Eva Szulkowski: Damenbart

Ich habe einen kleinen Damenbart
Mit 30 ist er mir gewachsen und er ist ganz zart
Nur bei bestimmtem Lichteinfall kann man ihn gut sehen
Wer keinen Damenbart hat wird dies Lied wohl schlecht verstehen

Ich habe einen kleinen Damenbart
Das heißt die Oberlippe ist seitdem nun auch behaart
Ich überleg ihn wegzuzupfen oder wegzuwaxen
Ich überleg ihn anzunehmen: Er ist so gewachsen

Ich hab‘s nicht so mit dem Rasieren, Haare überall
Warum nun ausgerechnet er, das wäre unnormal
Es käme mir vor wie ein räuberischer Überfall
Ich sage Beautyzwang, leck mich & du kannst mich mal

Doch immer noch steht da dieser Damenbart
Es gibt keinen Zweifel, ich bin im Gesicht behaart
Ich bleibe fair, will ja wirklich keinen blamen
Doch Mama, ich glaub es liegt an deinen Genen

Chor:
Sie steht vorm Badezimmerspiegel und sie schaut sich an
Sie steht vorm Badezimmerspiegel und sie schaut sich an
Sie steht vorm Badezimmerspiegel und sie schaut sich an
„Bin ich denn jetzt noch eine Frau oder schon ein Mann?“

Mina Reischer: Hinter den Augen

Ein belebter Körper ist eine organische Organisation und will das Unmögliche. Etwas, was noch nie war. Es werden Ihnen Haare hinter den Augen wachsen und am ganzen Körper. Haare unter der Haut, unter den Augen. Sie werden zur Tarnung dienen, sie werden mehrere Funktionen erfüllen: Sie verhindern ein zu rasches Abkühlen des Blickes. Feuchtigkeitsschutz gegen Regen und beim Schwimmen. Sie werden helfen beim willkürlichen Hervorrufen leuchtkräftiger, an Halluzinationen grenzender Vorstellungen. 

If the good doctor cant cure you, find the less good doctor.

Jedes Behagen ist sich selbst genug, ohne Verlangen, dass es anders werden soll als es gerade ist. Schmerz hingegen kann gar nicht sein ohne aufhören zu wollen. 

In meinem Kopf da waren Wellen. 

Die habe ich entfernen müssen, sie haben sich nicht legen wollen, die stolzen Wellen. Wie geht es Ihnen heute?

Ja, jetzt sind da keine Wellen mehr. Oft liege ich müde, dann liege ich krank. Im Traum fluten Bilder über mich hinweg. Es kommt vor, dass ich eine ganze Woche in Spannung lebe ohne dabei einmal Luft zu holen. Es ist als fehlt etwas.

Da ist ein Himmel.

Es ist ein Bauch. Hier ist Ihre Leber.

Da ist ein Himmel in meinem Bauch, ein Himmel wie ein Gewitter. Alle Brücken sind mir nun zu hoch und ohne Nutzen. Nichts hält mich, was ich berühre zerfällt. Herr Doktor, ich muss die Wahrheit hören: Was fehlt mir?

Der Brückenbau ist eine Kunst. Es verhält sich mit dem Fragen ähnlich. Das Flugzeug fliegt nicht so wie der Vogel.

Ich habe einmal ein Bild von innen gesehen. Die Seele ist vogelartig, die Seele ist ein Unterwasserwesen. Aber in meinem Bauch: Das ist der Himmel.

Warum ist das Leichte so schwer? Das Leichte ist so schwer. Es ist so leicht und so schwer. Ich will die Wahrheit sehen.

If the good doctor cant cure you, find the less good doctor. If the good doctor cant cure you, find the less good doctor. If the good doctor cant cure you, find the less good doctor.

Es entsteht der Eindruck, dass die Patientin unfähig zur Entscheidung ist. Sie ist nicht in der Lage irgendeinen einzelnen Reiz unbemerkt zu lassen. Aber solche Überempfindlichkeit bedeutet keineswegs Kontakt mit der Realität. Außerdem scheint mir, dass sie selbst die Handlungsweisen nicht aufgibt, von denen man glauben sollte, dass ihr deren Vergeblichkeit unmöglich entgangen sein könnte. Sie denkt, dass alle Interpretationen ausnahmslos schlecht sind, aber sie muss mehr und mehr davon haben. Die Interpretationen, die für sie Beiträge sind, die sie für bemerkenswert hält. Aber eher wegen etwas, das sie nicht sind, als wegen etwas, das sie sind.

