Hans-Hermann Plesch: Honigschön

Die Gebrüder Fransig hatten mit einer Erfindung, die sie als Honigschöns Bioelektrischer Autoanzünder bezeichneten und sich wie geschnitten Brot verkaufte, ein Schweinegeld verdient.

Die Erfindung, im Wesentlichen ein Kästchen mit fragwürdigem Inhalt, hätte eigentlich so gut wie jedem einfallen können, ausser vielleicht mir (wegen meiner ausgeprägten Linksfüssigkeit). Viel konnte man sonst damit nicht anfangen, aber es reichte (besonders zu Anfang). Es sollen sich welche bei Anwendung krumm und scheckig gelacht haben, ich habe allerdings nichts davon mitbekommen.

Mein Problem war vielmehr ein anderes. Mit dem vielen Geld, das die Gebrüder Fransig eingesackt hatten, kauften sie den Mäuseberg und störten meine Pläne empfindlich. Mit Arbogast hätten sie sich nie auf diese Weise angelegt, des war ich mir sicher. Das grössere Problem allerdings war, dass sie gar nicht wussten, dass sie mir Probleme bereiteten. (Sonst hätte ich aus meinem wasserdichten Keller herauskommen müssen.)

Das mit dem Keller hatte eine eigene Bewandtnis, das bitte ich vorläufig zur Kenntnis zu nehmen. Es war auch mehr ein Sousterrain, stark gefliest (zur Hälfte in Anthrazit. Das hat mit dem Mäuseberg aber nichts zu tun.) Die Sache ist vielmehr eine andere.

Honigschön bin eigentlich ich. Zumindest im Traum, wo ich umschürzt und schutzbebrillt in einem hohen Raum stehe. Den Anderen kannte ich da noch nicht, sicher aber war, dass ich gegen Abtretung meiner selbstausgedachten Erfindung ein Grundstück erhalten sollte, besagten Mäuseberg nämlich. Dieser war nach Lage und Ansehen förmlich dazu prädestiniert, Ausgangspunkt einer von mir geplanten Forschungsexpedition zu werden. Das alles stand jeden Morgen vor dem Aufstehen so farbig vor mir, als wärs ein gemaltes Bild. Dann setzte ich den linken Fuss auf den Boden und begann zu zweifeln. Auch der Mann im Spiegel, dessen ich wenig später gewohnheitsmässig im Bad ansichtig wurde, war zweifelsfrei nicht Honigschön. Honigschöns Bildportrait war in natürlichen Farben auf seiner Erfindung aufgedruckt und ähnelte mir, auch unter Weglassung des Bartes, nur ungenügend.

So verging Woche um Woche, wobei ich meine Zeit vorwiegend den geheimen Grabungsarbeiten widmete. (Ich hatte meinen Plan keineswegs aufgegeben). Dann änderte sich alles schlagartig. Zwei Beamte suchten mich unter einem Vorwand in meiner Wohnung auf. Sie verhafteten mich wegen Beschädigung des Grundwassers (Eine haltlose Anschuldigung). Wenig später auf der Wache, wurde ich in den Keller geführt und wurde Zeuge eines unglaublichen Vorgangs. Zeitlich war er allerdings eher platzsparend.

Anschliessend bekam ich eine gediegene Schaufel mit einem glänzenden Blatt in die Hand gedrückt. Die Bodenplatten waren zur Seite geschafft worden und ich konnte sofort mit weiterer Grabungsarbeit beginnen. Danach feierten wir ein kleines Fest (bei dem wir lebhaft anstiessen, später auch tanzten).

Den Morgen danach bereute ich bitterlich, aber schon Mittags war ich erneut guter Dinge.  Das mit dem Berg liess ich allerdings danach sein, zumal ich mit Schulze einen frohgemuten Partner für zündende Experimente gefunden hatte. Fransigs setzten später noch Honigschöns Nanotherapeutischen Allesentferner in Umlauf und verbrannten damit eine Menge Geld.

Der Mäuseberg verfiel in Folge und musste künstlich gestützt werden.

