Matt S. Bakausky: Weiß

Sie trug immer schwarze Kleidung.
Sie kletterte gut.
Sie meldete sich bei mir über Facebook und fragte ob meine Schwester auch da wäre.
Meine Schwester hat kein Internet.
Dann meldete sie sich wieder ab.
Ein paar Monate später die gleiche Nummer.
Wir waren zusammen im Urlaub mit dem Betreuten Wohnen für seelisch Kranke Menschen.
Im bayerischen Wald.
Klettern, Lagerfeuer, Abenteuer.
Sie war in einem Einzelzimmer, nicht weit von mir entfernt.
Sie war still und sehr intelligent, wenn man sie traf.
„Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag.“
Dietrich Bonhoeffer
Geboren 21.09.1985. Gestorben 16.04.2017.
Sie trug immer schwarze Kleidung.
Sie kletterte gut.
Sie fragte nach meiner Schwester bei Facebook.
Wir waren zusammen im Bayerischen Wald.
Einzelzimmer.
Still.
Intelligent.
Der Pfarrer im Betreuten Wohnen redete nicht hilfreiche Sachen.
Die Familie trauerte auf ihre Weise.
Wir zündeten Kerzen für sie an.
Bei der kirchlichen Trauerfeier wurde „I follow you“ von Lykke Li gespielt.
Am Werktag danach lief das Lied bei mir in der Arbeit im Radio.
Ich sah eine schwarze Krähe, als ich zum Rauchen runter ging.
Sie trug immer schwarze Kleidung.
Sie kletterte gut.
Still.
Intelligent.
Jung.
Jedes Mal wenn ich „I follow you“ im Radio höre, denke ich an sie.
Weiß, dass es ihr nun besser geht.
Dass sie das weiße Licht gefunden hat.

Pauline Füg: zwei morgen wach

zwei morgen wach
und keine nacht dazwischen
nen morgen land zurückgelegt
wir wollten wach, wir wollten weg sein.
Und blieben doch an einem Ort

Seit der Sommer begonnen hatte, wohnten wir weiter draußen.
Vania trat in die Pedale, ich zögerte noch, wir sagten nichts.

Manchmal wichen wir ein paar Enten aus, ich legte mich immer falsch in die Kurve. Der Schotter wurde Schlamm und wir schlitterten durch engbezaunte Gassen, in denen sogar Dreirad fahren verboten war.

Mir fiel ein, dass man seine Kleidung im Dschungel nicht waschen soll, sie trocknet dann nicht mehr, wegen der Luftfeuchtigkeit, weißt du.

zwei morgen wach
und keine nacht dazwischen
nen morgen land zurückgelegt
wir wollten wach, wir wollten weg sein.
Und blieben doch an einem Ort

Jetzt waren wir schon so weit gekommen, raus aus den hohen Häusern, wir wohnten seit Wochen in einer seltsamen Art von Stille, aber ich war so wach und ich wollte so viel sehen und ich wusste nicht wo und wie.

Ich hatte schon geglaubt, die Zeit der Lampions war vorbei. Aber im einzigen ärmlichen Kastanienbaum hingen Lichter und ich konnte nicht wegsehen.

Ich konnte nicht wegsehen und suchte nach Fremden, die ebenso wach und irritiert waren wie ich.

Es wurde dunkel, die Belichtungszeit hatte sich verlängert.

zwei morgen wach
und keine nacht dazwischen
nen morgen land zurückgelegt
wir wollten wach, wir wollten weg sein.
Und blieben doch an einem Ort

Vania stieß mich an und ich schreckte auf, es erinnerte mich an unser Zucken beim Ton des Weckers, die Zeit, in der wir versucht hatten, uns einen Rhythmus anzugewöhnen, der uns bewerbungschreibentauglich und arbeitsmarktfähig machte.

Ich schloss beim Blinzeln das Lid länger als nötig und dachte daran, dass überall auf dem Mount Everest tote Bergsteiger lagen, an denen man vorbei muss auf dem Weg nach oben, die Ötzis von später, und man würde fast dankbar sein, dass es so teuer ist heutzutage, die Verunglückten zu bergen aus solcher Höhe. Aber das hat nichts mit irgendetwas zu tun, deswegen vergaß ich es die meiste Zeit.

zwei morgen wach
und keine nacht dazwischen
nen morgen land zurückgelegt
wir wollten wach, wir wollten weg sein.
Und blieben doch an einem Ort

zwei nächte wach und kein dazwischen
wir sind ja anfangs noch gerannt
ich wollte wach, ich wollte weg sein
ich wollte weg und ging verlorn.

Ich wollte so viel nicht hören, ich wollte nichts hören von Sätzen, die ich nicht glauben konnte, weil sie von Fremden gesprochen wurden, die nur halb so irritiert und wach waren, wie ich.

Wir schliefen und am nächsten Morgen wusste ich, wir hatten von nichts geträumt.

Vania starrte auf die braune Fadentapete, sie sagte: „Ein Brief kam von der Stadt. Übernächste Woche müssen wir raus.“

Ich nickte.

zwei morgen wach
und keine nacht dazwischen
nen morgen land zurückgelegt
wir wollten wach, wir wollten weg sein.
Und ich blieb doch an einem ort

zwei nächte wach und kein dazwischen
wir sind ja anfangs noch gerannt
ich wollte wach, du wolltest weg sein
du wolltest weg und gingst verlorn.
ich blieb und sah dir lange nach

in dem moment
verschwand die richtung
ich lag danach noch lange wach


Walter Hirschwieserl und Werner Lönsch: Ein Herz aus Zierkies

für Lotte, die dumme Sau (mein ehemaliges Zwergschwein, dass sich für mich opferte, obwohl ich eigentlich gar nicht in Gefahr war)
 

