Blumenleere: paradise renewed

wo die feisten birnen – o, man solle sie ja absolut nicht mit jenen andren vergleichen … – gluehen & sich diskurse aus verschiedensten aeren – &, nein, nicht jedes getreide fuehre uns hinaus, zum selben brot … – erratisch uebereinander stapeln, den fiktiven strukturen der ebensolchen teilhabenden hoerig, dauert es nicht lange, bis ein veritabler kollaps droht, welchen es tunlichst zu beschleunigen gilt … korrekt!, wir zelebrieren ein numinoses abrissfest! zeit & raum, naemlich, letztlich kategorisch schier per se absurde weltanschauungen nicht blosz erodieren & mutieren zu lassen, sondern sie bewusst & gezielt zu nihilieren; zwar werden wir keine tabula rasa kreieren, solange uns der boden verschuett geht, unter truemmern & splittern, die unsere wahrnehmung penetrieren, aber vielleicht ist darunter ja auch ein samenkorn, geeignet, sich zu einer wunderbaren pflanze – einem schlangenumwobenen apfelbaum, vielleicht – zu entfalten, deren schmackhafte fruechte uns allen die augen oeffnen koennten, auf dass wir endlich saeten, was wirklich sei …

Katharina Wasmeier: Botswana

Eine alte Bekannte von mir war fit in Wortspielen. Wenn sie sagte „Heut Abend geh ich nach Botswana“ hieß das, sie würde später ein Bad nehmen statt sich in der Kneipe zu treffen. Mir fällt das grade ein, weil gestern war ich nämlich auch in Botswana. Eine für die meisten von euch vermutlich nicht weiter spannende Information, sondern vielmehr alltägliche Handlung der Reinigung, Wellness und Entspannung. Für mich problematisch, weil Badewanne bedeutet Zwangsstillegung, Unbequemheit und Stress und kann deswegen nur in Ausnahmesituationen als ultima ratio herangezogen werden.

So zum Beispiel „Ich hab Halsweh und mir ist arschsaukalt schon den ganzen Tag. Ich glaub ich muss in die Badewanne.“ Wenn ich gewusst hätte, welch sagenhafte Handlungskette größter Betriebsamkeit diese nebensächliche Information auslöste – ich hätt’ sie mir verkniffen. „Mir war nicht klar, dass ‚Badewanne‘ ein Codewort für ‚Wohnungsputz‘ ist!“ hab ich gejammert und den Toilettenrand dick mit Reinigungsschaum ausgekleidet, während im Arbeitszimmer Aufbewahrungsschachteln durcheinandergewürfelt wurden und im Waschbecken Wanderschuhe eingeweicht sowie im Flur großformatig Kabel einer Schlagbohrmaschine zu den selben Mandalas ausgefächert lagen, die ich eigentlich in einem Bett aus wohlduftenden Blubberblasen längst gern gemalt hätte. Doch es kam anders.

Weil ich lediglich die ungeliebte Wanne (zu kurz, zu eng, zu wenig Kissen) wenigstens kurz wischen wollte, kam mir der Gedanke, dass wenn Lappen und Reiniger schon in der Hand sind, damit auch geschwind das Waschbecken durchgefeudelt werden könnte und weil’s ja nur ein Handgriff mehr ist auch das Klo. In der Zwischenzeit trug der Mann („Gell, du möchtest einfach nur, dass es mir möglichst gut geht. Und nicht etwa, dass ich möglichst lange in der Wanne bleibe, damit du möglichst lange Ruhe vor mir hast?“) beflissen Hocker, Tee und Kerzenschein ins Badezimmer und frug, wonach ich mich noch sehnte. „Nichts weiter, und bei dem Licht hier lauf ich auch nicht Gefahr, einzuschlafen und zu ertrinken“, bemerkte ich mit Blick aufs gleißende Halogen.

