Riela Dobby: Wohnen

Ich habe im Bad ein Fenster, dass rübergeht zu meinem kleinen Zimmer. Dort habe ich im Sommer immer das Außenfenster gekippt und lüfte nachts so, ohne dass sich eine Katze einklemmen kann. Abends beim Zähneputzen nehme ich wahr, dass im Zimmer nebenan etwas Großes rumflattert. Rasch schlage ich das Badfenster zu . Dass es sich um keinen Falter gehandelt haben kann, war mir bei der Größe sofort klar. Aber ich war müde und bin erstmal schlafen gegangen. Nach einem stärkenden Frühstück, musste ich mich der Situation stellen. Ich ging ins Zimmer. Es war nichts zu sehen. Aber überall lagen die kleinen Kackböllerchen rum. Also holte ich den Staubsauger und saugte. Plötzlich taucht dieses Monster auf und flattert über meinem Kopf herum. Ich schreie gellend auf, reiße ein Handtuch aus dem Wäschekorb und drehe es propellermäßig über meinem Kopf. Immer noch schreiend , kämpfe ich mich zur Türe und verlasse den Raum. Ich bin einer Ohnmacht nahe und am ganzen Körper läuft mit der Angstschweiß herunter. Mit letzter Kraft torkele ich auf meinen Sessel zu und lasse mich dort hineinfallen, bevor mir die Sinne schwinden. Als ich wieder halbwegs normal atmen kann, rufe ich bei meiner Tierärztin an und frage, was ich machen soll. Sie meint, ich müsse zurück ins Zimmer und das Fenster öffnen. Durch den Türschlitz sehe ich aber, dass dieses gefährliche Wesen immer noch wie blöde um die Lampe kreist. Für mich also keinerlei Option, mein Leben auf‘s Spiel zu setzen und dort einzutreten. Nach einer halben Stunde war die nachtaktive Häßliche wohl erschöpft und ich sah sie nicht mehr. Todesmutig und vor lauter Angst dem Wahnsinn nahe, schleiche ich – nun mit 2 Handtüchern bewaffnet- ins Zimmer. Ich pirsche mich ans Fenster heran, jeder Schweißtropfen, der zu Boden fällt, donnert in meinen Ohren. Endlich erreiche ich das Fenster und öffne es. Dabei entdecke ich dieses Untier am Boden und fange wieder zu schreien an, während ich es aus sicherer Entfernung mit dem Handtuch anfächere. Da erhebt sich das Geschöpf, breitet seine gewaltigen Flügel aus und …… fliegt erneut um mein Haupt herum. Die Hauswände im Hinterhof schicken mir meine gellenden Schreie als Echo zurück. Endlich entdeckt die wohl blinde Fledermaus das offene Fenster und entfleucht. Um mich selber etwas zu beruhigen, wiederhole ich mit zittriger Stimme, ja, schon fast einem Mantra gleich immer wieder den Satz:“ Ich habe es geschafft ! Ich habe es……!“ Ich wanke ins Badezimmer und spüle den Schweiß von meinem Gesicht. Dann beginne ich bei offener Türe das verunreinigte Zimmer zu saugen. Plötzlich verdunkelt sich der Raum und über mir kreisen zwei weitere, blutrünstige , hämisch dreinblickende Fleischfresser!!!!! Ich kreische in den höchsten Tönen und stolpere vor Panik fast erblindet in den Flur, gefolgt von der hungrigen Meute. Diese dreht nun mit regelmäßigem Flügelschlag eine Runde in meinem Schlafzimmer. Ich verschanze mich derweil im kleinen Flur vor der Toilette – wieder mit 2 Handtüchern bewaffnet. Mir ist klar , hier geht es schon längst darum, wer am Ende überleben wird! Es dauert nicht lange, da fliegt der Feind den Flur entlang, um meiner erneut habhaft zu werden! Mit lautem Gebrüll springe ich in den Gang, ein Handtuch propellert über meinem Kopf, um eine Landung auf demselbigen zu verhindern. Das andere drehe ich so schnell vor meinem Leib, dass ich fast abhebe. Nun treibe ich die speichelleckenden Biester zurück zum geöffnetem Fenster. Die Schallwellen meiner Schreie begleiten ihren Flug hinaus. Ich verlasse das ehemalige Kinderzimmer und schließe die Türe hinter mir. Vor Erschöpfung innerlich gelähmt, werfe ich mich auf mein Bett und verbleibe dort fast zwei Tage in einem Schockzustand. Wenn ich nun die Wohnung verlasse , spüre ich die stechenden Blicke meiner Nachbarn im Rücken. Sie überprüfen am Türspion, wann sie – vor mir sicher – ins Treppenhaus treten können.

