencocktails oder: Der Durst nach Salzwasser

Lange Zeit wusste er nie genau wann er geboren worden war. Seine Papiere hatte er bekommen als er beinahe schon erwachsen gewesen war und in Gambia wurde man früher erwachsen als in den europäischen Ländern.

Wenn er sein Passbild auf dem Ausweis im Tageslicht schwenkte, dann schillerte das Hologramm in den schönsten Farben des Regenbogens.

Mamudu war 23 Jahre alt und war alleine auf das Boot gestiegen, seine Mutter hatte ihm noch viel Glück gewünscht und hatte beinahe geweint aber nur beinahe.

„Nicht!“

Er spürte eine Hand auf seinem linken Oberschenkel, hörte aber nicht auf seine Blase über den Schlauchbootrand hinweg direkt in das offene Meer hinein zu entleeren.

Sanfte Wellen mit vom Urin gelblich gefärbten Kronen aus Meeresschaum schwappten auf die am Boden kauernde jungen Männer in verblichenen Baumwoll T-Shirts in den vielfältigsten Farben und zerschlissenen Shorts.

Mamudus Sandalen hatten eine rutschige Sohle, der abgetretene Gummi rutschte nun nervös auf dem nassen Holzbrett neben dem Treibstoffkanister auf und ab, trommelte an die mit Rissen versehene Bootswand.

„Nicht!“

äffte er den Kerl nach, der noch immer seine Hand in Mamudus Richtung erhob. „Was willst du von mir?“ dachte er und blickte auf die Salzflecken auf seinen Shorts. Weiße Ringe die langsam in der gellenden Sonne zu Pulver vertrocknen. Ein ungenießbares Kokain aus den Tiefen der Meere.

Er hatte vier jüngere Geschwister davon eine Schwester. Es gab ungefähr dreihundert Meter von der Flüchtlingseinrichtung einen Spätkauf für Tabakwaren und Kaltgetränke. Spätkauf bedeutet auch Öffnungszeiten bis in den Abend hinein. Vor dem Eingang standen zwei Bänke und ein kaputter Sessel. Die LED-Lichterkette wechselte blinkend die Farben des Regenbogens und das Radio im Hintergrund verströmte poppige Rocksongs, Verkehrsmeldungen und Hits der jeweiligen Festivalsaison. Jedoch war die Musik immer leise, Nachbarn hatten sich zwei Mal beim Ordnungsamt beschwert. Die Anwohner hatten sich auch schon beschwert als entschieden worden war dass die alte Bürosiedlung hinter dem Schwimmbad zu einer Unterkunft für Personen mit Fluchthintergrund aus allen Herren Länder werden sollte. Das wussten die Neuankömmlinge meistens nicht da sie die Schrift auf den Schildern der Demonstranten nicht entziffern konnten. Außerdem hatte der Demonstrationszug seinen Auftritt in Regionalzeitung und Lokalradio bevor die ersten Familien vom Düsseldorfer Hauptbahnhof im Camp nach einem zusätzlichen besonders für die Kinder beschwerlichen Fußmarsch von der Bushaltestelle angekommen waren. Angekommen. Willkommen. Jedenfalls von der Bürgerinitiative für mehr Vielfalt in der das Ehepaar Kraus sogar einen Deutsch Konversationskurs mit Kinderbetreuung anbietet. Im kleinen Saal des Braukellers an jedem dritten Donnerstag im Monat. Die Kleinstadt hatte ihre eigene kleine Bierproduktion. Bei den Veranstaltungen mit den ehrenamtlichen Flüchtlingshelfern gab es nur Apfelsaftschorle und Kräutertee. Mamudu hatte allerdings den Deutschlehrer bereits in der örtlichen Kneipe  Bier trinken gesehen. Seine Frau hatte eine Karaffe mit rotem Wein vor sich stehen gehabt. In Düsseldorf hatte er auch Jugendliche mit alkoholischen Getränken am Bahnhof gesehen. Mamudu selbst hatte das erste Mal getrunken als er längst erwachsen gewesen war nämlich mit 19 Jahren auf einer großen Feier seines Onkels. Es gab ein paar Flaschen Bier und Whisky mit Eiswürfeln und Coca Cola. Der Whisky brannte die Kehlen der jungen Männer um ihn herab wie die tiefroten Chilischoten im Garten seiner alten Tante. Die Flüssigkeit glänzte bernsteinfarben in der Flasche mit dem goldenen Etikett. Urin wurde auch dunkler je länger er im Körper verweilte. Nach drei Tagen schimmerte die Pisse bernsteinfarben in den Sprite Flaschen der Bootsflüchtlinge und schmeckte salzig, aber gerade noch nicht so salzig wie das klare Meerwasser welches bedrohlich mehrere Zentimeter hoch im Boot stand. Und gerade noch nicht so salzig wie der Schweiß auf den Stirnen der Elendsgestalten auf offener See.