Weswegen eine Klemmlampe im Vorratsraum abgebaut wurde. Weswegen ein Verlängerungskabel fürs Bad gesucht wurde. Weswegen eine Mehrfachsteckdose gesucht wurde. Weswegen dabei eine Aufbewahrungsschachtel gefunden wurde. Weswegen darin Festplatten („Die müsste man mal durchschauen!“), Handyschutzfolien („Das Handy gibt’s ja gar nicht mehr. Die stell ich schnell bei Ebay ein.“), Smartphonehalterungen („Das hast DU unbedingt haben wollen und jetzt liegt’s originalverpackt nur rum!“) gefunden wurden. Weswegen Platz für einen Klemmspot geschaffen wurde. Weswegen eine dabei entdeckte Pflanze dringend umgetopft werden musste. Weswegen man doch eigentlich das neue Schuhregal … Ich sag mal so: Halsweh ist jetzt weg, ich fühl mich pumperlgesund. Nach Botswana muss ich erstmal nicht mehr.

Immanuel Reinschlüssel: FaKotäne

Man nimmt sich vor all das zu tun, wofür man sonst keine Zeit hat. Die alten Platten mal wieder anhören, Bücher lesen, den gottverdammten Roman endlich schreiben, Spanisch lernen. Und dann wacht man auf, schleppt sich vom Bett zum Sofa, weiß nicht, wie spät es eigentlich ist und welcher Wochentag gerade vergammelt werden muss – und klickt ohne Ziel durch das endlose Angebot von Netflix, das plötzlich gar nicht mehr so unendlich erscheint. Die Entmystifizierung dieser unendlichen Weiten dauerte genau 45 Tage. Die Fenster sind verdreckt, die Frühlingssonne zeichnet jede einzelne Schliere mit größter Sorgfalt nach. „Morgen werden die Fenster geputzt.“, sagt man sich. Ja klar. 

Da sowohl Wochentage als auch Tageszeiten keine Rolle mehr spielen, wird getrunken. Und zwar sehr viel früher, als man es irgendjemandem erzählen wird. Aber niemand wird spontan anrufen oder vorbeikommen, man muss nicht ohne Vorwarnung zu einem Treffen oder einem Termin erscheinen, also kann man sich genauso gut dem dämpfendherrlichen Gefühl des leichten Seiers hingeben, der fließend in einen amtlichen Suff übergeht und das schlechte Gewissen über all die ungelesenen Bücher und ungehörten Alben, den gottverdammten Roman, Spanisch und den Rest der Welt gleich mitschwemmt. All die halbleeren Flaschen mit Fusel, die von vergangenen Feiern übriggeblieben sind und auf den Schränken verstauben – jetzt schlägt ihre große Stunde, hier ist ihr Auftritt. Bühne frei für den 4,99 Gin aus dem Aldi, Vorhang auf für Wein im Tetrapak, Spot auf den Kopfweh-Bourbon, füllt die Gläser mit Fanta-Korn.  

Je ähnlicher sich die Tage werden, desto undeutlicher erscheinen die Erinnerungen an das „davor“. Hat man einen Job? 

Hat man eine Freundin irgendwo? 
Leben die Eltern eigentlich noch? 
Wie heißt man eigentlich? 

Irgendwann muss man diese Informationen wieder zusammensammeln, sie erscheinen wichtig. Aber nicht jetzt, jetzt ist der FaKo an der Reihe, mit Fanta geht einfach alles und mit etwas Übung geht auch alles runter. Hardcore-Workout für Leber und Gedärme, ein staatlich finanziertes Säufertrainingslager, bei diesen geistreichen Gedanken fängt man an zu lachen. Richtig zu lachen, aus voller Kehle, lang und anhaltend, ein Lachen geboren in Langeweile und Fanta-Korn. Nachdem man sich beruhigt hat merkt man, dass dies der erste Laut war, den man seit Wochen von sich gegeben hat. Das beunruhigt. Man öffnet den Mund, kommt sich dumm dabei vor aber macht es trotzdem, man öffnet den Mund und sagt einen Satz. Etwas Saudummes wie „die Sonne scheint“ oder „Hallo, hallo, Test, Test.“. Ein komisches Gefühl ist das, die eigene Stimme zu hören und den Nachhall der Worte im Mund zu haben. Man schließt die Augen und schmeckt die Worte auf der Zunge förmlich nach.