Wenn ich denen zuhöre, die früh morgens auf der Straße sitzen, gewinne ich den Eindruck, dass es eine geheime Sprache gibt. Sie, die Geheimmenschen, haben etwas erlebt, wovon ich keine Ahnung habe. Etwas, was im Verborgenen passiert ist. 

Willst Du in die Geschichte eingehen als die, die schwimmen konnte und doch untergegangen ist?

Ihre Gesichter verraten sie, aber nur soweit, dass ich das Geschehene erahnen kann. 

So bin ich nun einmal: Jedem Zauber verfallen, jederzeit zu verblüffen. Ich gehöre dem Augenblick. Ich gebe jedem nach, der mich zu gewinnen versteht.Wir sind alle krank und verstehen nur jene Bücher zu lesen, die von unserer Krankheit handeln.


Musik: Felix Foerster

Theobald O.J. Fuchs: Haarflugzeug

Es war einer jener Träume, die sich mir unauslöschlich ins Gedächtnis einprägten. Der Traum war so eindrücklich und gefühlsdurchsaftet, dass ich heute noch, zwanzig Jahre später, das Bild verlustfrei vor meinem inneren Auge dekomprimieren kann. Das Bild vom Haarflugzeug. Die beiden Flügel dieser Maschine sind komplett von Haaren bedeckt. Dickes, weiches, ungefähr schulterlanges Haar, das als Antrieb dient. Der Pilot kann das Fell in eine wellig-windende Bewegung versetzen, ähnlich wie das Wogen eines Kornfeldes oder einer jener Wiesen, wie es sie früher gab, als seltener gemäht wurde und das Gras höher wachsen durfte als erlaubt war, wenn der Wind mit dicken Backen darüber pustete. Nur dass in meinem Traum die wiegende Bewegung aus dem Inneren der Haare kommt und den Wind erzeugt, der das Flugzeug vorwärts treibt.

Der Rest des Flugzeugs ist unwahrscheinlich filigran gebaut, aus unsäglich dünnen Röhrchen, wie Getreidehalme aus Molybdänstahl, Niob oder einem vergleichbaren Zaubermetall. Der Pilot kauert in einer Glaskugel, die zwischen den Flügeln hängt, er trägt eine altmodische Ledermontur mit Lederhelm und monströser Fliegerbrille, aus deren Gläsern man Suppe löffeln könnte.

Irgendwo müsste ich noch eine Zeichnung von dem Flugzeug haben, die ich damals anfertigte, unmittelbar nachdem ich erwacht war. Erst wollte ich danach suchen, doch dann änderte ich meine Meinung. Bis ich mich durch die Stapel von losen Papieren, Notizbüchern und Kladden gewühlt und die Zeichnung mit viel Glück gefunden hätte, würden Wochen vergehen. Es ist eine der schönsten Seiten des Schreibens, dass man sich nicht an die Regeln der Wirklichkeit halten muss. Ich muss die Zeichnung nicht finden, um behaupten zu können, dass es sie gibt. Vielleicht lüge ich auch und habe sogar nach dem Fetzen Papier gesucht und ihn gefunden, aber nichts zwingt mich, das hier hinzuschreiben.

Ich frage mich natürlich, warum das Flugzeug so filigran war, und warum ich dachte, ein Büschel Haare auf dem Flügel genügte, um sich leichtenst in die Luft zu erheben. Dabei war es kein Kindertraum, keine Kindheitsidee. Als ich noch klein war, sah die Welt ganz anders aus, voller riesiger Dinge. Riesige Möbel, riesige Menschen, riesige Häuser, riesige Flugzeuge. Und alle Menschen hatten schrecklich lange Haare, so lange, dass man sich aus einem einzelnen Haar und den vier Beinen des Küchentisches eine Flechthütte basteln konnte.

Doch dann wuchs ich und wurde selbst größer, während die Dinge kleiner wurden. Irgendwann musste ich nicht mehr aufs Sofa klettern, sondern ließ mich einfach darauf nieder. Irgendwann schwebte die Türklinke nicht mehr hoch über meinem Kopf, sondern ließ sich mit der lässig ausgestreckten Hand hinunterdrücken. Sogar das Auto war irgendwann ein Ding, das auch ich steuern durfte, weil ich übers Lenkrad schauen konnte.