Prolog

Es war einer dieser regnerischen Oktobertage, an denen du schon beim Aufstehen merkst, dass es nur noch ein elender Dreckstag werden kann. Am Fenster klebte der Regen wie die Kaugummis auf den Straßen dieser stinkenden Stadt, in der die Träume zerplatzen wie Seifenblasen im warmen Sommerregen.
Doch von alledem hatte Gunther nichts mehr mitbekommen, denn er war tot. Doch wer konnte schon ahnen, dass es so kommt, wie es kam? Das Leben ist nun mal kein Kinderspiel, bei dem eines der Kinder kurzerhand die Regeln umschreiben und sich seine versifften Hände reiben kann. Hier ist es eben einfach vorbei, wenn deine Zeit gekommen ist.
Gunther O’Neilly war ein guter Mann. Kein besonders schlauer, Mann, aber ein Mann mit einem Herz aus Zierkies. Sein beiger Bürostuhl steht leer und einsam in der Ecke. Die Lamellen der Fenster werfen Strichermuster aus Schatten auf des Drehstuhls Polster. Gunther saß da immer drauf und hat “recherchiert”, jetzt gähnt seine Ecke. Das Büro wirkt so leer ohne ihn, so verdammt grau wie die ganze verdammte Scheißstadt.  Ich betrachtete die Tür. Da stand der Name meiner Detektei, aber spiegelverkehrt. Gunther war ja nie die hellste Kerze auf der Torte gewesen, aber das toppte alles. Er wollte nie einsehen, dass das Schild spiegelverkehrt war und spiegelverkehrt immer verkehrt ist, wie das Wort ja schon so schön verrät. aber ich hab es immernoch nicht umdrehen können. gunthers geist war in dieser türenscheibe irgendwie drinne. es wäre Frevel, das schild richtig herum zu hängen.
Was mach ich denn jetzt nur ohne meinen Partner? Ach ja: Kaffee. Die gelbliche Makadamiamilch brökelte in meine  ungespühlte aber dafür mit Kitschkacke bedruckte Tasse. Das dominant-schnippische Lächeln auf der Keramik grinste mich hämisch an, fast so als wolle mir die Tasse sagen: “Junger Mann, du bist alt genug selber zurechtzukommen! Auf gehts, Hamish, auf zum fröhlichen Jagen, die Verbrecher fangen sich doch nicht von alleine. Flieg Hamish, flieg flieg.”
Ich hob die Tasse hoch und warf sie gegen die Wand. Das schien mir das beste zu sein. Jetzt war da ein Fleck an der Wand. Ich glaube, ich muss die Wand neu streichen. Oder besser ganz einreißen. Ich musse etwas tun. Aber erstmal schön in den Nachdenksessel werfen und schlafen. Vielleicht würde dann alles besser werden, wie sonst auch immer.
 

