Holger
steht vor dem Terminal C des Flughafen Tegel. In seiner rechten Hand
der verlängerte Arm seines Rollkoffers. In der anderen die Hand
seines Freundes Kalle, der einen großen Reiserucksack schultert.
Kalle blinzelt wild mit den Augen. Speichel tropft aus seinem
Mundwinkel auf die wetterfeste Gore-Tex-Jacke. Sie spannt sich wie
ein Zelt über seinem enormen Kugelbauch.
“Wie
wir das besprochen haben: Du gehst, wenn ich gehe, du stehst, wenn
ich stehe, du lässt meine Hand nicht los.”
Kalle
muss cool bleiben. Er ist eigentlich recht klar im Kopf, nur die
Menschen machen ihn wirr. Zu viele sind es hier. Sie warten an den
Eingängen, sie stehen vor den Geschäften, schlängeln sich vor den
Schaltern und drängen sich auf den Toiletten. Und dazwischen die
Polizisten mit ihren lackierten Maschinengewehren. Kalle muss da
einfach hingucken. Holger hat Mühe, seinen schweren Freund auf Kurs
zu halten. Er nickt den Polizisten zu, die meist zu zweit an den
Biegungen stehen. Die Polizisten denken, dass Kalle behindert ist und
nicken deshalb freundlich zurück.
Kalle
ist einfach sehr weich heute. Er ist von Kopf bis Fuß auf Reise
eingestellt. Vorhin im Zug, als die Unruhe trotz Xeplion, dass Holger
ihm erst am Morgen gespritzt hatte, nicht mehr auszuhalten war, hatte
Kalle noch eine Benzodiazepin
nachgeschoben.
Die lässt jetzt seinen Mund leicht offenstehen und knipst das
Krokodilgehirn an. Kalle sieht die Maschinengewehre matt glänzen wie
Haribo-Lackritzschnecken. Er möchte hineinbeißen. Vor dem
Zeitungsladen bleibt er so abrupt stehen, dass Holger ins Stolpern
gerät.
“Mensch
Kalle, du gehst, wenn ich gehe!”
Kalle
murmelt ein dumpfes “Tschuldige” zwischen seinen trockenen Lippen
heraus; es rollt aus seinem Mund wie ein Wollknäuel. Regentropfen
aus Schweiß sammeln sich auf seiner Stirn. Kalle stöhnt und japst
und im offenen Gang zwischen Terminal C und D weht ein so kühler
Wind, dass ihm ganz kalt wird im Kopf. Am liebsten würde er sich
jetzt hinsetzen, aber Holger zieht mit aller Kraft voraus. Kalle
konzentriert sich auf jeden einzelnen Schritt und zählt dabei die
Fliesenkacheln, die unter seinen Füßen nachzugeben scheinen. Viel
zu häufig tritt er über die Fugen hinaus; Zeit sich darüber zu
ärgern, bleibt ihm nicht. Aus den Lautsprechern schallt eine
lärmende Frauenstimme, die auch Holger nicht verstehen kann.
Irgendjemand verpasst seinen Flug. Eine sechsköpfige Familie
verperrt ihnen den Weg; alle haben mit ihren eigenen Gedanken zu tun
und Kalles Beine fühlen sich an wie Kartoffelbrei.
Vor
der Sicherheitskontrolle wird Kalles Kopf ganz dick. Er schwillt von
innen an, drückt gegen die Stirn, quetscht sich an die Backenknochen
vorbei, quillt ihm aus der Nase. Kalle bekommt den Reißverschluss
seiner Gore-Tex-Jacke nicht auf, dabei soll er sie doch auf das
Fließband legen. Der Rucksack ist schon durchleuchtet und wartet auf
der anderen Seite. Gleich berstet Kalles Kopf, er kann es schon
spüren, es knirscht zwischen den Blumenkohlohren, gleich platzt er
auf wie eine zusammengeprügelte Piňata.
Holger hilft, so gut er kann, aber Kalles Riesenhände krampfen sich
fest, er kommt nicht dagegen an. Da ist nichts zu machen. Als Kalle
den Reißverschluss endlich aufbekommt, stöhnt er so tief und laut,
dass sich auch die Leute in der Schlange gegenüber nach ihm
umdrehen. Er hört nicht, was Holger zu ihm sagt, er versteht auch
die Sätze der Securitas-Leiharbeiterin nicht, die auf ihn einredet,
er sieht nur, dass sich ihre Lippen bewegen und dass ihre schwarzen
Schuhe glänzen. Nicht wie Lakritz, sondern wie eine kalte Bierdose
von 5,0. Kalle nimmt alles zugleich wahr: Das Fließband, dass sich
links neben ihm bewegt, das Piepen der Metalldetektoren, die Fugen
zwischen den Bodenfliesen. Das Knistern der Stille.
Gleich
knallt es.
Aber
zuerst muss er mit seinem roten Zementballon, der auf seinen
Schultern schwankt, auf die andere Seite gelangen. Kalle überlegt,
ihn einfach hinüber zu werfen, über die Sicherheitsleute drüber,
über den Metalldetektor bis in den Duty Free Bereich zu den Parfüms
und der Schokolade.
Holger
fasst ihm von hinten mit beiden Händen an die Schultern. Das gibt
ihm einen Schub. Kalles Elefantenbeine stampfen vorwärts. “Immer
geradeaus”, hört er Holger sagen, der zwar hinter ihm steht, aber
doch ganz weit weg ist.
Die
Securitasangestellten sind sehr nachsichtig. Kalle darf sogar seine
Schuhe anbehalten, bevor er durch das Stargate schreitet. Während
der persönlichen Kontrolle macht die Sicherheitsfrau Witze, als
stünde ein kleines Kind vor ihr und kein einsneunzig Goliath samt
seiner hundertdreißig Kilo. Kalle will lachen, doch er schnaubt nur
laut durch die Nase und sprüht kalte Schweißtropfen auf ihren
dunkelblauen Dienstpullover. Als Holger den platschnassen Kalle
wieder vollgepackt hat, grummelt er sich dunkel durch den Duty Free
Bereich. Geschafft, denkt Holger. Er sieht seinen Riesen langsam
durch das Schlaraffenland wanken.
“Scheiß
drauf!”, sagt Holger laut, er singt es fast und die Leute drehen
sich nach ihm um. “Scheiß drauf!”, ruft er erneut, lauter dieses
Mal. Die Worte dringen in ihrer Bedeutung nicht durch Kalles
Wattemauer, aber ihr Singsang tut es. Kalleparty im Schädel,
Bühnenbeleuchtung, Arm in Arm mit fremden Menschen. Alle kennen die
Texte. Kalle bleibt stehen. Jetzt lächelt er.
Es
gibt einen Riesenknall.
“Scheiß
drauf!”, donnert es durch den Duty Free. Ein Erdbeben von Jil
Sander bis Toblerone. In Kalles Kopf tanzen die Neuronen nur einmal
im Jahr. Scheiß drauf.