Nicht lange danach jedoch wurden die Dinge wieder größer, und zwar in Wirklichkeit. Die Häuser, die Flugzeuge, die Möbel – alles wurde immer größer und wird auch heute noch jeden Tag größer. Die Teller und Tassen im Gasthaus sind jetzt größer, die Jacken und Hosen sind größer, die Menschen selbst werden immer dicker und größer. So wie die Autos, die Fernsehapparate, die Katzen, die Turnschuhe, die Brillengestelle. Das ist der Kapitalismus, der muss ständig wachsen, sonst geht es ihm schlecht.

Für mich ist der Kapitalismus wie ein kleiner Hund, den du in dein Haus aufnimmst. Du fütterst den keinen süßen Kerl sorgfältig und liebevoll und er wächst und gedeiht, aber dann will er nicht mehr aufhören zu wachsen. Er wird größer und größer bis er das ganze Haus vom Keller bis unters Dach ausfüllt. So fest ist er da hinein gequetscht, dass da in keiner Spalte mehr Luft ist, kein leerer Winkel, kein heimlicher Hohlraum mehr übrig bleibt. Die Augen des Hundes drückt es aus den beiden Fenstern im ersten Stock, sie quellen aus den Fenstern und aus dem Kopf hinaus, dann explodiert der Hund. So ist der Kapitalismus. Er kann nicht aufhören zu wachsen, bis er explodiert. Das Haus ist danach natürlich kaputt.

Nur Haare, die müssten irgendwann aufhören zu wachsen. Weil sie nicht explodieren können. Sie sterben einfach und schweben ganz sanft auf die Erde.

Marius Geitz: Haare

Pixie Cut……Ponyhawk
Pferdeschwanz…..Quiff
Pompadour…..Undercut
Shape up……Tonsur

Ganz egal, was du trägst,
Schneid´ es einfach ab

Schneid´ dein Haar
Schneid´ dein Haar
Schneid´ dein Haar
Schneid´ dein Haar
Schneid´ dein Haar
Schneid´ dein Haar ab

Bubikopf…..Bürstenschnitt
Ein Zopf…Ein Dutt….Iro
Topfschnitt…..was der Trump da trägt
Braids….Kranzfrisur

Ganz egal, was du trägst,
Schneid es einfach ab

II

Für mich bist du genauso schön, wie ich es finde, dass sich die Kinder auf der Straße vor mir fragen, was der Schnurrbart mit der Schnur zu tun hat und sich dabei Schnüre an die Oberlippe halten.

Paulina Czienskowski: Haare

Bis alle Spuren beseitigt waren, vergingen Jahre. In jeder Öffnung, jedem Spalt, jeder Ritze, die sich in ihrer Wohnung befand, kam wieder und wieder irgendetwas zum Vorschein. Immer war da was, das sie mit dem Damals in Verbindung brachten. Und wenn es nur ein Haar war.

Dabei hatte genau das ja alles erst losgetreten. Haare. Nicht seine oder ihre, also nicht direkt. Es waren die eines fremden Menschen, die er in einer Truhe seiner Vergangenheit aufbewahrte und die sie heimlich durchwühlt hatte. Eine pechschwarze, dicke Strähne, die sie da entdeckte, an einem Ende mit der Flamme eines Feuerzeugs zusammengeschweißt.

Es dauerte eine gewisse Zeit, bis sie sich im Kampf gegen ihre Neugier ergab und ihn dürstend fragte, wessen Strähne das sei. Zwischen Zeigefinger und Daumen hielt sie sie in die Höhe, wie das lang gesuchte Indiz in einem Mordfall, der nun endlich aufgeklärt werden würde.

Er zögerte keinen Moment, riss ihr die Haare aus der Hand. „Und wo bewahrst du die Strähnen von mir auf?“, fragte sie. Man hörte, wie sehr sie sich anstrengte, ruhig zu klingen. In ihrer Stimme doch ein Haufen Entrüstung, die sie nur schwer verbergen konnte. Er gab ihr keine Antwort darauf, sagte nur, ohne sie dabei anzusehen: „Es gibt Dinge, die will man für immer für sich behalten.“

Die Laute waberten im Zimmer umher und legten sich auf ihre Synapsen, ohne von dort wieder zu verschwinden. Es schellte in ihrem Kopf, laut. Dieser fiese Alarm begann sie, ohne Rücksicht und Ankündigung in den Wahnsinn zu treiben.