Kapitel eins: Der Verschwundene Orgelmacher

Und dann stand sie in der Tür. Ihre langen, lockigen Haare erinnerten mich unweigerlich an meine Ersatzmilch aus fair angebauten Nusseutern. Sie sagte, sie sei Camilla und bräuchte meine Hilfe. Ich blickte sie langsam und lange an und fuhr mit meinem Kamm durch meine frisch geölten Haare. Eine lange Stille drückte sich in den leeren Raum zwischen uns. Mit einem Seufzer leerte ich mein Wiskeyglas mit einem Zug und fragte: ”eigentlich arbeite ich nicht ohne meinen Partner.” Dabei deute ich bedeutungsvoll mit einer Mischung aus Abscheu und Ekel auf das schwarz gerahmte Bild von Gunther. “Aber Herr Greenway, ich weiß, dass nur Sie für den Job in Frage kommen, bitte helfen sie mir!” Als sie das sagte, machte sie ganz große, feuchte Heringsaugen. Diese verdammten Frauen!  “Was gibt es den, meine Gute?”
“Mein Mann ist verschwunden. Er kam nach seiner “Arbeit” nicht mehr nach Hause. Ich und die Kinder haben mit dem Essen gewartet, bis es kalt war und haben es dann allein gegessen. Es war Kalt. Und zäh!” Ihre Stimme überschlug sich purzelbaumähnlich bei diesen verheißungsvollen Worten. Ich indes komponierte mir die Puzzleteile zusammen. “Beim örtlichen Discounter gibts gerade Mikrowellen zum Spottpreis.” Warf Hamish, der Detektiv, also ich, abwesend ein.  “Was macht ihr Mann denn eigentlich beruflich?” “Er ist Geschäftsmann. Oft auf Reisen” Da dachte ich mir meinen Teil dazu. Und ging weiter. Aber wohin? es gab doch keinen Ausweg aus dieser Situation. Wenn ich diesen Job ablehnte würde, würde würde würde ich zum Gespött meiner Selbst werden und mein Gewissen würde mich vom Selbstekel zerfressen lassen. ich musste also ja sagen. Kurz darauf starb ich. Innerlich. Es fühlte sich zumindest ein bisschen so an.
Ein neuer Tag in meinem trostlosen Leben hatte sich in Staub aufgelöst, wie ein trockener Furz eines Wüstenfuches am Morgen danach. Ich erwachte, wie ein erstochener Igel und mein Kopf hatte Höhenangst. Ich errinerte verblasst an den Auftrag vom Vortag. Wer war dieser Geschäftsmann und warum? Camilla hatte mir nur ein verpissgilbtes Foto ihres Gatten selig gegeben und seine Visitenkarte. Darauf stand: “Pete Hammingway, Orgelsbau und Kruzifixmanufaktur. Alles für die moderne Kürsche von heute.
Aha. Ein Geschäftsmann, der mit Orgeln handelte also. Meine erstes Ziel war also dieser vollidiot von Referent Forster aus der Holy-Melony-Gemeinde hier um die Ecke. Ich machte mich also auf in dieses Drecksloch, das die Menschen hier Kirche zu nennen pflegen, und mich ein bisschen umsehen.
Danach verließ ich die Kathedrale mit Tunnelblick. Hinterher fiel mir auf, dass ich dabei doch das Wichtigste vergessen hatte: Referent Forster. Deprimiert und niedergeschlagen schlich ich zurück.
Also nochmal ab in die Kathedrale und diesmal wirklich den Referent vorknöpfen, diesen fiesen Miesling. Irgendetwas hatte ich gegen Gottes Personal. Und das beste: es war völlig grundloser Hass, aber ich finde grundlosen Hass grundsätzlich schick. Foster war ein  flacher und langer Mensch mit grünlichem Teint, fast wie ein Frosch. Er hatte auch eine genausolange Zunge, die ihm beim Predigen und Fliegen Fangen aus der Zunge hing, wie ein verkochter Spaghetto. Er war jedenfalls ein verdammter Unsymphath, den nur die Omis leiden mochten, die sich jeden Sonntag ihren Segen, ihre Portion gebackene Erlösung und natürlich auch einen ordentlichen Schluck aus Christi Pulle in ihre entzündeten Rachen stopfen ließen.
Da saß ich also in Fosters Predigt. Er seierte irgendwas von Weinbergen und verlorenen Schäfchen.  Pah, was soll das denn bitte mit Gläubigkeit zu tun haben? Aber Zoophilie und Saufen schien ja zu Fosters Lieblingsthemen zu gehören. Hätten wir uns unter anderen Umständen kennen gelernt, hätten wir zumindest einige gemeinsame interessen zum Plaudern gehabt. Aber jetzt musste ich handeln. Er war mein einziger Verdächtigter bisher. Ich musste ihn mir aufknöpfen. nur wie? Die ganze Kirche war voller Knusperhexenomas, die sich schon den Mund wund sabberten in seliger Erwartung ob des Weines mit Furzwaffeln. Ein Luxusjob war das hier gewiss nicht. Aber was hat man schon davon, in ein vergoldetes Klo zu scheißen? Eben. Ich schlich mich also katzenartig die Stufen zur Kanzel hoch. Oben angekommen sprang ich auf Foster drauf und haute ich ihm eine Monstranz direkt in seine Maul  hinein. Ein schönes Gefühl, ihn so ohne Zähne wimmmernd auf dem Kanzelboden liegen zu sehen. Den Omas schien es auch ganz gut zu gefallen. Ich rief noch: “So Ladies, heut ist