Sophia Süßmilch: APOCALYPSE RELOADED 2

ALS DANN DER GROSSE KRIEG KAM
WAREN SIE WIEDER BELEIDIGT
UND JAMMERTEN ALLE VON DEN SCHERBEN
IHRER BIOGRAPHIE UND WIESO DENN
GERADE JETZT WO DIE KARRIERE
SO GUT LÄUFT
UND DAS NACH MEHR ALS
60 JAHREN FRIEDEN
DA FRAGT MAN SICH JA SCHON MAL
WAS SOLL DENN DAS
NUR DIE ANARCHISTEN FREUTEN SICH
DENN DER HÄUSERKAMPF
BEKAM FRISCHEN WIND
EINER MIT NADELN IM GESICHT
SPRACH SOGAR
VON EINER GANZ NEUEN DIMENSION
UND DIE GANZEN TRAURIGEN
WAREN SEHR ERLEICHTERT
DENN SIE DACHTEN ENDLICH NICHT MEHR
ANS ÜBERLEBEN

Andreas Lugauer: Alles spült

Traurig knöpfte Winfried seinen Hosenstall zu. Die automatische Spülung des Urinals war dieses Mal sogar zweimal losgegangen, während er noch im vollen Schwange uriniert hatte.

»Tragischer Unfall bei Spaziergang« notierte man sinngemäß auf dem Totenschein, nachdem Winfrieds bleiche, aufgeschwemmte Leiche einige Zeit später aus dem Fluss gezogen worden war; eine Fischerin hatte Winfried an einer der Biegungen des Flusses gefunden, dort, wo er so verträumt durch die Landschaft mäandert, bevor er parallel zur maroden dreispurigen Bundesstraße in die Stadt fließen muss.

Der Pfarrer sprach bei der Beisetzung nur die nötigsten, unbedingt vorgeschriebenen Worte und Gebete; nein: er murmelte sie vielmehr. Die beim widerlichen Eintopf seiner Haushälterin zusammenmontierte Grabrede aus Floskeln und Gemeinplätzen verlas er nicht; die Urnenträgerin hielt es nicht für nötig zu verbergen, dass sie in einem Fall wie diesem alles über »Türchen auf – Ürnchen rein – Türchen zu« Hinausgehende für Zeitverschwendung hielt und keinesfalls als »verehrte Trauergäste« angesprochen werden wollte. »Hoffentlich mäkelt diesmal keiner am Beisetzungskostenübernahmeformular herum«, dachte der Pfarrer, als er sein Weihwasserkesselchen zur Sakristei zurücktrug.

Der Nachwelt im Gedächtnis geblieben wäre Winfried, wenn es nur irgend möglich gewesen wäre, dass jemand davon mitbekommen hätte, dass Winfried es als erster (und bis heute einziger) Mensch fertigbrachte, sein Leben zu beenden, indem er durch nichts als einen reinen Willensakt seinen Geist zum Erlöschen brachte – was noch schwieriger ist als sich unter Wasser festzuhalten, bis man ertrunken ist. Winfried gelang es an einer Stelle, an der er nach dem Verlust der Kontrolle seines Geistes über seinen Körper mit ziemlicher Gewissheit die Böschung hinunter in den Fluss gleiten würde.

»Sind ja nur 17 Euro 40, was soll ich mich lang aufregen«, dachte die allseits nur Traudl genannte Gertraud, als sie den unbeglichenen und nicht sicher zuzuordnenden Bierdeckel, den sie beim vom Amt verordneten Schänkeputzen gefunden hatte, wegwarf, »vielleicht gehörte er ja diesem einen, der doch immerzu von dieser Sekte in Delaware redete, die ihn so faszinierte. Der – nach Amerika? Dabei war der wegen der Automaten nicht mal in der Lage, ein Busticket zu kaufen, und den Busfahrer wegen einem Ticket anzusprechen traute er sich schon gar nicht, weshalb er dann bei jedem Wetter mit dem Fahrrad kam. Oh, das Immergrün ist ja kaputt.«