Für jeden Tag, den sie nebeneinander aufwachten, tat sie von nun an eins seiner Haare in ein Weckglas und fügte noch eines von sich hinzu. Der Beweis für sie und ihn, sagte sie sich im Stillen. Für ihre gemeinsame Zeit, die sie miteinander teilten, die – so wollte sie es glauben – nicht bloß ein Arrangement aus Kompromissen war, sondern voller Wahrhaftigkeit, das auch er eines Tages für genau so wertvoll empfinden würde, um es für immer für sich zu behalten.

Er bemerkte nichts davon. Dabei war es ja genau das, was sie wollte. Also stellte sie das Glas irgendwann neben das gemeinsame Bett, direkt auf den Nachtisch, so dass man es nicht mehr nicht entdecken konnte. Aber es blieb dabei. Er schien blind geworden.

Und so wanderte das Weckglas durch die Wohnung. Mal stand es im Wohnzimmer, deplatziert auf dem Boden, dass man drüber stolperte, wenn man nicht aufpasste. Mal im Regal auf Augenhöhe zwischen den frischen Handtüchern im Badezimmer. Keine Chance. Er sagte nichts.

Es war nachts, als sie, wie so häufig in dieser Zeit, wach lag. Wie von Dämonen getrieben, saß sie wie dann immer kerzengrade im Bett. Diesmal hielt sie es nicht mehr aus und stand auf.

Auf Zehenspitzen schleichend kam sie zurück zum Bett, in ihrer zitterigen Hand eine Schere. Da so mitten in der Dunkelheit, die nur durch das müde Licht einer Laterne unter dem Fenster gebrochen wurde, hockte sie nun neben ihm auf der Matratze und schnitt ihm zaghaft die Haarspitzen.

Sein störrisches Haar machte bei jedem Schnitt ein sattes Geräusch. Sie versuchte, die Schere so langsam auf und zu zu bewegen, dass das schleifende Hin und Her der Schneideblätter im seichten Brummen des Kühlschranks aus der Küche nebenan unterging.

Mit der rechten Hand schnitt sie ihm nun über Minuten Stück für Stück Millimeter seines Haars. Ihre andere Hand hielt sie währenddessen geöffnet, um jene Beweise aufzufangen. Damit fertig, befüllte sie das Glas behutsam mit den zarten Stoppeln.

Mit der Zeit wurde es voller und doch fiel ihm noch immer nichts auf. Auch nicht, dass seine Haare von Nacht zu Nacht kürzer wurden. Zumindest nach einigen Wochen hätte er sich doch mal wundern müssen, dachte sie, wieso sich seine Kopfbehaarung irgendwie zu verändern schien. Jeden Morgen, als sie aufwachten, blieb sie noch einen Moment länger liegen als er, um ihn durch den Spalt ihrer Augen heimlich zu beobachten.

Manchmal war sie sich sicher, dass er, das Laken glatt streichend, verräterische Haarreste, die nachts versehentlich durch ihre Finger geglitten waren, entdecken würde. Und doch: nicht eine Reaktion.

Also begann sie, das Gebiet auszuweiten und machte sich an seinen Bein- und Brusthaaren zu schaffen. Ganz anders als auf seinem Kopf waren diese lockig. Es war gar nicht leicht, diese krausen Fäden mit der Schere zu erwischen. Viel mühseliger, weil nicht so ergiebig – immerhin war die Körperbehaarung deutlich spärlicher als die auf seinem Schädel. Und doch war es jedes Mal genug für eine nächtliche Beute, was sie da erwischte.

Als die übrig gebliebenen Stoppeln zu kurz für die Schere wurden, kam der Nassrasierer. Mit Akribie zog sie die Klingen jede Nacht über seine Haut, von der die obersten Schichten von Zeit zu Zeit mit runterkamen. Es grenzte fast an ein Wunder, dass er auch davon nicht aufwachte und tagsüber kein Wort über seine wund geschälte Haut verlor.

Manchmal stellte sie sich vor, wie man ihn nachts schreien hören würde. Sah ihn zusammengekauert und verkrampft vor Angst auf der äußerten Bettkante hocken, seinen nackten, blutig rasierten Körper balancierend, bis auf die Unterhose alles frei, dann

rückwärts auf den Boden fallend wie geschossenes Wild. Wie er ihr bettelnd entgegen schrie, wie sehr er sie doch liebe.

Doch da war nichts. Auch nicht als sie ihm den Kopf kahl rasierte, die Augenbrauen gleich mit. Ein letztes Aufbäumen, bevor sie endgültig sein konnte. Dachte sie. Nichts. Bloß wortloses Nebeneinander auch danach.