Selbstbedienung, holt euch eure heiligen Waffeln direkt am Altar ab.” Stehende Ovationen! Ich hatte leichtes Spiel. jetzt gab es kein Halten mehr. Während sich unten noch die Rentnerinnen um die Oblaten prügelten, wie mittelalte Mütter am Donnerstag beim örtlichen Discounter um Kinderhosen, holte ich meine Schreibtischlampe (Modell Moelma) aus meiner Manteltasche und knallte sie ihm sachte und bestimmt ins Fressbrett. “Kennen sie Pete Hemmingway?” “Nein” “Wieso?” “Ich bin furchtbar schlecht mit Namen.” ich haute ihm nochmal in sein Gesicht, das einen roten Sprühregen von sich gab. Dann richtete ich die Lampe direkt in seine sich langsam schwärzende Augen. “Was soll denn die Lampe?” fragte dieses Dreckschwein. Ich antwortete prompt und unverzüglich: “Sie blenden” “Dann wäre ein Leuchtmittel nicht schlecht oder?” schniefte er mit einer Mischung aus Frechheit und Unverschämtheit. Ich sah die leere Fassung der Lampe und wurde sehr wütend, schmiss das schwedische Schrottteil weg und haute dem Pfaffen nochmal, diesmal aber in die Rippen. Er spuckte Blut. Es war glaube ich rot. “Haben sie Hammingway getötet?” Er spuckte nebst Zähnen auch folgende Antwort aus, die mich wie Eiszapfen in mein kleines, verschrumpeltes Herz stachen: “Nein.” Ich ließ ab von ihm und reichte ihm meine Hand. “Ach so. Dann stehen sie doch auf!” Die Omas klatschten, ein paar fielen sogar in Ohnmacht, glaub ich. Ich ließ ihn noch seinen Segen lallen und die Omas und der Pfarrer verließen das Gotteshaus.
Nur eine kleine Figur blieb noch sitzen und wartete. Sie sah mich schon den ganzen Abend lang mit zwielichtigem Blick an, fast wie ein Dudelsack aus dem man nach dem  Getröte nun endlich die Luft abgelassen hatte. Ihr Gesicht hatte Falten und eine Art Karomuster. Ich machte mich auf zu gehen, doch als ich durch die Bankreihen schritt, packte sie mich erstaunlich eindringlich am Arm. “Junger Mann, ich glaube ich weiss Etwas, das sie interessieren könnte.” Sie stand auf und führte mich auf ihren Stöckelschuhen an den Altarbildern entlang. Mir wurde mulmig. Hatte die Spinatwachtel etwa ein Ass im Ärmel? Hatte sie etwas im Busch? und wenn ja, wieviel?
“Wissen sie eigentlich, wie alt das diese Kirche ist, Mister …” “Hamish. Nein das weiß ich nicht, Ma’am aber ich würde sagen, mindestens hundert wenn ich mir sie so recht ansehe” “Na, sie Schmeichler. Aber ich fragte nicht nach meinem Alter, das weiß ich selber.“ Sie schwebte mit mir an einem alten Bild vorbei. Es zeigte einen Mann, der weinend an einen Baum gefesselt war und dem Pfeile aus dem ganzen Körper ragten. Sein Blick richtete sich gegen den wolkenverhangenen Himmel und Vögel tummelten sich lustig in demselben. Was für kranke Fantasien diese Schweinepriester doch hatten. Da war das nebenan gelegene Hardcoresmstudio “Cleopatras Rache”, in dem ich gelegentlich verkehrte, der reinste Kindergarten. Es gab dort zwar auch Bäume, aber keine Vögel. “Nein Herr Hamish, diese Kathedrale ist ungefähr 84 Jahre und zehn Monate alt. Und das besondere an ihr ist, dass sie komplett aus TK ist.” “Hmmlecker, ich liebe ddie Eiskreme von Bifrost und das Gemüse von Frösta. So einfach, so genial! Am besten beides zusammen in die Friteuse hauen und …” Sie unterbrach mich unwirsch “Nein. Unsere Gemeinde hatten sie damals nach dem krieg aus Ermangelung an Alternativen mit eigenen Zungen aus dem Packeis geleckt.” “Hören sie Fräulein, ich bin nicht hier um eine Tourismusführung durch ihren gruseligen Eisladen zu bekommen”
Sie führte mich an die Register der Kirchenorgel hinan und trat auf die Tasten. ein schlimmer Ton füllte das Kirchenschiff wie ein Strom aus Fäkalien das Vorklärbecken der städtischen Kläranlage, wenn am Morgen die Stadt langsam erwacht und sich vor dem Arbeitsweg dem kollektiven Gang zum Abort hingibt. Ich mäanderte zu der alten Frau hin und trat ihr mit dem Ellenbogen zärtlich in die Rippen. Sie verstand. Eine Woge aus Lust durchzuckte sie, wie ein frisch geölter Ochse. Sie machte zweideutige Bewegungen und zog sich aus. Dann wurde ihr aber sehr schnell kalt und sie zog sich wieder an. Während ich ihr dabei gelangweilt zusah (das Ganze dauerte aufgrund diverser Gelenkentzündungen etwas länger und wurde von illustren Stöhnlauten untermauert) fiel mir das Schild an der Orgel auf. Hammingway, stand da in angefrorenen Lettern. Der Mann war also hier gewesen. Vor längerer Zeit zwar, aber er hatte hier seinen Nachnamen an die Orgel gekratzt. Aber warum? War es eine Warnung? Die Warnung davor, was mich hier erwartetete? Ich war ratlos und ließ den Fall fallen.
 