Lea Schlenker: Aprikosenmänner

Ich lebe
Ich wohne in einem Kino
Lach nicht
Von Xanadu und Rosebud
Und wehende Blätter in lautloser Perfektion
Fülle ich meine Einkaufstaschen 
Mit königsblauem Samt
Cinema
Für zwölf Franken
Und einer Videothek
In der ich alte Männer in verlorener Manier antraf
Hey ihr Aprikosenmänner
Jetzt kommt die Zeit
In der sich für euch alles ändert
Im Cinema
Meinem Zuhause
Nahm ich Platz auf staubigen Sitzen mit Butterflecken
Mein Vater war Ticketkontrolleur
Und meine Mutter das Stunt-Double von Grace Kelly
Immer nur Tee ist doch langweilig
Ich möchte ausnahmsweise mal Cherry Coke trinken
Und in Hollywood sein

Ich wurde geboren auf einer Filmrolle
Und werde auf meiner Schreibmaschine sterben
Mit Greenwood in den Ohren und dem Gedanken
Dass der Bundesrat hätte schneller reagieren können
Fuck 2021
Oder  – 

Oder wir heiraten
Tanzen auf dem Tisch
An den Schuhen matschige Bananen
Bis wir umfallen und uns das Genick brechen

Ich rufe an 
Aus meinem Kino
Versprochen
Sobald ich einen Ort gefunden habe
An dem ich Empfang habe

Daphne Elfenbein: Daphne Elfenbeins Leichenschmaus

Trauerweiden sind nicht traurig. Sie haben lediglich ein Bündnis mit der Schwerkraft. Drum lassen sie ihre Zweige runter hängen, statt sie in den Himmel zu stemmen wie die anderen Bäume, die Pappeln zum Beispiel. Überdies können sie ihre Finger ins Wasser tupfen, wenn ihnen zu warm ist. Das ist ökonomisch, ökologisch und nachhaltig. Jawohl! 

Daphne Elfenbein findet, dass Trauerweiden zu Unrecht auf Friedhöfen herumstehen. Wenn es auf Friedhöfen keine Trauerweiden gäbe, vielleicht würden dann nicht so viele Hinterbliebene weinen an den offenen Gräbern, die im Totenmonat November besonders häufig weit auseinanderklaffen und Einblicke in furchtbare Abgründe bieten… die Möglichkeit, selbst zu sterben vielleicht…

Es ist nicht gesund, sich an der Trauer zu weiden. Und dann einen Baum auch noch Trauerweide zu schimpfen, weil man glaubt, er ließe den Kopf hängen, wie die Menschen es tun. Das stimmt einfach nicht.

Drum hat Daphne Elfenbein beschlossen, ihre eigene Beerdigung zu feiern. Damit sie noch zu Lebzeiten was davon hat. Schließlich möchte sie wissen, wer sich noch etwas aus ihr macht und wer an ihrem offenen Grab die Augen rollt und mit schiefem Grinsen murmelt: Na endlich hat sie rübergemacht, wurde auch Zeit…

Na warte, euch werde ich’s zeigen! Schwört Daphne Elfenbein, als sie ein Café betritt und es sich in einen schwarzen Sessel fläzt, um ihr Schreibzeug auszupacken. Nicht dass sie jetzt einen Beitrag für Eisenbart und Meisendraht schreiben würde, nein, sie zückt den Stift und schreibt in großen Lettern „GÄSTELISTE“ auf den leeren Papierbogen. 

Dann legt sie eine Pause ein und schlürft Grünen Tee. Dazu gibt es ein Quarkkeulchen. Mit dem Löffel sticht sie in die fettgebackene Zuckerhülle und reißt ein Fenster auf, durch das sie Zugriff zur Vanillecreme erhält. Diese wird nun ausgelöffelt und lange im Gaumen zerdrückt, bis alle Geschmacksknospen aufgewacht sind und die Creme gemächlich den Rachen hinunterfließt. 

Dabei fallen Daphne Elfenbein sämtliche Leute ein, die NICHT auf die Gästeliste kommen. Also muss sie noch gar nichts schreiben und kann das Quarkbällchen auslöffeln, bis nur noch eine krosse braune Hülle übrig ist die sie mit zwei Fingern aufhebt und reinbeißt….