Es kam der Moment, in dem sie mit den gerade gewechselten Klingen abrutschte und ihm ins Beinfleisch schnitt. Sie erschrak, ein kleines bisschen jedenfalls, erstarrte für einige Sekunden. Als er noch immer keine Regung zeigte, leuchtete sie mit einer Taschenlampe auf die Stelle.

Da quoll das Blut aus den feinen Schlitzen. Sie tupfte und tupfte, dass ja kein Blut auf das Laken ging. Vielleicht lag es an seinem beruhigten Gemüt in der Nacht, dass der Fluss nicht lange brauchte, um aufzuhören. So konnte sie schon kurz darauf seelenruhig weiter an seinem Bein umher schaben.

Eines nachts, sie hatte ja längst nicht mehr damit gerechnet, war es endlich so weit: Er fragte sie tatsächlich, was sie da mache. Gerade als sie das Glas geschlossen und neben sich auf den Nachttisch gestellt hatte, hörte sie ihn, als er räuspernd diese Frage stellte.

Nachdem er sich wiederholt hatte, sie hatte ihn darum gebeten, so getan, als hätte sie seine Worte nicht richtig verstanden, um es in ihren Ohren regelrecht zelebrieren zu können, antwortete sie bloß einsilbig, „manches will man für immer für sich behalten“.

Dann ging sie ins Badezimmer, um ihre Utensilien wie gewöhnlich zu verstauen. Sie setzte sich auf den Rand der Badewanne und wartete einen Moment. Doch was passierte, war wieder bloß nichts. Als sie wenige Minuten später zurück ins Bett kam, schlief er.

Bis der Wecker klingelte, lag sie mit offenen Augen neben ihm, ihr Blick starr gegen die Decke gerichtet. In etwa so vergingen Tage und Monate, in denen sie mit leeren Augen in der Gegend umhersah, irgendwann auch durch ihn hindurch. Tage und Monate, in denen sich weiter nichts ereignete.

Das Weckglas hatte sich längst auch in ihre Sehgewohnheit gefräst. So stand es seither unberührt auf einem kleinen Tischchen im Flur zwischen Briefen, Quittungen, Büchern, ausrangiert. Krams halt, den beide beim Eintreten in die Wohnung gewissermaßen achtlos dort ablegten.

Immer wieder lichtete sich so der Haufen, um sich dann wieder fast unbemerkt zu füllen und so weiter. Ebbe und Flut. Behutsame Stille bei Flut. Rums machte es jedes Mal im Mülleimer, wenn auf dem Tischchen Ebbe eintraf. Das Glas blieb immer.

Ruhiger, immer ruhiger wurde es. War es Taubheit, die sich ausgebreitet hatte? Jedenfalls konnte sie wieder schlafen. Sie hatte aufgegeben.

Und dann wuchs in ihr doch irgendwann wieder die immer größere Sehnsucht nach Aufmerksamkeit – im Stillen. Wieder da diese Unruhe, der bekloppte Mechanismus, der sie mit der Zeit erneut bis ans Äußerste trieb. Eines nachts, fast im Wahn, als sie wieder den Rasierer ansetzte.

Der nächste Morgen. Beide kahl geschoren, schauten sie einander endlich wieder an. Ihre und seine Haare in einem Bündel hatte er auf den Tisch zwischen ihnen gelegt, an dem Ende mit der Flamme eines Feuerzeugs zusammengeschweißt.