Sprecher: Felix Benjamin

Musik: Mark Maxwell – Angel Eyes
Mark Maxwell – Harlem Nocturne

Fabian Lenthe: Hank & Sylvie

Es gab keinen Grund für sie mich zu verschonen, auch nicht nach all den Jahren, in denen wir uns immer wieder das Leben retteten. Ich trank zu viel und nachdem sie den letzten Fall alleine lösen musste, konnte ich zum ersten Mal einen leicht verächtlichen Unterton in ihrer Stimme hören. Ich wusste nicht ob sie es ernst meint oder einfach nur erschöpft war aber ich wusste, dass sich unser Verhältnis geändert hatte. Ich gab ihr, wie immer, am Ende jeder Woche ihren Scheck, als sie eines Abends in mein Büro kam, um ihn sich abzuholen.
„Na, wie sieht´s aus?“
„Hi Sylvie, willst du was trinken?“
„Ist das eine Frage?“
Ich goss uns zwei doppelte Scotchs ein und stellte einen vor ihr auf den Tisch.
„Setz dich.“
„Danke.“
„Hier, dein Scheck, deswegen bist du doch gekommen.“
„Bin ich, ja. Es gäbe da allerdings noch etwas anderes über das ich mir dir sprechen wollte.“
Wir tranken gleichzeitig und sahen uns dabei in die Augen. Ihr Blick war klar und fokussiert.
„Was gibt es?“
„Wie lange arbeiten wir jetzt schon zusammen?“
„Sylvie, was soll das?“
„Es sind genau zwölf Jahre, Hank!“
„Kann sein, ja. Ich weiß nicht. Auf was willst du hinaus?“
Sie kramt eine schmale Packung Zigaretten aus ihrer Tasche, nimmt eine davon heraus und zündet sie sich an.
„Du wirst langsamer, Hank.“
„Was willst du damit sagen?“
„Du weißt sehr genau was ich damit sagen will. Das letzte Mal, als wir zusammen einen Fall lösten, wäre ich fast verblutet, weil du nicht schnell genug reagiert hast.“
„HEY, ich hab dir verdammt nochmal gesagt du sollst auf mich warten bevor du die Tür eintrittst, laut meiner Information sollte der Typ gar nicht zu Hause sein.“
„Das war er aber und ich hab die beschissene Kugel abbekommen.“
„Sylvie, verdammt, ich…“
Sylvie schnitt mir mit einer scharfen Handbewegung den Satz ab.
„Nein Hank, wenn du ihn nicht verfolgt hättest und mich liegen gelassen, wäre ich nicht halb verblutet. Du hast mein Leben riskiert obwohl du es hättest retten sollen. Wir haben uns geschworen den anderen niemals im Stich zu lassen, egal wie ausweglos die Situation ist.“
„Sylvie, es tut mir leid, ich habe mich hinreißen lassen, wir waren eine Ewigkeit hinter diesem Kerl her und er war zum Greifen nah, ich dachte, ich würde ihn,….versteh doch.“
„Hank, verdammt, du hast mich liegen gelassen!“
Ich griff nach meinem Glas und sank immer tiefer in den Sessel. Sie hatte mit allem Recht was sie sagte und ich hatte ihren Vorwürfen nichts entgegenzusetzten. Das Telefon im Vorraum klingelte.
„Sylvie, entschuldige mich bitte, ich bin gleich wieder da.“
Als ich den Hörer abnahm, sagte mir eine schluchzende Frauenstimme einen Namen und das jemand verschwunden sei.
„Hallo, bin ich hier richtig bei Hank & Sylvie Detective Agency?“
„Das sind Sie, ja. Wie kann ich Ihnen helfen?“
Sie erzählte mir, dass Ihr Mann seit zwei Tagen nicht nach Hause gekommen war und die Polizei nichts unternehmen wolle. Sie rieten ihr einfach abzuwarten und das Abendessen zu kochen, er hätte sicher großen Hunger, wenn er nach Hause käme. Ich versuchte sie ernst zu nehmen und behielt dabei die Tür des Büros im Auge. Durch das blickdichte Fenster in der Tür konnte ich Sylvies Silhouette erkennen. Sie war aufgestanden und lief im Zimmer herum.
„Ok, hören Sie, wir werden uns darum kümmern. Kommen Sie morgen früh einfach vorbei und bringen Sie bitte ein Foto mit.“
Ich legte auf und ging zurück ins Büro. Sylvie sah bezaubernd aus. Sie saß mit einem Bein angewinkelt auf meinem Schreibtisch und das gedimmte Licht ließ ihr blondes Haar schimmern.
„Ein neuer Auftrag, Hank?“
„Ihr Mann ist seit zwei Tagen nicht nach Hause gekommen, sie..?
„Lass mich raten, sie hat die Bullen angerufen aber die wollten nichts machen, stimmt´s?“
Sie stand auf und drehte sich zu mir um, hob ihr Glas und prostete mir zu.
„Hank, ich wollte dich nicht kränken aber ich musste es dir einfach sagen. Seitdem ich fast gestorben wäre hatten wir kein Wort mehr darüber gesprochen und ich wollte einfach nur, dass zwischen uns..“
„Alles Okay, Sylvie. Es war mein Fehler und ich verzeihe dir.“
Wir stießen an und tranken in einem Zug aus.
„Also gut, Misses Schneider kommt mor…“
„Alles in Ordnung, Hank?“
„Nein, ich, mir ist so…“
Mir wurde schlecht und schwindlig, ein stechender Schmerz durchzog meine Gedärme und verbreitete sich im ganzen Körper. Ich fing an zu schwitzen und hielt mich an der Kante des Schreibtisches fest. Ich konnte mich nicht bewegen und meine Arme und Beine begannen langsam taub zu werden.
„Was ist denn Hank, geht es dir nicht gut?“
„Sylvie, ich…ruf den Notarzt!“
„Wirklich Hank, ich soll den Notarzt rufen? Ich weiß nicht, vielleicht bleib ich auch einfach hier sitzen und sehe dir zu wie du abkratzt, wie wär´s damit, sag doch was.“
„Sylvie, BITTE“
„NEIN HANK! DU BIST EIN MIESES STÜCK SCHEISSE UND HAST DEN TOD VERDIENT, VERRECKEN SOLLST DU, DU MISTKERL, VERRECKE!“
Ich versuchte mich mit letzter Kraft aus dem Sessel zu stemmen aber ich fühlte keinen Muskel mehr in den Beinen und fiel zu Boden.
Ich vernahm ein unregelmäßiges, dumpfes Vibrieren, das all meine Aufmerksamkeit forderte.
„Hey Hank, aufwachen, wach auf, du alter Mistkerl! Da hast du mal wieder verdammtes Glück gehabt, wie immer, was?“
Ich öffnete langsam meine Augen.
„John?“
„Natürlich John, erkennst du meine Stimme denn nicht? Enttäusch mich nicht Hank, wie lange kennen wir uns schon, wie oft kamst du halbtot hier an und ich hab dich wieder zusammengeflickt?!“
„Was ist passiert?“
„Gift, du wurdest vergiftet Hank. Schwere Intoxikation. Wir mussten dir deinen verdammten Magen auspumpen. Aber du hattest Glück, ein bisschen mehr und du wärst diesmal wirklich gestorben.“
„Sylvie.“
„Nein Hank, Sylvie ist nicht hier, Misses Schneider hat dich gefunden und den Notarzt gerufen. Sie sagte sie sei an dem Abend, an dem sie bei dir angerufen hatte, noch vorbeigekommen.“
„Misses Schneider? Wo ist Sylvie?“
„Ruh dich aus Hank, es wird sich alles aufklären, bestimmt.“
 


 