Ein ganz kritischer Moment ist das jetzt, ein ganz, ganz kritischer. Hier entscheidet sich, wie es weitergeht. 

Links: Etwas dämmert, ein Gedanke manifestiert sich, man fragt sich, was man hier eigentlich macht und wie es so weit kommen konnte. Man stellt das Glas zur Seite, nimmt eine kalte Dusche, sucht sein Handy und ruft die erstbeste Nummer an, die man findet. Und dann alle anderen, die wichtig erscheinen. 

Rechts: Man nimmt einen tiefen Schluck FaKo, trottet ins Bad zu einem längst überfälligen Schiss und singt auf der Schüssel schief Lieder von Radiohead. Dann torkelt man in die Küche und schüttet Fanta und Korn im Verhältnis 1:1 in ein großes Wasserglas und zurück geht es aufs Sofa.

Man geht nach links.

Man wacht auf, der Kopf schmerzt. Man hat viel gelernt in den Telefonaten, das Meiste wollte man eigentlich gar nicht wissen. Man hatte eine Freundin, sie wohnt scheinbar in Berlin, man war über zwei Jahre zusammen, ihr Name ist Jana. Sie hat die Sauferei aber endgültig satt und weil man sich mehr als sechs Wochen nicht bei ihr gemeldet hat ist es jetzt endgültig aus. Man findet Fotos auf dem Handy, Jana war wirklich sehr hübsch. Man arbeitet anscheinend in einer Agentur, weder der Chef noch die Kunden haben gemerkt, dass man im Homeoffice seit Wochen keinen Finger gerührt hat. Na gut, muss er ja nicht wissen. Die Eltern leben noch, sie hören sich wirklich sympathisch an, man freut sich ganz ernsthaft auf ein baldiges Treffen mit ihnen. Sie scheinen ein bisschen überrascht darüber zu sein. 

Man heißt …

Elisabeth R. Hager: Du räumst auf

An einem Tag, der kommen wird, steh ich morgens auf der Straße und erkenne nach Jahren, in denen du tot warst, an einem Menschen in der Ferne deinen Gang. Ich weiß noch das karierte Hemd (von einem deiner Brüder, viel zu groß) & die abgeranzten, ausgelatschten Turnschuh‘. Du bist es wirklich. & wie du den Kopf unterm Arm die Straße runter rennst, könnt‘ man denken es wär alles normal. Nur das Pfeifen kommt von etwas tiefer unten & eine Kragenweite enger bist du auch. Da bin ich platt, da schau ich her hinter dir, schau wie du mit dem Riesenkopf die Straße runtergehst. Trophäe eines allzu kurzen Lebens. Statuiertes Exempel einer Kritik der Moral.

An einem Tag, der kommen wird, steh ich morgens am Bahndamm und schaue dir zu, wie du Haare aufsammelst, deine Haare auf den Schienen von Gleis drei. Mit ernstem Fleiß hältst du den Schädel ins Gebüsch, deinen Suchscheinwerfer, greifst hinein, ziehst Büschel heraus, unternimmst du nach zehn Jahren Schlaf eine etwas verspätete Rekonstruktion. In meinen Ohren – sitzten fest an mir dran – erhebt sich ein‘ Moment lang ein Gemurmel, ein satanischer, wüster Gesang. Dann ist es still auf einmal, nur das Hämmern eines Spechtes an der Borke eines Baumes & das Läuten der Glocke am Bahnübergang. Langsam drehst du dich um zu mir. Dein Gesicht lächelt lässig in die Seite gestemmt, dein abgerissener Kopf sieht aus wie neu. Du winkst mir zu. Wir blicken uns an. Sorror is worn out joy...

