Christian Knieps: CERN

Mein Mann und ich sind unterwegs zum CERN. Er will da unbedingt hin, während ich nur dabei bin, damit er nicht allein fahren muss. Dafür hat er mir versprochen, beim nächsten Besuch bei meiner Mutter dabei zu sein, denn wenn er dabei ist, ist meine Mutter meistens die Freundlichkeit in Person.
Auf dem Weg zum CERN bekomme ich eine Zusammenfassung seines Wissens, das ich kaum bewerten kann, weil ich weniger als die Hälfte verstehe. Nach den ersten Fragen lasse ich auch das Fragen sein, weil ich merke, wie angespannt er wird, wenn ich zeige, dass ich so gar keine Ahnung von dem Ganzen habe.
Als wir endlich ankommen, freue ich mich auf etwas Bewegung. Wir treten in das Eingangsgebäude und treffen andere Teilnehmer der heutigen Führung. Auf den ersten Blick erkenne ich, dass es nur eine potentielle Leidensgenossin gibt, doch sie ist so gekleidet, dass sie auch Physikerin sein könnte. Also ist Vorsicht geboten.
Die Führung beginnt. Der Mann, der uns Einblick in das Wunderwerk der Technik gibt, ist mir in seiner leicht verpeilten Art direkt sympathisch. Meinen Mann nervt sein nasaler Tonfall. Wir werden durch das Gebäude geführt, die meisten, die den Eindruck machen, dass sie wissen, was hier geschieht, wirken von der Führung gelangweilt. Ich hingegen finde sie sehr interessant, da sie nur wenig Wissen voraussetzt. Zudem spüre ich, wie der Vortragende eine Begeisterung für diese Forschungseinrichtung versprüht, wie es Männer normalerweise nur für ihren Fußballverein machen.
Als sich die Führung zum Ende neigt, bin ich positiv überrascht, während mein Mann mir schon verraten hat, dass das hier pure Zeitverschwendung für ihn sei. In den Gesichtern der anderen Teilnehmer sehe ich eine ähnliche Meinung, auch in dem Gesicht der einen Frau, von der ich nicht erahnen konnte, mit welchem Wissenstand sie hier angereist ist. Zum Glück habe ich mit ihr kein einziges Wort gewechselt.
Die Führung wird beendet und es gibt zurückhaltenden Applaus. Schnell gehen alle auseinander, nur ich trete an den Wissenschaftler heran und sage ihm, dass mir seine Führung sehr gefallen hat, wenn ich nicht sogar begeistert davon bin. Wir kommen ins Gespräch und ich vergesse meinen Mann, der irgendwo im Verkaufsladen nach Fachliteratur sucht, von der er wohl kaum etwas verstehen wird. Hauptsache, er zeigt, wie sehr er in dem Thema drin steckt. Nach außen, versteht sich.
Wir beide hingegen machen uns über die Besucher lustig. Ich kann offen zugeben, dass ich nicht mal alles das verstanden habe, was der Wissenschaftler uns erklärt hat, aber er ist sich sicher, dass die anderen Besucher auch nicht mehr verstanden haben, es nur nicht zugeben wollen.
Auf dem Nachhauseweg schweigen mein Mann und ich lange, bis er äußert, wie enttäuscht er von dem Besuch ist. Ich überlege kurz, ob ich ihm die Wahrheit sage, doch ich weiß auch, dass er noch weitere solche Besuche in seinem Kopf hat. Und so entscheide ich mich zu einem nichtssagenden Geräusch, das bei ihm als Bestätigung ankommt.

Theobald O.J. Fuchs: Ekstase

Wir standen unter dem großen Thermometer, das einer Siegessäule gleichend wie in jeder anderen Stadt auf der Erde mitten auf dem Marktplatz errichtet war.
Ein Raunen ging durch die Menge, als der Bürgermeister endlich anfing, rückwärts zu
zählen. Die Menschen hatten stundenlang, tagelang geduldig in der schattenlosen Hitze ausgeharrt, splitternackt, schweißüberströmt, Tücher und Schirme über die Köpfe haltend.
»Zehn, neun, acht«, klirrte die Stimme aus dem blechernen Trichter.
Die Spannung wurde unerträglich, der Menschengestank gerann zu Flocken wie Milch wenn du Zitronensaft hinein tropfst. Sogar die Mücken, die wie eine graue Wolke über dem Platz schwebten, schienen den Atem anzuhalten.
»Drei, zwei, eins…«
Dann war es soweit. Die rote Flüssigkeit, die in dem gläsernen Zylinder mehrere
Stockwerke hoch stand, fing an zu flimmern.
Die obere Kante, die auf der Skala bis zur 55-Gradmarke reichte, wackelte. Dann sank zum ersten Mal seit Jahrzehnten die Temperatur.
Der Trick, den sich die Wissenschaftler in letzter Sekunde ausgedacht hatten, funktionierte: die Welt war gerettet.
Wir brüllen und tanzten, schrien, lachten, sprangen und weinten.
Freude grenzenlos, Ekstase total.
Nach einer Viertelstunde sagte dann der erste: »Mir wird’s langsam zu kalt.«