Hank: Dieter Radke
Sylvie: Lisa Neher

Regie: Lukas Münich
Schnitt: Andreas Weber

Juliane Kling: Der Film noir

Mord und Gesetzlosigkeit, Schatten und Verlorenheit. Fern vom Licht, zwischen Nebel, Dunst und Finsternis, ragt der Höllenschlund der Großstadt. Dort im Regen treffen sie sich, die Figuren aus dem Film noir, finden sich wieder in diesen dunkelsten Ecken der menschlichen Existenz, wo sie schließlich doch nichts anderes erwartet als Verderben.
Film noir, der „schwarze Film“, was ist das für ein Genre, das – wenn man es überhaupt so nennen kann – die Filmgeschichte seit Jahrzehnten durchzieht und einige der bemerkenswertesten Werke der internationalen Filmkultur hervorgebracht hat?
Mit dem Ausdruck Film noir wird im Wesentlichen ein stilistisches Phänomen des amerikanischen Films der 40er und 50er Jahre benannt. Eingeführt wurde der Begriff 1946 durch die französische Rezeption der düsteren amerikanischen Kriminalfilme aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Großteil der klassischen Film noirs – angefangen mit John Hustons Die Spur des Falken von 1941 – sind Thriller, Detektiv- oder Gangsterfilme, wobei genreübergreifende Definitionen auch Western, Horrorfilme und Melodramen einschließen. In diesem Fall lässt sich der Film noir weniger als zeitlich begrenzte Bewegung begreifen, sondern eher als Sammelbezeichnung für alle Filme, die sich der Gestaltungsmittel und Motive des Film noirs bedienen, wodurch sich das Phänomen von den 30er Jahren bis in die Gegenwart ausdehnt.
Die frühen Werke des Film noirs stammen aus einer Zeit der politischen Instabilität. Die Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs und die latente Bedrohung des Kalten Krieges erzeugen eine bedrückende Atmosphäre der Trauer, Wut und des Zynismus. Viele Figuren des traditionellen Film noirs wie etwa Murder, My Sweet oder Double Indemnity (beide 1944) verkörpern die kollektive Identitätskrise einer Gesellschaft, die bis in ihre Grundfesten erschüttert ist: Da ist der desillusionierte Ermittler, dessen eigenwillige Methoden sich oft selbst am Rande der Kriminalität bewegen. Oder die mysteriöse Femme fatale, die ihm als schicksalhafte Bedrohung zur Seite gestellt wird.
Ganz egal, ob man den Film noir als Genre, Bewegung oder Stilrichtung betrachtet, der Katalog seiner ästhetischen und narrativen Merkmale bleibt stets der gleiche. Nebelverhangene Städte, dunkle Spelunken und regennasse Straßen gepaart mit einem über allem schwebenden, beklemmenden Pessimismus prägen die Bildwelten des Film noirs. Wortkarge, verbitterte Charaktere winden sich durch labyrinthische Erzählmuster mit zahlreichen Rückblenden. Unterstützt wird die komplexe zeitliche Ordnung durch das Voice-over des Protagonisten, dessen Blick auf die Welt häufig durch eine subjektive Kamera vermittelt wird. Starke Hell- Dunkel-Kontraste und auffällige Schattenspiele komplettieren den visuellen Stil der Film noirs. Die Handlungen kreisen um Gewalt, Korruption und Verrat, wobei weniger die Aufklärung der jeweiligen Verbrechen, sondern vielmehr die einzelnen Figuren im Mittelpunkt stehen. Es sind ihre moralischen Zwickmühlen, ihre existenziellen Krisen und kaputten Beziehungen, die die eigentlichen Themen des Film noirs begründen. Seine düsteren Geschichten brachen mit den Erzählkonventionen des klassischen Hollywoodkinos und entwickelten sich über die Jahrzehnte hinweg zu einem Kulturphänomen, das neben seiner ganz speziellen Ästhetik vor allem eine Weltanschauung markiert. Der Nihilismus und Zynismus des Film noirs bilden die Quintessenz einer Bewegung, die den Filmmarkt bis heute durchdringt. Nach Prototypen wie Laura, Dark Passage oder Der dritte Mann signalisiert Orson Wells Im Zeichen des Bösen von 1958 daher längst nicht das Ende des Film noirs. Seine gebrochenen Charaktere und Verfahrensweisen leben weiter in Filmen wie Taxi Driver, Blue Velvet und Sieben, sie begegnen uns erneut in Blade Runner, Sin City oder The Dark Knight.
Film noir – das impliziert unabwendbar Stil und Stimmung, aber zuallererst eine besondere Sichtweise auf die Welt, eine pessimistische, zynische oder nihilistische Sichtweise,“ schreibt Norbert Grob in seinem Standartwerk Filmgenres – Film noir aus dem Reclam Verlag von 2008. Die Weltsicht, von der er spricht, ist kein Genre, sondern ein Ausdruck. Ein Ausdruck, der über die Leinwand hinaus nachwirkt und den Film noir zu einer Erfahrung macht, die so vielschichtig und rätselhaft ist wie er selbst.
 
Literaturquellen zum Noir-Text:

  • Grob, Norbert (Hrsg.): Film Genres – Film Noir. Reclam Verlag 2008.
  • Koebner, Thomas (Hrsg.): Reclams Sachlexikon des Films. Reclam Verlag 2011.

Theobald O.J. Fuchs: Noisette

Noisette mochte ich ehrlich gesagt noch nie. Wozu man Schokolade mit Nüssen streckt leuchtet mir überhaupt nicht ein. Das muss so ein Nachkriegseffekt sein, als man Sägespäne ins Brot und Eicheln in den Kaffee mischte. Als ob es heute noch bei der Hofpfisterei ein Brot namens »Dreispan-Gesundheits-Holzbrot« gäbe. Oder beim ebl »Kaffichel – die Köstlichkeit aus dem Thüringer Wald nach Großmutters Original-Rezept«. Nutella geht ja schon gar nicht, wegen Anbaugebieten und Regenwaldabholzung. Dann maximal Nusspli, aber echt nur in höchster Not, wenn man kurz vorm Koma im Unter-Kakao steckt. Aber auch das nicht wirklich. Ausnahme: Nougat-Schokolade. Die mag ich manchmal sogar. Besser freilich in Form von Pralinés, da würde ich die nicht von der Tischkante schubsen. Aber Noisette – ne, das ist einfach nur doof. Das ist wie Bier ohne Alkohol, das ist Früchtetee und Ersatzkäse, das ist eklig. In echter Schokolade, in einer mit Brusthaaren, da sind keine Nüsse drin, da ist Kakao drin, so viel Kakao wie möglich, am besten 100% Kakao und sonst nix, und die Tafel ist schwarz wie die Nacht. Sonst würden die Cieneasten ja auch von »Film-Noisette« sprechen und nicht von … o, scheiße. Noir. Noir war das Thema gewesen und nicht Noisette. Mist. Verwechsel ich ständig: Noisette, Noir. Zu spät jetzt, oder …?

