Anne D. Plau: Erinnerung im Regen

Begonnen hatte alles mit einem Bauern, dem sich ein anderer entgegenstellte. Zur Verteidigung hieß es.
„Wie immer,“ murmelte ich und wandte mich ab. Mich betraf das nicht, für die Großen war ich unsichtbar. Ich rollte die Kniestrümpfe runter und zog ein Bonbon aus der Hosentasche.

„Das jetzt mit den Bauern. Reine Vorkehrung. Letztes Mal ist er völlig verdroschen worden“, flüsterte jemand. „Komm“, erwiderte sein Nachbar, „suchen wir bessere Plätze. Aber nicht zu nah dran!“

Die zwei Männer schoben mich zur Seite. „Pass doch auf, Bub!“

Ich unterdrückte mit geballten Fäusten eine Erwiderung. Oberstes Gebot: Wer angreift, muss immer mit einer Verteidigung rechnen. So wie bei den Bauern, zu denen nun andere eilten. Selbst ihre Pferde führten sie herbei, sie wieherten und schnaubten.
Ein Raunen erfüllte den kleinen Saal, dann hielten alle den Atem an. Eine Dame lief eilig einige Schritte und blieb in der Mitte stehen.

„Schmeißt sie raus!“, rief einer laut. Einige klatschten.

So gemein, dachte ich. Und auch heute, so viele Jahre nach dieser Begebenheit, fühle ich Wut. Wäre ein Faustkampf im Stall für sie nicht angebrachter? Wo das das Brüllen vom Stroh gedämpft wurde?

„Macht sie fertig!“, schrie jemand.

Doch die Dame wich nicht zurück, sie lief mit erhobenem Haupt weiter. Um ihren weißen Hals lagen sehr feingliedrige Finger. Ich drängelte mich ganz nach vorn.

Diese Hände. Sie waren anders als die der hiesigen Bauern. Sie waren kleiner, sogar noch viel kleiner als meine. Sie strichen langsam über die Krone der Dame, bevor sie sie anhoben und die Figur schräg vor dem schwarzen Turm abstellte.

Der Turm wurde angehoben. Er setzte sich in Bewegung und glitt auf das Feld a4.

Es schien, als habe sich Schwarz damit eine bessere Position geschaffen. Ich schob mich an allen vorbei, ganz nach vorn.
Der weiße Läufer eilte schnurstracks auf die linke Spielseite. Warum denn das? Ich schaute vom Schachbrett auf und erblickte nun gänzlich die Person, die mit den weißen Figuren spielte. Ein Mädchen. Auf dem Schoß ihres Vaters, sie biss sich auf die Lippe, kniff die Augen fest zusammen und setzte den Läufer.
Dann schaute sie im Raum umher, auf Augenhöhe blickten wir uns an. Sie blinzelte. Schau, ich werde gewinnen.
Die schwarzen Türme kämpften, die schwarzen Läufer flitzen über das Brett. Jedes Aufbäumen ließ das kleine Mädchen ins Leere laufen, sie übersprang mit ihrem weißen Pferd die Barriere, bedrängte die Türme, ließ ihre Dame erneut eilen, direkt bis vor den schwarzen König, der nun „Schach matt“ sagte. Wohin hätte er auch gehen sollen?

Begonnen hatte alles mit einem Bauern, dem sich ein anderer entgegenstellte.

Noch immer denke ich an das schachspielende Mädchen und lange stellte ich mir vor, aus ihr wäre eine Meisterin geworden. Alle hätten geklatscht bei ihren Siegen. Damals, in dem Saal der Wirtschaft, hatten die Bauern jedoch nach dem Spiel lediglich murrend einzelne Münzen in die Mütze ihres Vaters geworfen.
Dieser hob das Mädchen vorsichtig auf seinen Arm. Zusammen traten sie aus der Tür hinaus auf den Dorfanger. Das Mädchen sah mich die ganze Zeit ernst an. Siehst Du? So ist es. Lange starrte ich ihnen hinterher.

Aus dem Fenster meines Arbeitszimmers beobachte ich den Regen, der langsam die Scheiben entlang fließt. Ich bedauere noch immer, sie nicht nach ihren Namen gefragt zu haben. Die weiße Dame jedoch hatte ich gerettet und sie verstohlen in meine Hosentasche gleiten lassen.
Sie steht bis heute auf meinem Schreibtisch.

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