Juliane Kling: Mit Opa beim Friseur

Mein Großvater ist ein sehr galanter Mann. Obwohl er erst seit Kurzem auf seinen Gehstock verzichten darf, zögert er niemals, einer älteren Dame in der Straßenbahn seinen Sitzplatz anzubieten. Wenn wir gemeinsam durch die Innenstadt flanieren, und ja, bei meinem Opa muss man ganz grundsätzlich von einem Flanieren sprechen, tippt er sich bei jeder Begegnung mit einem Freund oder einer früheren Bekanntschaft lächelnd an den Hut. Mein Opa ist kein Mann großer Worte, außer er hat in leutseliger Runde ein Glas trockenen Rotwein zu viel getrunken, doch selbst in diesem Fall behält er stets die Contenance. Ich kann mich an keinen Moment in meinem Leben erinnern, in dem sich mein Großvater einem anderen Menschen gegenüber unhöflich oder gar rücksichtslos verhalten hat. Man könnte nun misstrauisch anmerken, dass dieser ausgesuchten Liebenswürdigkeit ein möglicherweise opportunistisches Kalkül zugrunde liegen könnte, aber die Zuvorkommenheit meines Opas entbehrt jeder strategischen Zweckmäßigkeit. Im Gegenteil, sie ist ein geradezu unabdingbarer Teil seiner Persönlichkeit ebenso wie der beharrlich lichter werdende, perfekt gelegte Seitenscheitel unter seinem Hut. Seit ich meinen Großvater kenne, und das sind immerhin einunddreißig Jahre, hat sich sein Haarschnitt bis auf meine kaum nennenswerten Versuche, ihn mit Technozöpfen und grellbunten Seepferdchenspangen aufzuwerten, kein bisschen verändert. Denn falls es nicht gerade um Handys oder Smartphones geht, von denen er inzwischen fünf besitzt und bei jedem neuen Gerät ein wenig leiser ins Telefon donnert, dass hier der Opa aus Kassel spricht, mag mein Opa keine Veränderungen. Ich glaube, das habe ich von ihm. Wir mögen es, wenn wir uns auf Dinge verlassen können. Auf die Straßenbahn zum Beispiel oder den guten Merlot von Edeka. Oder auf die Friseurin meiner verstorbenen Oma, bei der Opa sofort einen Termin für mich ausgemacht hat, als ich ihn angerufen habe und gesagt habe, Opa, es brennt. Im Kopf und im Herzen und wir müssen ganz schnell irgendetwas dagegen tun. Mein Großvater hat nicht lange gefackelt, hat sich in die Straßenbahn gesetzt und der Friseurin von seinem Enkelkind erzählt, das Veränderungen hasst und trotzdem eine haben will. Selbstverständlich war er so respektvoll, keine Gründe für meinen plötzlichen Wagemut zu nennen. Selbstverständlich war er so aufmerksam, meine grimmige Antwort auf die Frage der Friseurin, ob ich vielleicht Strähnchen haben wolle, nicht wahrheitsgetreu an sie weiterzutragen. Als ich mich später noch einmal vorsichtig erkundigt habe, wie er und die Friseurin nun miteinander verblieben seien, meinte mein Opa, dass er gleich zum Salon aufbrechen werde, damit ich auf seinem Handy mit der Friseurin telefonieren könne, denn er habe festgestellt, dass die Damen im Laden viel zu selten ans Telefon gingen und unter diesen Umständen würde ich meine Wünsche niemals anständig vorbringen können. Wie ich bereits sagte, er ist sehr zuvorkommend. Nichtsdestotrotz sah ich mich gezwungen, ihm diesen hilfsbereiten, aber völlig absurden Plan lauthals auszureden, da ich ohnehin schon die Vermutung hatte, dass die Friseurin mich für eine depressive Sechzehnjährige hielt. Schlussendlich sind wir zwei Tage vor dem Termin gemeinsam hingefahren, ich habe meine Haare gezeigt und die Sache mit der Friseurin persönlich geklärt. Schlussendlich sitze ich jetzt hier im Friseursalon und starre aus einem riesigen schwarzen Wella-Umhang in mein müdes, blasses Gesicht. Es ist noch früh am Morgen und ich bin mit der Friseurin allein im Laden. Mein Großvater wird mich in ein paar Stunden abholen kommen, um die Rechnung zu begleichen und mich anschließend zum Mittagstisch im Rathaus einzuladen. Natürlich tut er das, denn wenn mein Opa etwas macht, dann macht er es hundertprozentig. Die Friseurin hat meine langen dunklen Locken so stark ausgekämmt, dass sie weit und schwer über meiner Brust liegen. Wir gucken uns im Spiegel an. Sie fragt, wieviel sie vor der Blondierung noch abschneiden soll, und ich zeige ziellos auf meine Schultern. Wirklich so viel?, hakt sie nach, und ich antworte eine Spur zu nachdrücklich, dass es ja bloß Haare sind, obwohl wir beide ahnen, dass es nicht bloß Haare sind. Sie hat nur einen Blick auf mich werfen müssen, um zu wissen, dass ich keine depressive Sechzehnjährige bin. Sie hat meine Augen und die tiefen Ringe darunter gesehen und gewusst, was zu tun ist. Die Friseurin hebt die Schere in die Luft und schaut mich aufmunternd an. Bist du bereit? Ich nicke tapfer und sie setzt den ersten Schnitt. Dein Opa ist ein großartiger Mann, schwärmt sie, während ihre Hände emsig meinen Kopf bearbeiten. Wie galant und aufmerksam er mit deiner Oma umgegangen ist, wenn die beiden zusammen hier waren. Das ganze Team war hingerissen. Sie waren ein wundervolles Paar. Es muss furchtbar sein, einem Menschen, den man so bedingungslos liebt, für immer Lebewohl sagen zu müssen. Sie hält kurz inne und blickt zu mir in den Spiegel. Das ist es, erwidere ich und schließe die Augen, um meine Haare nicht fallen zu sehen.