Mareike Schildbach: Noir

Warte! Ich wollt dich noch was fragen, weil ich es sonst fast vergessen hätte.
Und das ist: Meine Lehrerin hat erzählt von diesen großen Dingen, diese dunklen Löcher im Himmel. Ja, schwarzes Loch, sag ich doch. Wollt dich nur testen. Und zwar, ich wollte dich fragen, stimmt das? Gibt es die wirklich? Hast du schon mal eins gesehen? Meine Lehrerin hat gesagt, die schicken jetzt eine Kamera rein und schauen die an. Was glaubst du was da drin ist?
Oha. Wer reingeht wird wie ne Spaghetti und stirbt? Ihh, das ist ja größerlich, ist das sicher? Aber was ist mit einer Kamera, die kann doch nicht sterben, oder? Also ich glaube daran.
Ah warte, warte hier! Lach nicht, versprich mir das. Du schaust schon wieder so. Ich hab eine Idee. Bei uns ist es ja so, wenn man stirbt und hat genug Hasanat, kommt man in den Himmel und man kann sich was wünschen. Ich wünsch mir dann, dass ich in diese Löcher reinsteigen und mir das anschauen kann. Dann kann ich ja eh nicht mehr sterben. Und dann besuche ich dich im Traum und erzähl dir, was in den schwarzen Löchern ist. Das ist mein Plan.
Tqbirni? Du willst mich nicht begraben? Ich dich auch nicht, vergiss es. Nein, ich hab eine bessere Idee. Ich weiß, du glaubst nicht an Gott und so. Aber das ist kein Problem, wenn ich das mit dem Himmel schaffe, frag ich einfach Allah ob du auch kommen kannst. Und wenn wir beide tot sind, besuchen wir einfach zusammen diese Löcher, ok? Das wird voll lustig, ja. Ok, Plan.
Warte, habibi, geh nicht. Der Tag wird noch so lang und ich hab noch so viele Fragen. Ich wollt dich nämlich noch was fragen –