„Danke, dass du aufräumst“, bringe ich endlich heraus, doch da rauscht schon der Zug durch den kommenden Morgen & eh‘ ich begreife bist du auf und davon.

@bakausky: Pizza Gator

Also in Washington England gibt es eine Pizzeria in der gibt es ein „Gate“. Das ist englisch und steht für Tor. Dieses Tor führt direkt zur Hölle, nein zu einer Höhle, in der die „Lizard People“ – also Menschen mit grüner Alligator-Haut leben. Und da fahre ich gerade hin, mit dem Neun-Euro-Ticket von Bielefeld aus. Das wird ein Abenteuer, das können Sie mir glauben. Als ich da über die Grenze nach Frankreich fahren wollte, wurde ich kontrolliert.

Das Neun-Euro-Ticket sei nicht gültig auf diesem Weg, hieß es. Ich erkläre die Situation, dass mit den „Lizard Peoplen“ und der Pizzeria und meinem Plan, die über den Eurotunnel zu besuchen. Darauf wurde gar nicht weiter eingegangen, die verstanden nur Bahnhof und ich aus dem Zug geladen auf den selbigen. Verschwörung, wohin man schaut.

Also als Tramper weiter. Von dort nach dort. Ich werde Beweise liefern, sobald ich angekommen bin. Das zieht sich noch ein wenig hin. Denn die wissen, was auf sie wartet, wenn das rauskommt. Ich werde Fotos liefern auf Instagram. Folgt mir bitte bitte dort @bakausky.  

Angekommen bin ich schließlich doch. In Washington, England. Mit einem Uber bin ich die letzte Strecke zur Pizzeria gefahren und was ich dort erlebte, das glaubt mir niemand. Außer ich hätte nicht Fotos. Ich also in die Pizzeria rein und erst mal nichts anmerken lassen. Eine Pizza Hawaii bestellt. Doch die gab es da nicht. Verschwörung, ich höre dich trapsen.

Also dann halt Pizza Salami. Denn was viele nicht wissen ist, dass die „Lizard People“ oder Eidechsenmenschen keine Ananas mögen. Also die mögen die gar nicht, und auch nicht auf der Pizza. Dann wurde es spät und die Pizzeria war kurz vor dem Schließen. Doch die Pizza war groß und noch lange nicht gegessen. Da bot mir Michel, der Kellner an, zur After Party zu bleiben. Ich sei doch ein cooler Junge, jemand, der „Open minded“ sei und nichts über die „Special guests“, die noch kämen, schimpfen würde. Und ich hatte schon ein paar Bier intus und willigte ein.

Dann gegen Mitternacht wurde das Lokal offiziell geschlossen und ich saß noch auf einem Barhocker bei Michel an der Theke. Der sagte gerade „my name is Mitchell, not Michel“ und ich so „my name is @bakausky, follow me on Instagram“. Und da waren sie schon zu einer kleinen Treppe emporgestiegen. 

Ich traute meinen Augen nicht. Es waren fast Menschen, nur winzig und mit grüner Haut. Sie bestellten eine Runde aufs Haus, was mir sehr entgegenkam, denn ich war mittlerweile knapp bei Kasse. So, fragte ich sie, „You don’t like Pizza Hawaii?“ „No, it’s terrible“, sagte da einer und die anderen lachten. Ich nahm mein Handy heraus und machte ein Foto, sagte: „We will see who laughs now, I am just posting this on my Instagram @bakausky“. Und da lachten sie noch mehr. Und ich war verblüfft.

Sie bezeichneten mich als „conspiracy Nuss“ und sagten, dass mich kein Mensch ernst nehmen würde und luden mich auf noch einen Schnaps ein. Da konnte ich nicht nein sagen. Und einige Schnäpse später waren wir die besten Freunde, die „Lizard People“ und ich.