Wenn Mamudu die Augen schloss in der brütenden Hitze dann schimmerte das Wasser neben dem Treibstoffkanister wie ein Regenbogen am Horizont nach der Regenzeit. Regen. Wie süß kann dieser eigentlich schmecken sieht man sich umgeben in einem Grab aus Salzwasser wie es nur der Hälfte der Fische eine Heimat bietet. Er hatte in der Heimat das Schwimmen nie richtig gelernt da der Ozean als gefährlich und unberechenbar galt. Nur erfahrene Fischer machten sich regelmäßig vor Sonnenaufgang auf in das schwarze Meer ohne Boden hinauszufahren und die Kinder jubelten jeden Mittag bei deren Rückkehr mit halbgefüllten mehrfach geflickten Netzen aus Nylonfaser.

Wahrscheinlich konnten die anderen Bootsinsassen genau so wenig Schwimmen wie Mamudu der ohne Gepäck eingestiegen war. Der Durst nach Salzwasser war so groß. Dieser Durst war eine Folter unter dem Sternenhimmel ohne Ränder und Ende. Nur wenige Tropfen Süßwasser sammelten sich jeden frühen Morgen auf der Reling des bunten Bootes. Gerade so viel um seine salzigen und trockenen Lippen zu benetzen und für einen Moment zu vergessen, dass dies weiße Kristall den Kampf gegen die nach Erfrischung flehenden Adern längst gewonnen hatte.

In Deutschland tranken die Kinder. Er hatte sie gesehen. Sie tranken Limonade mit Alkohol, der einem in den Kopf stieg. Einmal war ihm schlecht geworden. Vom Bier.

Auf dem Boot war ihm auch schlecht gewesen. Die Leute übergaben sich auf das raue Meer. Der Geschmack von Magensaft begleitete ihn auf dem Weg über das Mittelmeer, auf dem Weg über dieses unendlich tiefe und weite Massengrab.

Einmal hatte er Weißwein probiert, dessen Säure ihn sofort an diesen Geschmack erinnerte, der nicht besser wurde trocknete einem langsam der Mund aus vor Durst.

Er ekelte ihn. Rotwein ging besser. Es gab ihn süß in großen Literflaschen neben den Monatsangeboten. Wenn er sich mit Freunden auf einer Parkbank traf nahm Mamudu eigentlich immer zwei Flaschen Wein oder ein paar Bierdosen mit. Er mochte das Gefühl nach den ersten beiden Dosen, oder der ersten halben Flasche Wein wenn alles ein wenig lustiger wurde. Die Gespräche mit den Bekannten wurden laut und komisch, wenn man ein wenig einen sitzen hatte und am wichtigsten war, dass man nicht mehr an die Mutter und  Geschwister in der Ferne dachte. Schmecken aber tat er ihm nicht, der Alkohol. In eigentlich keiner Form. Der Spätkauf hatte auch bunte Gummischlangen und Brausekugeln, Kaugummis und Lakritzstangen vor den Tabakwaren und den Getränken und manchmal zögerte Mamudu beim Kauf einer dritten Flasche Wein und war stark versucht eben solch Süßigkeiten zu kaufen statt der grünen Glasflasche. Schokolade war auch fein. Der Alkohol aber brannte, schmeckte nach Magensäure oder war so süß, dass man ihn in winzigen Schlucken trinken musste wollte man nicht heimlich würgen.

Es kostete Überwindung alkoholische Getränke zu sich zu nehmen. Willenskraft. Es war ein Kampf gegen seine eigenen Geschmacksnerven aber diese gewisse Leichtigkeit, welche sich nach den ersten kühlen Schlucken einstellte überwog an Wichtigkeit und Dringlichkeit.

Auch wenn man fast am Verdursten ist muss man langsam trinken.

In winzigen Schlucken kriecht der giftige Regenbogen in deinen Schlund wenn du neben dem gekenterten Boot aus bunten Leitplanken schwimmst. Es ist ein stiller Tod man wird erst ohnmächtig und entgleitet dann langsam und lautlos in die Tiefen des Meeres.