Keine Elektroroller-Fahrer, Keine Impfgegner, Veganer, AfD-ler, Fanatiker, Besserwisser und Weltuntergangs-Propheten. Und keine… ja was…. Keine…. VERWANDTEN!! Ganz besonders die sind ausgeladen. Gestärkt von Grüntee und Quarkkeulchen erklärt Frau Elfenbein auch warum:

Mit Verwandten verbinden sie noch unerwünschte Reste von Bindung, die ihr Ableben am Ende doch noch zum Drama hochstilisieren könnten. Also keine Verwandten zum Abschied. Denen läuft man im Jenseits sowieso über den Weg…gezwungenermaßen…

Ja wer soll denn dann eingeladen werden? 

die Dame, die immer auf dem Leopoldplatz schläft, die Säuferin von nebenan, der kleine Inder, der für Lieferando in die Pedale tritt, die Oma, die auf dem Sterbebett noch Sprachkurse gibt, all diejenigen, die ihre selbst gemachten Tontöpfchen, Recyling Täschchen und Natur-Seifen auf dem Wochenmarkt verkaufen…alle, die sich ein Talent zum Fröhlichsein bewahrt haben. Auch Zufällige Passant*innen sind willkommen! Es gibt Englischen Teekuchen und Selleriesalat mit Speckwürfeln.

Am Totensonntag im November findet Daphne Elfenbeins Leichenschmaus statt. Motto: Wir taufen die Trauerweide um. 

Vorschläge bitte einreichen unter: daphneelfenbein@online.de

Vom Weinen wird gebeten, während der Veranstaltung Abstand zu nehmen. Spenden für die Beerdigungskosten sind willkommen.

Es freut sich auf euch: Eure Daphne Elfenbein

Margit Heumann: „Therapie: Keine“

Mit dem Fahrrad durch die Stadt und alles wie immer. Eine Sekunde später alles anders: Aufgestoßene Autotür, keine Chance zu reagieren, kopfüber auf die Gegenfahrbahn, ein harter Aufschlag, Auto über mir, Bewusstlosigkeit. Notoperation, künstliches Koma, Krankenhauswochen, Reha-Monate, Therapien.

Am Ende: Körperlich wieder hergestellt, chronische Apperzeptionsstörung im Bereich Lesefähigkeit, therapieresistent.

Die Liebe meines Lebens verloren: das Lesen. Für immer. Mit brennenden Augen starre ich auf die Zeilen, zermartere mir das Gehirn. Ich sehe die Zeichen, das müssen Buchstaben sein, aber sie sind mir fremd geworden, lassen sich nicht mehr definieren, nicht zu Wörtern und Sätzen zusammenfügen. Bitter für mich Vielleser und Wortklauber. So bitter, doch nichts gegen das, was mir droht, wenn sich die Buchstaben nach und nach auf jeder Ebene verweigern.

Schon ist es soweit, dass sich meine Handschrift verabschiedet. Hat sie oder hat sie nicht? Noch gehorcht mir der Stift, malt Zeichen auf Papier, gehören sie zum Alphabet? Ich kann nicht kontrollieren, ob das Gekritzel Buchstaben sind, Sinn ergeben. Die Krakel bleiben bedeutungslos, buchstäblich nichts sagend. Wie kann ich schreiben, wo meine eigene Schrift für mich unlesbar ist?

Das Gehör kann mich nicht entschädigen. Hören ist Sprache, und Sprache sind Laut gewordene Buchstaben. Wem sie ihre Bedeutung nicht mehr erschließen, dem übermitteln sie keine Inhalte. Taubheit ergreift mich, und Stillschweigen rundherum, denn wozu, bitteschön, soll jemand mit einem Gehörlosen reden?

In Windeseile verliere ich folglich meine Sprache. Laute und Buchstaben kommen mir abhanden, lassen sich nicht mehr formen, geschweige denn mit Bedeutung versehen. Das Ende vom Lied ist Sprachlosigkeit, weil ich weder lesend noch schreibend noch hörend auftanken kann.

Mit dem Verlust der Sprache schwindet mein Denkvermögen. Keine Überlegung, keine Erkenntnis ohne Worte, alle Kopfarbeit basiert auf Buchstaben. Vielleicht, mit Glück, kann ich mich noch eine Weile in den alten, längst zu Ende gedachten Denkstrukturen tummeln. Neue Gedankengänge lassen sich nicht mehr bilden. Nur eine Frage der Zeit, wann ich das Nachdenken, das Vergleichen, das Kombinieren, das Hinterfragen und das Zweifeln verlerne. Nur eine Frage der Zeit, bis ich ohne Verstand bin.