Am nächsten Tag wachte ich mit einem „Hangover“ auf einer Parkbank in Washington, England auf und hatte nur noch verschwommene Erinnerungen an die letzte Nacht. Die Eidechsenmenschen hatten mich gefügig gemacht, meine menschliche Schwäche, den Alkohol ausgenutzt. Und da war ich nun, ein Wrack mit null Pfund Kohle und null Prozent Akku in Washington, England. Aber mit dem guten Gewissen, auf Instagram geliefert zu haben. Und das machte mir Mut, als ich mit Daumen nach oben mich auf den Weg zurück nach Deutschland machte. 

Zeha Schmidtke: Wohnungstausch


Ein Hausflur. Die Tür zu einer Wohnung öffnet sich knarzend.
Aus der Wohnung: Schlager der 50er. Rocky schafft seinen
schweren Körper aus der Bude. Er ist in schlechter
Verfassung, grunzt und brummt vor sich hin.


ROCKY
Boah – was hab ich denn da für Mucke laufen?
Kommt die denn her? Egal. Meine Fresse, hab
ich einen Schädel. Wo ist denn hier der
Lichtschalter?

Er macht das Flurlicht an und schlurft durch den Flut.

Wollen wir mal gucken, wie es Oma Kowalski
geht. Die hat sich ja gestern auch gut einen
genommen, die alte Fregatte!

Er klingelt an einer zweiten Haustür.

Hoffentlich ist sie schon wach…

Die Tür öffnet sich. Aus dem Wohnungsinneren: Death
Metal.


Na, Oma Kowalski!

OMA
Joi! Junge, Du bist das! Haste schön
ausgeschlafen, Junge?

ROCKY
Sag mal – was hörst denn Du da für Musik,
Oma Kowalski?

OMA
Ich weiß auch nicht. Ich hab heute Morgen das
Radio angemacht, wie immer. Da kam das.

ROCKY
Und was hast denn du da an, Oma? Was ist
denn das für eine Lederkutte?

OMA
Ist ein bisschen zu groß, nicht?

ROCKY
Das ist meine Lederkutte, Oma Kowalsky.

OMA
Ist ein bisschen zu groß, nicht?

ROCKY
Das ist meine Lederkutte, Oma Kowalsky.

OMA
Dafür leierst Du gerade meinen Morgenmantel
aus, Junge. Du siehst ja aus. Wie eine
Riesenwurst mit rosa Blümchen.

ROCKY
Sag mal – kann das sein, dass wir gestern so
voll waren, dass wir unsere Wohnungen
vertauscht haben?

OMA
Ich trink nie mehr Eierlikör auf Wodka.

ROCKY
Hast Du beim letzten Mal aber auch schon
gesagt, Oma.

OMA
Pass auf, mein Junge: Die Oma muß noch ein
bisschen schlafen. Und du gehst auch noch ein
bisschen schlafen. Und nachher komm ich
rüber. Und dann tauschen wir die Wohnungen
wieder zurück.

ROCKY
So machen wir das, Oma Kowalsky. Du bist die
Beste.


Ende.

Margit Heumann: Schlagerschnulze

Einst war ich eine verlassene Frau
es wäre für mich der Supergau
wenn ich unbemannt bliebe.

Was tut eine Frau, wenn es wirklich hakt
auf der Jagd nach dem Liebeskick?
Sie googelt und tindert und sucht Kontakt
und findet im Netz ihr Glück.

Einen Gentleman hab ich gefunden
wie‘s ihn nur einmal gibt,
Hals über Kopf in wenigen Stunden
war ich in Hannes verliebt.

Es folgten Zeiten voller Glück,
Hannes war in allem mein Held,
drum gab ich ihm alles und hielt nichts zurück,
Weder Liebesbeweise noch Geld.

Nicht lang, denn kaum war das Konto leer,
auf den letzten Cent geräumt,
da war er weg, der feine Herr,
und mein Liebestraum ausgeträumt.

Und die Moral von der Geschicht‘:
Bist du auf Männersuche,
trau keinem Gentleman nicht
sonst schlägt das Minus zu Buche.