Verena Schmidt: HAARE

In einem Benimmregelwerk aus dem Jahre 1954 folgt in alphabetischer Reihenfolge gleich auf den Buchstaben G. wie „Gruß unter geschiedenen Eheleuten und deren Angehörigen“ der Buchstabe H.wie „Haare ordnen“ (Chiffre) siehe Make Up, beginnend mit der Dame, die Lippenstift, Puder und andere Schönheitsmittel an bestimmten Orten, oder zu bestimmten Gelegenheiten tunlichst zu unterlassen, oder tunlichst zu tun hat.

Es steht eindeutig geschrieben: „Wenn Sie das Bedürfnis haben, ihr Erscheinungsbild wieder zurecht zu machen, dann zücken Sie nicht vor  allen Leuten – etwa im Restaurant – Ihren Taschenspiegel, um dann mit Lippenstift, Puder oder Ähnlichem nachzuhelfen.
Chiffre Entschuldigen Sie sich und ziehen Sie sich in den Chiffre Waschraum zurück.

Dasselbe gilt für das Ordnen Ihrer Haare. Sie dürfen sich niemals bei Tisch kämmen und sollten es sogar vermeiden mit Ihren Händen den Sitz Ihres Haares zu prüfen.

Selbstverständlich müssen sich auch Herren zurückziehen, wenn sie an ihrer Frisur oder an ihrer Krawatte etwas richten wollen.Chriffre siehe Toilettefehler.

Gleich folgend die Regeln zu dem Buchstaben

M:
-Mandarinen Chiffre siehe Obst
-Marillen Chriffre siehe Obst
-Marmelade Chriffe siehe Butter, Honig, Senf

Womit nun meinerseits auch genügend Senf zum Thema Haare abgegeben wurde.

Benjamin Weissinger: Magie

Wahrscheinlich keine neue Idee, aber mir behagt gerade sehr die Vorstellung einer Kleinkunstbühne, auf der ein Hobbyzauberer (evtl Elias Hauck oder Paula Irmschler) steht, die/der das relativ spärliche Publikum fragt, ob jemand zufällig einen 50- oder 100-Euro-Schein habe, er wolle einen Trick machen. Daraufhin etwas Bewegung, Murmeln. Ein Vorwitziger ruft: „aber nicht verschwinden lassen.“ Ein paar Lacher, auch der Zauberer lächelt. „Nun?“

„Na gut“, sagt jemand aufstehend und zieht sein Portemonaie. „Oh, ich fürchte, ich habe keinen. Nur einen Zwanziger, geht das auch?“

„Mnee, oder sonst geht auch die Kreditkarte.“

„Wie, die Kreditkarte“

„Ja, ich mach dann was mit der Kreditkarte“

„Hä? Nee, das wird mir jetzt ein bisschen zu komisch“

“ 😐 „

Marius Geitz: Magie

IV

Ich habe schon zu lang nichts mehr gegessen. Es tanzen kleine silbrig leuchtende Sterne durch den Raum. Ich fühle mich geschwächt, will aber die Sterne auch nicht verlieren, denn sie gefallen mir sehr.

V

Ich habe mich doch dazu durchgerungen
Noch rauszugehen
Es nieselt
Ganz leicht
Ich sehe es in den Lichtkegeln der Laterne
Und weiß, dass das was ich sehe, im Winter Schnee wäre
Und ich werde friedlich

Pauline Füg: Zauberspruch für Verwundete

I

Wir fahren nach Norden. Wir fahren von da fort, wo die Seehunde am Strand liegen.
Ich sehe dich an, du bist ein bisschen weit entfernt, wir fahren, ich will nicht mehr
anhalten, wir fahren davon und dahin. In deinen Augen ist etwas zu viel Beton, deine
Schultern sind etwas zu schmal, ich sehe dich immer etwas zu lange an.
Deswegen sag ich einen Zauberspruch für Verwundete,
das ist ein Zauberspruch für Verwundete,
das ist eine Wunde für Verzauberte,
denn Weltfallsucht hat mir die Knie aufgeschlagen.
Und Fenster ist auch nur ein Blick in die Welt
Und Welt hat sich zu weit aus dem Fenster gelehnt.
Tag ist auch nur das Gegenteil von Nacht
Und Nacht ist auch nur eine Frage der Zeit.