Anja Gmeinwieser: München-Kabul (oder in die nähe) Abflug 09:16 (morgen)

wir sitzen im Garten, in deinem garten, ein gemieteter garten. Um uns herum mäht eine frau den rasen, immer in großem abstand zu unserer decke, dennoch näherkommend. irgendwann werden wir aufstehen müssen. 

das ist die vermieterin, schreist du. 

dir betrachten die vermieterin beim mähen, sie mäht sehr entschlossen, so von körperhaltung her. 

du schreist über das rasenmähermähen hinweg: die vermieterin ist beim bund. morgen muss sie nach afghanistan für drei monate, deshalb mäht sie jetzt nochmal rasen. ich betrachte die frau mit anderen augen, sie ist jetzt eine frau, die heute den rasen mäht und morgen nach afghanistan fliegt, weil sie morgen nach afghanistan fliegt, damit sie morgen beruhigt fliegen kann (nach afghanistan).

ich stelle mir vor, was die vermieterin vielleicht noch tut, heute am tag vor dem flug nach afghanistan. die bundeswehr nimmt keine linienflüge nach kabul, denke ich, die fliegen sicher direkt in den hindukusch, sicher ist da viel weniger flugvorbereitung als bei economy class. 

beispiel-todo-liste vor drei monate afghanistan: 

z.b. nachbarn schlüssel geben, damit der die yucca gießt.

z.b. nachbarn pralinen schenken, damit ers gerne tut. 

z.b. alle offenen und/oder verderblichen lebensmittel checken. z.b. selbige aufessen/wegwerfen/verschenken.

z.b. handwerker beordern, für das mietshaus, dessen rasen gerade gemäht wird. 

z.b. mit den mietern streiten: dürfen diese einen kompost anlegen? ( o ja,  o nein, o zu folgenden bedingungen).

z.b. das pferd im stall besuchen, abschied nehmen, den leuten vom stall instruktionen und geld weitergeben.

z.b. ein letzter ritt über felder. 

z.b. nochmal telefonieren. falls ihre eltern noch leben: auf jeden fall telefonieren.

z.b. einen guten braten essen, schweinebraten, das gibt es sicher länger nicht, ab jetzt.  

z.b. noch einmal mit dem glas guten wein auf dem balkon stehen, ein letztes mal, z.b.rosé. 

z.b. haltung annehmen auf dem balkon. 

z.b. abendspaziergang.

z.b. plausch mit den nachbarn. 

z.b. duschen, beine rasieren, eincremen, zähne putzen.

z.b. Unruhig schlafen.

welches Gefühl hat deine vermieterin für afghanistan? fühlt sie auch die mische aus banalität brachialität beklemmung, oder fühlt sie einfach alltag, der mir, der außenstehenden, plötzlich erst als möglicher alltag in den sinn kommen? 

sie hat eine schöne körperhaltung beim mähen. gibt es gras in afghanistan? mäht da jemand rasen, bei der bundeswehr? Oder ist alles wie auf fernsehbildern ganz graslos? 

ist rasenmähen ihr zeichen für daheimsein? ist vermieterin sein ihre freizeitidentität? 

ich kenne diese frau nicht. 

ich versuche, diese frau ein wenig zu hassen.

ich hasse sie aber nicht.

ich versuche, diese frau ein wenig zu lieben. 

natürlich liebe ich sie auch nicht. 

in drei Monaten liegt ja über dem rasen eine schneedecke, oder?

schippt sie dann schnee, mit der gleichen Haltung, wie sie rasen mäht?

hast du sie angesprochen auf afghanistan? Hast du die fragen gefragt du sagst, was hätte sie tun sollen und schilderst eine lebensgeschichte die ganz kausal beim bundeswehreinsatz in afghanistan endet, die abzweigungen wären hartz oder regaleräumen gewesen, da könne man sich ebenso für krieg entscheiden, da verdiene man wenigstens. in der logik mancher leute, sagst du, macht das sicher sinn. 

die raseninsel, auf der wir sitzen schrumpft, das getöse um uns wird lauter, die kreise, die die vermieterin um uns herumzieht werden enger, sie  beginnt schon, uns zu beäugen, wir äugen zurück und sind natürlich still jetzt.

bei anderthalb meter stehen wir auf und nehmen die decke, damit der tag weitergeht, damit sie morgen fliegen kann. 