Bleibt das Gefühl. Fühlen ist buchstabenfrei, sollte man meinen. Falsch gedacht: Nur in Worte gefasste Gefühle sind echte Gefühle. Reflexion unterscheidet den Menschen vom Tier. Ohne Reflexion vegetiere ich rein triebgesteuert dahin, nicht wissend, bin ich oder bin ich nicht. Schrecklicher Gedanke. Und doch: Wie ein Tier sein – welche Gnade wäre das! Denn mir schwant Fürchterliches: Eine dumpfe Ahnung von Denken, Sprechen, Hören, Schreiben, Lesen wird bleiben, und diese dumpfe Ahnung von ehemaligem Menschsein wird mich in den Wahnsinn treiben. Therapie: Keine.

Katrin Rauch: Wir sterben alle irgendwann, die meisten von uns in Moskau.

Am 28. April 1993 stirbt die sowjetische Fliegerin und Offizierin Valentina Stepanovna Grizodubova in Moskau. Etwa zur selben Zeit hatten meine Eltern ungeschützt Sex. Wenn man einen Zeitraum von etwa zwei Wochen annimmt, in dem ich höchstwahrscheinlich gezeugt wurde, könnte ich alternativ zu Frau Grizodubova auch die Reinkarnation von Lucette Descaves sein – einer französischen Pianistin. Sie spielte 1932 unter Anleitung desselben das Dritte Klavierkonzert von Sergej Sergejevič Prokofjev, der auch in Moskau verstarb, aber fast genau 40 Jahre vor Grizodubova. Ob Grizodubova Descaves oder Prokofjev oder zumindest dessen Stück Peter und der Wolf ein Begriff war, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren, zumindest nicht mithilfe von Wikipedia als einziger Quelle. Es ist aber wahrscheinlich, denn Grizodubova absolvierte erst ein Klavierstudium ehe sie zu einer von drei Frauen wurde, denen als allererste in der sowjetischen Geschichte der Titel „Held [sic!] der Sowjetunion“ verliehen wurde. Wessen Reinkarnation ich noch sein könnte, ist Johannes Schäfers, wie Grizodubova auch am 28. April 1993 verstorben. Ich als Schäfers Reinkarnation wäre jedoch höchst unwahrscheinlich, bedenkt man, dass sein Karmapunktekonto viel zu weit ins Minus geraten sein muss, um als privilegierter, weißer, mitteleuropäischer Nerd wiedergeboren zu werden. Aber – und jetzt wird es besonders interessant – auch Kim Jong-in, alias Kai, ein südkoreanischer Tänzer, Sänger und Schauspieler, könnte ebenfalls die Reinkarnation Grizodubovas, Descaves‘ oder Schäfers sein. Man wird es nicht erfahren.

Fest steht nur, dass die Dinge vielleicht oft gar nicht so eng miteinander verwoben sind, wie man sich das vielleicht vormachen wollen würde. Und fest steht auch, dass ich seit drei Tagen kaum geschlafen habe. Woher das kommt, ist so unbekannt wie der Werdegang meiner Seele, oder wie auch immer man das nennt, was da ständig reinkarnieren muss, ehe es irgendwann ins Nirvana gelangt. Fest steht auch, dass Nirvana um meine Reinkarnation, aka Geburt, herum ihre letzten Konzerte gaben und Kurt Cobain Anfang April tot aufgefunden wurde. Ein Jahr zu spät, um seine Reinkarnation zu sein. So ein Pech aber auch. Oder sollte ich mich doch eher glücklich schätzen? Erstmal recherchieren, wie das jetzt noch schnell war. Überdosis und Selbstmord? Mord? Totschlag? Unfall? Das will man als Reinkarnation vielleicht doch nicht übernehmen. Erstmal Kaffee. Erstmal recherchieren. Erstmal Packerlsuppe, erstmal Bier, erstmal Aspirin, erstmal in die Horizontale. Von Schlaf kann wieder keine Rede sein. Erstmal offenen Auges Nachtträumen. Erstmal offenen Auges dahin vegetieren. Morgen wieder Packerlsuppe.