Theobald Fuchs: Sabinchenstadt

Wir hatten uns überlegt, dass man ja von Berlin aus auch mal mit dem Fahrrad nach Nürnberg fahren könnte. Und dann kam es wie es kommen musste: wir machten es wirklich.

Es gäbe viel zu berichten, über die drei Flüsse Havel, Elbe und Saale, und über die drei Bundesländer Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Thüringen, die wir durchquerten. Und über ein paar – ich mache jetzt mit den Händen Anführungszeichen in der Luft –  interessante Begegnungen. Aber nichts davon, kein Wort über Ostdeutschland und die Ossis – es soll hier lediglich über Treuenbrietzen gehen.

Ich sagte, als wir bei der Abfahrt im Grunewald einen Blick auf die Route warfen, noch: Haha, das ist doch diese Kleinstadt, die in dem Lied vorkommt, wo der kranke Typ die Frau umbringt, weil sie aus Liebe zu ihm ihren Arbeitgeber bestohlen hat. Und sechs Stunden später? Steht astrein und noch vor dem ersten offiziellen Ortsschild das erste Plakat mit der Aufschrift: »Treuenbrietzen – Sabinchenstadt«.

Ich vermute, dass nicht alle Hörer*innen von Radio Z diesen Song parat haben, der aus unergründlichen Tiefen der Zeit herstammt und bis zum heutigen Tage praktisch ein Dauerschlager ist. Zumindest in einschlägigen Kreisen. Erstmals abgedruckt laut wikipedia 1849 in der Liedersammlung »Musenklänge aus Deutschlands Leierkasten«.

Musenklänge.

Deutschlands Leierkasten.

Schöne Begriffe, aber ganz klar heute nicht mehr wirklich regelmäßig in Gebrauch. Ein Problem für die Sprachhygieniker der diversen Gesellschaften zum Schutz der Deutschen Sprache, die sich ja gerne auch über die bösen Anglizismen und besonders heftig über gendergerechte Ausdrücke aufregen wie die kleinen Autos. Die können mich allerdings eh gern haben.

Auch in der Mundorgel, einer Liedersammlung von 1984, die der eine oder die andere noch aus dem Zeltlager kennen könnte, ist das Sabinchenlied enthalten.

Wir hören eine Version gesungen von Claire Waldoff. Frühe 1920er Jahre, aber recht progressiv wie ich finde. Claire Waldoff übrigens eine Art Superstar damals, Helene Fischer Hilfsausdruck. Obacht: Krasse Stimme! 

Nun, da sind natürlich schon ein oder zwei Stellen im Text, die wir heute befremdlich finden sollten.

Zunächst ist das ganze ja ein Schmählied auf eine bestimmte Berufsgruppe, den Schuster. Schuster waren unverzichtbare Dienstleister, ohne die es keine Stiefel und Schuhe gab. Spätestens im Winter absolut unverzichtbare Gebrauchsgegenstände. Ein Mensch ohne Schuhe ist in unseren Breiten nicht wirklich überlebensfähig. Warum also dieser Hass auf Schuster, der in diesem völlig unverfrorenem Mobbing gipfelt? Ich vermute hier einen zeitgenössischen Witz, den wir heute einfach nicht mehr begreifen können. Irgendwie so etwas wie: Treffen sich zwei Schuster, sagt der eine… oder: Geht ne Frau zum Schuster… Irgend so etwas.

Dass Sabinchen in frühkapitalistischen Verhältnissen lebt, eine Ausgebeutete ist, die für das obere Ein-Prozent der Bevölkerung arbeiten muss, die sich Silberlöffel leisten können – geschenkt.

In den kinderreichen Familien der damaligen Zeit wurden Töchter, die als überflüssig und nutzlos angesehen wurden, einfach so entsorgt. Ab in ein Ausbeutungsverhältnis, Menschenrechte waren vor allem Männersache. Zum Glück hat sich das ja geändert und alle Menschen sind heute gleichberechtigt, frei und … naja.