Jan Bratenstein & Jonas Hauselt: Fässerfass

Sehn Sie hier mein Fässerfass!
Kein Fass is besser als wie das.
Es fasst vierzig Fässer,
kein Fass is besser.

Bieten Sie mir einen Boddich an,
Sag ich nur: „BRAUCH ICH GAR NICH, MANN!“
Denn ich hab mein Fässerfass.
Außen trocken, innen nass.

Margit Heumann: Für den Wald ins Feld ziehen

Ich träum, ich steh im Wald. In meinem Sommerwald mit dem Duft nach Harz und Tannen und Hitze und Pilzen und Moos. Kindheitswälder voller Haselnüsse, Waldbeeren und Sauerklee. Wichtelgärten mit Buschwindröschen und Leberblümchen und Efeu. Kobolde unter Schneckenblättern. Zwergenhöhlen zwischen Baumwurzeln, ausgestattet mit Rindenmöbeln und Moosbetten, das Vieh sind Lärchen- und Föhrenzapfen hinter Steckenzäunen. Auf dem Rücken liegen im Moos und Händchen halten mit der ersten Liebe, hinter schräggestreiftem Sonnenvorhang, in dem die Stäublinge tanzen, die Blicke verloren in den Blättern und Nadeln, den Baumkronen, den Wolken und dem Himmelsblau zwischen den Wipfeln. Solcher Wald ist nicht mehr. Nun brennt der Baum.

Fakt ist: Wald ist überall. Ich war schon im Bayerischen Wald, im Wiener Wald und im Waldviertel, dem mystischen. Es gibt den Böhmer-, Oden- und Grunewald. Der Teutoburger Wald ist historisch bedeutsam. Den Nürnberger Reichswald nennt man auch Steckerleswald. Der Schwarzwald heißt in der Schweiz Bois Noir und sonst Black Forest. Filme habe ich gesehen über die Paradieswälder Papua-Neuguineas und den radioaktiv ermordeten Red Forest und über Forrest Gump, aber der ist kein Wald. Der Waldmeister auch nicht, gehört jedoch hierher wie das Reh, der Specht, der Eichelhäher, das Eichhörnchen, das Wildschwein. Ein Waldschwein gibt es nicht, aber eine Waldkatze, zumindest eine norwegische, und einen Waldkauz, wo Fuchs und Hase nicht mehr lange Gute Nacht sagen.

Fakt ist: Vor lauter Bäumen sieht man den Wald nicht. Tannen, Fichten, Föhren, Lärchen, der Nadelwald. Eichen, Buchen, Birken, der Laubwald. Monokulturen haben sich nicht bewährt, der Mischwald, das Unterholz. Der Bannwald gegen Lawinen, Felsstürze, Muren. Der Nutzwald zur Holzgewinnung. Die boreale Nadelwaldzone, besser bekannt als Taiga. Palmen, Mammutbäume, Mangroven, Affenbrotbäume, Olivenhaine. Der Dschungel. Der Tropische Regenwald. Die Urwälder, bedrohte Heimat der Berggorillas ebenso wie der letzten indigenen Völker. Überall ist die Axt am Baum.

Fakt ist: Vor lauter Bäumen sieht man den Wald nicht in Gefahr. Der Regenwald ausgebeutet und abgeholzt für Teak und Mahagoni, brandgerodet für Plantagen. Vor Augen das heimische Waldsterben. Durch sauren Regen. Borkenkäfer. Ozonloch. Skipisten. Erdrutsche und Muren. Dürren. Waldbrände. Wildverbiss durch Überpopulation. Schneelast. Lawinen. Abgase und Schadstoffausstoß. Die maschinelle Abholzung per Harvester. Wibke und Lothar und Kyrill knicken die Bäume wie Streichhölzer. Und als Krönung des Ganzen dauerhaft verstrahlter Waldboden, radioaktive Pilze, becquerel-verseuchte Wildschweine auch noch dreißig Jahre nach Tschernobyl. Auf vielfältige Weise wird der Wald zu Asche gemacht.