Nur in den Matrosenfilmen aus den 1950er Jahren wird ein solcher Tod majestätisch von kreisenden Möwen begleitet, in Wahrheit sinkt man auf den Grund ohne dass es jemand mitbekommen würde. Die zivile Seenotrettung berichtete dann über solche Todesfälle, aber den Rest der Welt interessierten die Leichen auf dem Grund des Mittelmeeres nicht.

Mamudu war nicht gekentert. Er hatte es geschafft.

Manchmal, wenn er spät am Abend heim kam dann wankte er wie ein Seekranker auf rutschigem Deck. Er war aber noch nie gestürzt.

Eines Abends saß er in einer der wenigen tropischen Nächte alleine auf der Parkbank und trank eine Flasche Rotwein, da schimmerte der Wein in der Abendsonne tiefrot wie Blut. In seiner Heimat alleine war die Sonne so tiefrot am Horizont zu sehen und zwar in den langen und heißen Sommermonaten. Er trank und trank und während er trank schloss er die Augen wie so oft und sah sich in den Armen seiner guten Mutter. Er hatte es geschafft. Und er wollte es schaffen. Er hatte kein Geld. Für den Alkohol reichte es.

Rausch nach Leben. Leben für ein bisschen Rausch.

Und als er so dasaß und in den Himmel blickte verspürte er einen unbändigen Durst nach Salzwasser. Er fühlte sich auf einmal einsam und verlassen, spürte seine müden Knochen und den verspannten Rücken, die Müdigkeit hatte sich angesammelt in den letzten Wochen der Schlaflosigkeit. Deutschland war ein kaltes Land. Viele lange Monate war es bitterkalt und dunkel. Auch die Menschen begegneten ihm eher kalt. Er hatte nur wenige Leidensgenossen kennengelernt, mit welchen er die Freizeit verbrachte. Die Freizeit überwiegte, er hatte ja noch keine Arbeit und wenn er durch die Kleinstadt mit dem Fahrrad fuhr begleiteten ihn neugierige, aber nicht besonders freundliche Blicke.

Das nächste Mal wollte er sich eine bunte Brausekugel kaufen und sie langsam im Mund zergehen lassen. Und es fing an zu regnen und als der Schauer vorüber war ging Mamudu unter einem Regenbogen, der schimmerte wie ein Ölfilm auf Salzwasser unter der brennenden afrikanischen Sonne.

Er war erwachsen und er wollte es schaffen.

Susanne Stiegeler: Salazar

Einmal- ich war schon erwachsen, studierte in Nürnberg, und war in Augsburg bei Mama zu Besuch, entbrannte ein heftiger Streit um Salazar, den portugiesischen Diktator.

Mama saß da und begann enthusiastisch  zu erklären: „Salazar war ein guter Diktator! Damals war es Mode, Diktator zu sein. Alle waren Diktatoren: Hitler, Franco, usw.! Sie alle waren schrecklich. Aber Salazar war gut. Er ist der einzige Diktator, der arm war, und sein Land reich hinterlassen hat. Sein einziger Fehler war, dass er zu lang an der Regierung geblieben ist! Ich selbst habe ihm einmal einen Brief geschrieben, und ihn kritisiert. Und er hat mich nicht ins Gefängnis gesteckt, sondern mit der Hand (!) zurückgeschrieben, stellt Dir vor.“ Ich widersprach natürlich vehement, daraufhin wurde sie noch engagierter in ihrer Argumentation, Lautstärke, Gestik und rief: „Er war lieb! Er hat seinen schlimmsten Feind, der Chef der ‚Kommjunischtenpartei‘ studieren lassen! Mit zwei Wachleuten links und rechts durfte er jeden Tag zur Uni gehen! Welcher Diktator hat so etwas gemacht?“

Auch hier fragte ich nach, zweifelte an, wurde ebenfalls etwas aufgeregter, stellte diese durchweg positive Ansicht in Frage und so entbrannte ein fürchterlicher Streit, an dessen Ende wir uns erbittert und verzweifelt anschrieen. Am Ende gingen wir weinend und erschöpft ins Bett.

Ich weiß noch, dass ich mir damals dachte, dass ich Salazar nun schon allein aufgrund der Tatsache verabscheute, dass er der Auslöser für einen solchen Streit war.