II

Wir fahren immer, um den Sonnenuntergang zu sehen, aber meistens ist die Sonne
schon nicht mehr da, bevor sie den Horizont erreicht hat, denn wir halten an den
falschen Stellen und fragen nichts mehr. Du sagst, du hast Blätter im Haar und ich
wünschte, es wären Misteln.
Ich mag keine Zahlen und ich mag keine Straßen,
Ich mag keine Namen und ich mag keine Gassen.
Am Straßenrand haben sie ein Auto leer geparkt
Und ich halte schon nicht mehr Hand oder Atem.
Und Farbe ist auch nur eine Frage des Lichts
Und ich seh schon überall alles ein (auch die Bucht und die Ecken).
Larven sind auch nur falsch gelagerte Nahrung,
ich sag: wir atmen alleine und hören alleine damit auf.

III

Uns ruft niemand an. Nicht auf dieser Fahrt.
Nicht auf diesem Roadtrip, Cowboy.
Manchmal sage ich zu dir: „Halt. Halt an. Hier riecht es so, wie es sein muss. Nach
gehaltenen Händen und Versprechen.“
Aber ja, ich weiß, der Bremsweg wäre zu lang.
Das ist ein Zauberspruch für Verwundete und Weltfallsucht hat mir die Knie
aufgeschlagen,
es ist kalt geworden gerade und wird so schnell nicht mehr warm.
Die Felder sind leer und weit, es ist auch nur irgendeine Jahreszeit ohne Erdbeeren
Und Wolken sind auch nur ein Filter für Sonne.
Die Menschen sagen: Schrift ist ein begrenzter Zeichenvorrat.
Und was wichtig ist, ist nicht da.
Ich will, dass ihr meine Wörter seid,
aber ihr seid auch nur Sprache ins Nichts.

IV

Wenn wir anhalten, um zu tanken, gräbt sich der Staub tiefer in unsere Haut als der
Geruch von Benzin.
Wir sehen uns an und küssen uns und ich möchte Kleeblätter für dich suchen und
vierspurige Autobahnen blind und zu Fuß überqueren.
Aber deine Lippen zucken.
Steine sind auch nur kleine Berge, denk ich und alles ist halb so schlimm,
meine Wimpern sind viel zu lang und jemand hat deine Augenwinkel genommen
Und sich davon gestohlen, sodass nun Weitsicht fehlt.
Hier bauen sie Wein an auf geraden Böden, weil hier die Sonne anders scheint.
Deswegen sag ich einen Zauberspruch für Verwundete,
ich schwör einen Zauberschwur für Verwundete,
ich schwör einen Zaubersatz für Verwundete.
Das ist ein Zauberspruch für Verwundete,
das ist ein Zauberspruch für Verwundete.

V

Und ich weiß plötzlich, wir werden immer so weiter fahren, ich werde immer im
Rückspiegel zu sehen sein. Stupid little girl on the run.
Wir werden in Motels schlafen, zusammengerollte Raupen, mit verhakten Zehen und
uns an jedem Morgen von Neuem an irgendetwas klammern, das es nicht gibt. An
einen Punkt vielleicht, an ein Ende oder ist es der Weg?
Und immer noch die Frage – denn meine Knie sind nun einmal aufgeschlagen –
WER FÄHRT MORGEN MIT MIR ANS MEER?
Und das ist heute wie Wochen zuvor:
Alleine und keine Flucht.
Und nun ein Zauberspruch für Verwundete,
wegen der Rücklichter sind mir die Finger klamm geworden,
ich zerschlage die Ellenbogen an der Fensterscheibe, das ist nun kein Blick in die
Welt mehr,
das ist ein Zauberspruch für Verwundete:
Und Stifte hinterlasen auch nur ein Spur auf Papier
Begradigte Flüsse engen mich ein und alles ist da und alles ist fort,
ich bleibe an der Straße stehen und warte, bis du mich verloren hast,
denn jeder Morgen ist auch nur ein Warten auf Später und Leben ist eine Frage der
Geburt.