Fakt ist: Einen alten Baum verpflanzt man nicht. Für den Wald ins Feld ziehen. Es braucht Baumschulen für den Nachwuchs. Die Aufforstung und die Wiederaufforstung. Die Waldpflege. Die Waldarbeiter, die Jäger und Heger. Forstämter, den Staatsforst und die nachhaltige Nutzung samt Schadholzaufarbeitung und Holzrücken mit Pferden. Die Ausweisung von Naturschutzgebieten, Nationalparks, Reservaten. Es braucht Brandreden und Protestaktionen, das Kyoto-Protokoll, Kampagnen und Goodwill-Maßnahmen wie den symbolischen Regenwaldkauf, urkundlich bestätigt. Es gibt die Verantwortung. Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.

Daphne Elfenbein: Der Zug nach Kötzschenbroda oder wie man zum Berliner Urgestein wird

Dass Daphne Elfenbein vom Himmel gefallen und auf den Füßen gelandet ist bei ihrer Geburt, ist in eingeweihten Kreisen hinlänglich bekannt. Dass sie aber nun, nach mehr als 50 Jahren des Irrens und Wirrens in Berlin angekommen ist, das soll heute über den Äther kundgetan werden. Zu Beginn des Neuen Jahres, wo die Glastonnen aus den Hinterhöfen verschwunden sind und an jeder Registerkasse auf Gedeih und Verderb Bons ausgegeben werden müssen, gibt es doch immerhin diese eine gute Nachricht. Frau Elfenbein ist von der Markgräflerin zum Berliner Urgestein mutiert. Zunächst soll hier in einer Schweigeminute der armen Verkäuferinnen gedacht werden, die bis zu 800 mal am Tag „möchten Sie den Bon?“ fragen müssen. —- (Schweigeminute). Und nun ein konstruktiver Lösungsvorschlag zur Kassenbon-Frage: Verlangen Sie den Bon doppelt! Dann haben Sie ein BonBon! 

Warum aber hat Daphne Elfenbein in Berlin nun ihre Heimat gefunden? Hat sie einen Test in Berlinkunde bestanden? Ist ihr Fell dick genug für die Unverschämtheit dieser Stadt? Nein. Wie jeden Morgen verließ sie heute mit 5 Minuten Verspätung das Haus, um 5 Minuten verspätet zur U-Bahn zu kommen und 5 Minuten später zur Arbeit. Ein wirksamer Auftritt. Doch hierzu gibt es mal eine eigene Sendung. Wenn es mal ein freies Thema gibt. 

Wie ging es weiter? Auf dem Weg zur U-Bahn nahm sie eine scheppernde klappernde Tasche mit leeren Gurkengläsern mit, die in die Altglastonne mussten. Nein, nicht im Hinterhof. Beim Park vorne, 200 Meter die Straße runter. Das erklärt das Zuspätkommen. Wenn die Glastonnen im Hinterhof gewesen wäre, dann wäre sie pünktlich gewesen. Die BSR ist schuld. Müssen die jetzt die Glastonnen aus den Hinterhöfen rausnehmen? Darüber hat sie sich lang und breit ausgejammert auf sämtlichen sozialen Netzwerken, so lange bis es eine Petition zur Wiedereinführung der Glastonne im Hinterhof gekommen ist. Darauf ist Frau Elfenbein stolz. Ihre Nachbarn haben kräftig mitgejammert: Es klappert so furchtbar, ich kann gar nicht mehr schlafen! Und wenn man über die Straße will, sieht man nix, das ist ja lebensgefährlich, mit diesen Glastonnen am Straßenrand. 