Sehr modern hingegen mutet die toxische Beziehung zu dem chauvinistisch-patriarchalischen Schuster an (»wollte Sabinchen besitzen«), in die sie sich verstrickt. Der Schuster beutet Sabinchens starke emotionale Bindung zu ihm gnadenlos aus, er ist ein Trinker, ein Gewalttäter. Wir können nur spekulieren, wie es soweit kam, dass er ein so unausstehlicher Mensch wurde. Das Lied schweigt sich aus, Ursachenforschung in Treuenbrietzen nicht gefragt. Wobei man spätestens jetzt bemerken sollte, dass nur der  Schuster aus Treuenbrietzen stammt, Sabinchen und die Dienstherrschaft allerdings überall sonst angesiedelt sein könnten. Meine persönliche Vermutung ist Berlin, dort gab es Silberlöffel und dunkle Keller in ausreichender Menge. Mit anderen Worten: Treuenbrietzen schmückt sich mit einem Liedtext, der die Stadt als Herkunftsort eines Meuchelmörders ausweist. Das wäre ungefähr so ähnlich wie „Hitlerstadt Braunau“ oder „Julius Streicher-Stadt Nürnberg“. Womit wir bei der rätselhaften Zeitangabe „Aha-achzehn Wochen“ wären. Was um Himmels Willen steckt da dahinter? Genauso gut könnten es doch sechzehn oder neunzehn oder zweiundsechzig Wochen sein, ohne dass man gleich das Versmaß ändern müsste. Wir wissen nicht, wie der Diebstahl rauskam, aber vermutlich dann, als die silbernen Löffel gebraucht wurden. Heißt, sie wurden volle viereinhalb Monate nicht gebraucht! Und der Schuster brauchte in der ganzen Zeit kein Geld mehr. Sonst hätte Sabinchen ja noch mehr Löffel klauen müssen, damit der Schuster noch mehr Geld versaufen hätte können, wovon aber nirgendwo die Rede ist. Ich selbst hätte ja vermutet, dass der Schuster die paar Löffel innerhalb von genauso viel Tagen in Schnaps und Bier umsetzte, so dass recht bald die nächste Eskalationsstufe erreicht worden wäre.

Woher also diese rätselhafte Achtzehn. Nun, wir Menschen des 21. Jahrhunderts sind uns freilich dessen gewahr, dass die Achtzehn ein Code sein kann für den ersten und den achten Buchstaben im Alphabet, für das A und das H, das wiederum für den abscheulichsten Massenmörder aller Zeiten steht.

Und hier liegt wohl der Schlüssel zur Lösung des Rätsels begraben: Der Texter oder die Texterin dieses Songs kannte Adolf Hitler und den Neonazi-Code. Wir haben es hier nämlich mit einem Zeitreisenden zu tun, jemand, der ins Treuenbrietzen des späten zwanzigsten Jahrhunderts gereist war und wieder zurück, um dieses Lied zu schreiben, das dann die Heimatstadt eines Frauenmörders abfeiert. Jemand, der das Treuenbrietzen der Zukunft nicht mochte und auf raffinierte Weise schon über Hundert Jahre früher sein bashing preparte.

Ganz unspektakulär allerdings kommt die geradezu modern anmutende Nicht-Verurteilung zum Tode daher. Selbst angesichts dieser heimtückischen Mordtat verzichtet das Gericht auf die atavistische Strafe und begnügt sich mit Verrottenlassen des Delinquenten in einem dunklen Keller. Quasi Aufklärung pur, Verkündung der Menschenrechte Hilfsausdruck. Oder – leider doch wieder nur ein Fall von Misogynie? Dass man für den Mord an einer Frau nicht so schlimm verurteilt wurde?

Ich denke, wir sollten alle nochmal über dieses Lied nachdenken.

Meine vorläufige Gesamtbewertung allerdings: ein großer Hit, geniales Songwriting, die Melodie hooked sofort im Ohr und geht nicht mehr raus wie das abgebrochene Ende eines Ohrenstäbchens. Was ein Dreckslied. Passt alles.

… daramm dada daramta, daramm, daramm, daramm…