Vierhundert Menschen suchen via Google monatlich nach „zeugungstag berechnen“. Dieses Monat bin ich einer davon. Der wahrscheinlichste Zeugungstermin zu meinem Geburtstag ist der 22. April 1993. Möglich ist der Zeitraum zwischen 8. April und 6. Mai. Wem ich also bisher noch gar keine Beachtung geschenkt habe, sind die Anfang-Mai-Gestorbenen. Das wäre zum einen Inge Stolten, quasi ein Gegenteil von Johannes Schäfer und damit karmapunktemäßig schon wahrscheinlicher. Auch interessant: Julio Gallo, Mitgründer des weltgrößten Weingutes, oder Pierre Bérégovoy, der einen Tag vor Gallo verstarb, durch eine Kugel, die er sich allem Anschein nach selbst in den Körper gejagt hat. Am Tag nach Gallo starb außerdem Robert De Niro; Senior natürlich. Aber, dass ich erst im Mai reinkarniert sein soll, ist grundsätzlich leider unwahrscheinlich. Leider aufgrund der folgenden Persönlichkeit: Ivy Benson, britische Bandleaderin und Gründerin der reinen Frauenband Ivy Benson and her Rhythm Girls. Das war 1939, ein Anagramm meines Zeugungsjahres, wohlgemerkt, wäre also passend. 1975 wurden in Großbritannien reine Frauenbands im übrigen verboten.

Mein Magen knurrt. Erstmal Fertigpizza. Erstmal Kekse, erstmal Cola, erstmal Kaffee. Erstmal recherchieren. Da muss es doch irgendwo ein Zusammenhang geben. Da muss doch irgendwo eine Nähe bestehen. Sollen das alles wirklich einfach unzusammenhängende Zufälle sein? Wo ist die Verbindung von De Niro zu Grizodubova, was hat Schäfer mit Stolten zu tun? Welchen Schmetterlingseffekt hat Gallo ausgelöst, dass Bérégovoy zu dem Schluss kam, es sei eine gute Idee den Abzug zu ziehen? Mir will in meinem dunklen, vom Bildschirmlicht beleuchteten Kämmerchen kein Licht aufgehen. Wo hat das alles begonnen? Wer hat meine Reinkarnation zu verantworten? Bin ich etwa langsam am Durchdrehen? Bin ich überhaupt eine Reinkarnation und wenn nicht, was bin ich dann? Wann hab‘ ich eigentlich das letzte Mal länger als 3 Stunden geschlafen? Der Timer piepst, ach ja, die Pizza.

Im Wikipedia-Artikel klingt alles nach Suizid. Cobain soll sich selbst umgebracht haben. Natürlich. Abschiedsbrief, „It’s better to burn out than to fade away.“, davor schon Suizidversuch mit Beruhigungsmitteln, Heroinüberdosis, Kopfschuss aus dem eigenen Gewehr, ergibt Sinn. Interessant aber, wer seine Reinkarnation sein könnte. Die Leute sind heute 25 Jahre alt. Es sind zum größten Teil Fußballer*innen, Schauspieler*innen und Models, die mit 25 schon so viel erreicht haben, dass ihnen ein Wikipedia-Artikel zuteil wurde. Ich klappe den PC zu. Ich kann mit meinen Recherchen ja gar nicht alle potentiellen Reinkarnationen ausfindig machen. Was, wenn ich die Reinkarnation der alten Nachbarin meiner Eltern bin? Die hatte doch bestimmt keinen Wikipedia-Artikel. Ich resigniere. Das Internet, die Menschheit, sind mir eine Nummer zu groß, das mit der Reinkarnation ist mir zu überwältigend. Was, wenn Leute wie Bérégovoy und Cobain den Fluss der Dinge durcheinandergebracht haben und die Menschen gar nicht nach Plan reinkarnieren konnten. Was, wenn alle Mörder*innen, Krankheiten, Unfälle und andere unnatürliche Todesursachen den Plan durcheinanderbringen? Berechnen die Planmachenden das überhaupt mit ein, dass man nicht nur an Altersschwäche stirbt? Man wird es nicht erfahren.

Fest steht nur, dass die Dinge vielleicht oft gar nicht so eng miteinander verwoben sind, wie man sich das vielleicht vormachen würde. Und fest steht auch, dass ich womöglich seit Monaten kaum geschlafen, kaum gegessen habe. Fest steht, dass nichts fest steht.

Durch die Jalousien fallen feine Streifen Licht ins Zimmer. Ich muss wieder daran denken, dass die so heißen, weil alte, weiße Männer eifersüchtig waren, dass Blicke auf ihre Angetrauten geworfen werden konnten. Ich muss wieder daran denken, dass es draußen auch noch eine Welt geben soll, jenseits der Wikipedia-Artikel, in der auch Menschen sterben und womöglich reinkarniert werden. Ich muss wieder an Grizodubova, Descaves und Prokofjev denken. Wir sterben alle irgendwann und nimmt man diese drei Menschen als Referenzgruppe, sterben die meisten von uns in Moskau.