Die U-Bahn war dann berlintypisch auch zu spät, wegen einer technischen Betriebsstörung. Technische Betriebsstörung in Berlin kann dreierlei heißen: a) der Fahrer kam nicht zum Dienst oder ist in seiner Laube am gasenden Grill erstickt, den er zu Heizzwecken in sein Schlafzimmer gestellt hat. B) es hat sich wieder jemand vor den Zug geworfen oder ist von einem Irren auf die Gleise geschubst worden. C) es gibt einen Polizeieinsatz wegen Bandenkriminalität. Auch so eine Frage für den Berlin-Test. Aber um wirklich wirklich Berliner Urgestein zu werden, braucht es noch etwas ganz anderes…

Die Glastonnen waren so überfüllt, wie die verspätete U-Bahn. Frau Elfenbein zwängte sich in die Menschenmenge hinein zum BVG-Kuscheltreffen. Der Fahrer brüllte über die Fahrgastinformation: bitte benutzen Sie die Türen des gesamten Zuges. Und jetzt kommt’s: Frau Elfenbein brüllte zurück: „Und wer nicht reinpasst, fährt noch auf dem Dach mit!“ Die Fahrgäste stierten vor sich hin. Eine verzog schmerzhaft den Mund. Frau Elfenbein trällerte den „Zug nach Kötzschenbroda“ und ging beschwingt über den Kudamm: Das war echt Berliner Schnauze!“ Der Test ist bestanden! Daphne Elfenbein steht schon auf der Warteliste für einen Schrebergarten.

Marius Geitz: Alexander Gerst

Hartes Training
mitten dort im Nichts.
Muskelaufbau
viel zu viel Gewicht.

Feine Sahne,
die gibt es hier nicht mehr.
Wenn nur dieser Traum,
Wenn nur dieser Traum in mir nicht wär

Ich möchte so gerne wie Alexander Gerst sein.
Ich möchte so gerne wie Alexander Gerst sein.
Ich möchte so gerne wie Alexander Gerst sein.
Ich möchte so gerne mehr wie Alexander Gerst sein

Vierhundert Kilometer
weit nach vorn,
ein kleines bisschen Druck
dort in den Ohr`n.

Ganz entspannt
im Sitz zurücklehn`
ich kann jetzt erstmal nicht mehr zurückgehn.

Ich möchte so gerne wie Alexander Gerst sein.
Ich möchte so gerne wie Alexander Gerst sein.
Ich möchte so gerne wie Alexander Gerst sein.
Ich möchte so gerne mehr wie Alexander Gerst sein.

Manchmal ist es einsam.
Ich denk, ich schaff es nicht mehr.
Manchmal frag ich mich auch:
„Wie komm ich nur hierher?“

Doch dann reiß ich mich
ganz schnell wieder zusamm`,
ich pack meine Siebensachen
und schau dich im Fernsehen an.

Ich möchte so gerne wie Alexander Gerst sein.
Ich möchte so gerne wie Alexander Gerst sein.
Ich möchte so gerne wie Alexander Gerst sein.
Ich möchte so gerne mehr wie Alexander Gerst sein.

Mit Musik:

https://leidengruppe.bandcamp.com/track/alexander-gerst

Arabella Block: Wundertüte

„Nein“, sagte meine Mutter und: „Du meine Güte.
Was willst du denn mit diesem billigen Ding!
Da ist doch niemals etwas von Bedeutung drin.
Schluss, aus, ich kauf dir keine Wundertüte.“

Und dabei blieb es kindheitlang. An der A3
stand zwar das Wundertütenwerk, in dem die Tüten,
auf denen ach so vielversprechend Sterne blühten,
enstanden, doch wir fuhren stets vorbei.

Der neonblaue Namenszug an der Fassade
hat sich mir zugeflüstert Jahr für Jahr.
Bis die Buchstaben nacheinander starben.

Als auch das großgeschwungene W erloschen war,
blieb nur eine Fabrikruine ohne Farben.
„Zu spät“, wisperte sie mir zu, „wie schade.“

Andreas Lugauer: Max Goldt liest ›zwischen den Jahren‹

Dass Max Goldt, der – man verzeihe mir den eigentlich unpassenden, aber zum Zwecke der Alliteration verwendeten Ausdruck Doyen – der Doyen der Digression, ›zwischen den Jahren‹ im Nürnberger Hubertussaal liest, das ist mittlerweile zur süßen Gewohnheit geworden wie der alljährliche grippale Infekt nach den Weihnachtsfeiertagen.

›Zwischen den Jahren‹, das sagen die Leute, weil ihnen als »Jahr« nur die Zeit ehrlicher Hände Arbeit gilt, was recht hübsch auch durch das Gegensatzpaar »unter der Woche« für die Werk- und »Wochenende« für die arbeitsfreien Tage Sams- und Sonntag illustriert wird. Denn ›zwischen den Jahren‹, da arbeiten normale Leute nicht, sondern geben sich der Erholung, der Muße, dem Skispringen und Biathlon sowie den Verwandten hin. »Biathlon«, mag jetzt jemand einwenden, »läuft doch zwischen den Jahren gar nicht!«, hat damit allerdings unrecht. Zwar findet, soweit hat der Einwender recht, zwischen Weihnachten und Neujahr kein Biathlonwettkampf statt, sehr wohl aber um den Dreikönigstag – und dieser erst beschließt die Zeit ›zwischen den Jahren‹. Wer was auf sich hält, nimmt sich nämlich bis zum Dreikönigstag frei – wenn dieser auf einen Mittwoch fällt, auch noch den darauffolgenden Donners- und Freitag – und startet dann erst ins neue »Jahr«.

Normale Menschen arbeiten ›zwischen den Jahren‹ erst recht nicht an den Feiertagen. Ihnen sind Leute suspekt, die etwa Heiligabend oder die Silvesternacht nicht ›im Kreise ihrer Lieben‹ respektive unter zum letzteren Anlass von der Kette gelassenen ›Feierbiestern‹ verbringen, sondern in Krankenhäusern, Pflege- und Kinderheimen, Polizeistationen, Gefängnissen oder Atomkraftwerken Dienst tun. Wenngleich nicht derart suspekt wie Leute, die an solchen Tagen die ebenfalls aufrechterhaltenen telefonischen Seelsorgedienste in Anspruch nehmen und trotz gemieteter Wohnung und Telefonanschluss, dem nicht die schuldenbedingte Abschaltung droht, in sozialer Hinsicht als obdachlos gelten können. 

»Ob die, die zu solchen Zeiten arbeiten müssen, wenigstens um Mitternacht mit einem Gläschen Sekt anstoßen dürfen?«, fragen sich die Leute besorgt und denken »Gläschen«, weil man zu besonderen Anlässen eben kein ganzes profanes Glas hinunterkippt, wie man es im Alltag macht, wenn man sich am Wasserhahn eines einschenkt und vor lauter Durscht, den einem Heim- und Hand- und Tagwerk verursachen, in einem Zug, der freilich aus mehreren Zügen besteht, unter hör- und sehbarem Schlucken austrinkt und sich anschließend die nassgewordenen Lippen abwischen und hart ausstoßend »’aaaaahh…!« sagen muß.

Ich könnte mich jetzt freilich noch darüber mokieren, daß die Leute in solchen Zeiten auch, obwohl sie das während des »Jahres« höchstens zu Ostern, bei Beerdigungen oder Hochzeiten tun, in die Kirche rumpeln oder Dinner for One …; aber das sollen die Schmöcke tun, wie die Leut’ es ebenfalls tun und halten sollen, wie sie munter, froh und fröhlich wollen. Ich stattdessen male mir nun aus, was Max Goldt dieses Jahr wohl tragen wird. Bei einem der letzten Nürnberger Auftritte nämlich erschien er in quadratisch geschnittenem, groß und grün kariertem Flanellhemd und schwarzbraun längsgestreiften, schlafanzugähnlichen Hosen. Aus Frankfurter Kreisen erfuhr ich, dass er bei der kürzlich dort stattgehabten Lesung wie üblich in unauffällig, in Hemd, Jackett und normaler Hose, auftrat. Aber dort las er auch nicht ›zwischen den Jahren‹.