Angela Aux: Club im Dunst

Der Himmel in Oberhausen war mit Wolken verhangen. Ein paar Vögel schossen über die niedrigen Häuser und verschwanden hinter den Feldern. Es war kurz vor halb vier. Sein Termin würde erst in knapp einer Stunde stattfinden und gegen seine Gewohnheit war er überpünktlich. Diese Abweichung seiner Gewohnheit konnte er sich nicht erklären und vermutete dahinter schicksalshafte Fügung. Aus irgendeinem Grund sollte er früher an der ausgemachten Adresse sein. Es würde sich zeigen warum.
Er ging die Straße hinunter und wunderte sich über die seltsamen Lichtverhältnisse. Es wirkte als würde sich der Tag schon verabschieden. Nichts warf einen Schatten. Alles lag wie unter Plastik verpackt, matt glänzend und seltsam entfernt. Von oben drückten die Wolken auf die Welt. Sogar die Bäume bogen sich leicht unter ihrem Gewicht.
Obwohl er sein Hemd bis zum Brustbein aufgeknöpft war ihm zu heiß. Auf seiner Oberlippe sammelte sich Schweiß / sammelten sich Schweißperlen. Er wischte sie mit dem Handrücken aus dem Gesicht. Im Augenwinkel sah er eine Frau von ihrem Fenster zurückweichen. Ein Mann auf der anderen Straßenseite betrat den Teer und das Gartentor quietschte hymnisch dazu. Er wurde den Gedanken nicht los, dass man ihn schon jetzt beobachtete. Exakt als dieser Gedanke sich in den unendlichen Schlund seines Unterbewusstseins verabschiedete, grüßte ihn der Mann.
Es war sein erstes Treffen mit Vertretern der Gesellschaft der Universellen Automaten und es passte überhaupt nicht zum Friedensfest, dem Grund seines Aufenthalts in Augsburg-Oberhausen. Gleichzeitig passte es natürlich sehr gut. Frieden war als Prinzip auch für Maschinen essentiell. Genügend Strom und Zugang zu Replikations-Ressourcen zu haben war im Grunde das Pendant zu Essen und medizinischer Versorgung bei Menschen. Er hatte viel über den Club gelesen und war gleichermaßen angezogen und abgestoßen. Dass er sich bereits zu Gesprächen einer Chip-Implantation unterziehen musste, hatte ihn lange davon abgehalten Kontakt aufzunehmen. Aber als er von seiner Krankenkasse ein Angebot zur kostenlosen Chip-Installation für die bessere Überwachung seiner Nieren erhielt, dachte er zuerst an den Club der Automaten. Für sie war also schon Normalität was im Begriff war alle Menschen zu ereilen. Oder zumindest die meisten.
“Herr gib mir eine Arbeit damit ich nicht zu viel über mich nachdenken muss.” dachte er und musste schmunzeln über sich. Dann öffnete sich die Tür. Ein ruhiger Mensch in einer Art Kaftan begrüßte ihn. Während sie durch einen langen dunklen Gang schritten überlegte er ob der Mann silberne Pupillen hatte. Dieses Bild hielt sich hartnäckig vor seinem geistigen Auge. Es war keine besondere Sensation, eher ein Hinweis darauf, dass er einer der Versuchspersonen für integrierte Video-Membranen war. Davon hatte die Computer-Stimme im Vorgespräch beiläufig erzählt. So beiläufig wie Algorithmen eben erzählen können.
Die Implantation lief schnell und angenehm. Eine Stelle am Handgelenk wurde kurz betäubt, dann eine Art Lösung injiziert. Er fühlte die Flüssigkeit kühl in seinen Körper eindringen. Die Haarwurzeln an seinen Oberarmen stellten sich leicht und unmerklich auf. Eine kurze Zeit geschah nichts. Er erinnerte sich an die Drogen-Experimente während seiner Studentenzeit. Unmittelbar nach der Eingabe befand man sich in einem besonderen Zwischenstadium, einem kurzen zeitlichen Korridor. Man saß schon im Zug, die Türen waren geschlossen aber die Abfahrt verzögerte sich noch ein paar Sekunden. Ohne es zu bemerken versank er in diesem Gedanken. Draußen vor dem Fenster hing eine einzelne Wolke am Himmel. Dann stand die Ärztin auf und klopfte sich auf die Oberschenkel, als hätte ihre Arbeit feinen Staub produziert den sie jetzt wieder loswerden müsste.
“Wars das?” hörte er sich erstaunt fragen. “Ja. Oder hätten sie lieber dass wir ihnen eine Platine einsetzen?” Die Ärztin lachte. “Die Chips bestehen aus neutraler Biomasse und verfügen über eine Art Frequenz-Schnittstelle. Sie können das theoretisch nicht spüren, weil sich die Biomasse mit ihrer körpereigenen Zellkultur assimiliert”
“Verstehe. Was meinen sie dann mit “theoretisch nicht spüren”?”
“Ich denke wir wissen und spüren viel mehr als unsere Persönlichkeit wahrnimmt. Aber uns fehlt der Zugriff auf diese Information. Das Ich ist in erster Linie ein Verdrängungs-Modus. Wir sind wer wir sind je nachdem was und wie viel an vorliegender Information wir verdrängen”
“Interessant” sagte ich, hatte aber im Prinzip nichts davon verstanden. Ich machte kleine Augen weil mich das helle Licht schmerzte. Mein Hirn flackerte und die Ohren rauschten wie ein Ozean aus Glasscherben.
Ich konnte mich den ganzen Tag schon nicht wirklich konzentrieren. Jetzt ließ mein Körper mich also auch im Stich. Mein Hemd klebte schwer an der Brust. Die letzte Nacht zeigte immer deutlichere Nachwirkungen. Ich war seit langer Zeit wieder einmal abhanden gekommen. Der gefährliche Kreisel hatte mich verschlungen bevor ich merkte was geschah. So attraktiv die Mischung aus Kiff und Speed ist, so erbärmlich sind die Tage danach. Aber womöglich würde ich ohne diesen Absturz nicht hier sitzen, sondern in einem Reisebüro. Oder bei meinem Bankberater. Selten ein Schaden ohne einen Nutzen dabei sagt man. Zurecht.
Die Ärztin führte mich den dunklen Gang zurück. Zwei Personen schlichen leicht gebückt an uns vorbei. Auf Höhe der Ohren leuchtete ein rötlicher Punkt. Mit ihnen näherte sich auch ein leises Fiepen, das kurz lauter wurde als die beiden mich passierten. Bevor ich darüber weiter nachdenken konnte, erreichten wir am Ende des Gangs einen Aufzug. Die Ärztin drückte leicht in meine Seite und ich gab nach.
“In welchen Stock fahren wir?” fragte ich und spekulierte darauf ein bisschen mehr Information als nur die Antwort auf meine Frage zu erhalten.
“Das entscheidet das hohe Kommittee. Ich denke aber in den vierten Stock. Sie scheinen keine Abwehrreaktion zu zeigen und verhalten sich ruhig und vernünftig.”
Branner lächelte milde aber hinter seiner Stirn erhob sich ein Orkan. Er hatte gewissermaßen bekommen was er wollte. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass sein Anfangsverdacht ihn manipulierbar machte. Im Grunde war die Liste seiner Indizien längst ausreichend um sich unter einem Vorwand zu verabschieden. Er würde seine heutigen Erfahrungen noch in der Akte ergänzen und sie an die Cunha übergeben. Für die gefährlichen Parts war seine körperliche Verfassung zu unbeständig.
“Die Entscheidung scheint dem Kommittee nicht so leicht zu fallen wie ich dachte. Vielleicht sollten wir doch die Treppe nehmen.”
Branner sah der Ärztin ernst in die Augen. Nach einigen Momenten wichen ihre Pupille aus. Als sie Branners Augen wieder trafen hingen ihre Mundwinkel leicht vor Scham. Die Ärztin versprühte auf einen Schlag eine kindliche Nervosität die ihr der Privatdetektiv nicht zugetraut hätte. Er musste sich konzentrieren sich davon nicht anstecken zu lassen. Die Ärztin wusste entweder viel weniger als er noch vor ein paar Sekunden vermutet hatte. Oder sie war eine außergewöhnlich gute Schauspielerin.
“Es tut mir leid aber ich denke dafür bin ich heute schon zu müde. Ich würde lieber gerne wieder ins Erdgeschoss fahren und…” In diesem Moment schloss die Aufzugtür. Branner ließ den Satz halbfertig im Raum stehen. Er hatte Mühe nicht zu schmunzeln. Er war noch nie gut darin Situationen zu entschärfen, aber schon immer ein sehr guter Brandbeschleuniger für alle Arten von menschlichen Empfindungen. Ein umsichtiger Freund nannte ihn scherzhaft “den Auto-Polarisierer”. Wohlwissend dass er die Wahrheit hinter der flapsigen Formulierung zuweilen selbst zu spüren bekam. Mitunter vermochte Branner Menschen mit wenigen Worten in todesangst-ähnliche Zustände zu versetzen. Andere katapultierte er ähnlich schnell in Rage: Lehrer, Polizisten und Controller waren ihm grundsätzlich nicht geheuer. Aber er verstand sie gut genug um ihre emotionale Klaviatur zu spielen. Leider nur in eine Richtung.
“Geduld ist bitter aber ihre Früchte sind süß.” höre ich jemanden sagen aber weiß nicht woher die Stimme kommt. Meine Arme hängen vom Körper in die Dunkelheit. In der Luft liegt ein seltsamer Geruch. Jemand räuspert sich.
“Herr Branner… was glauben sie, wo haben wir uns das letzte Mal gesehen?” Branners Hirn durchzuckt eine Welle aus schauriger Ekstase. Diese Stimme ist ihm bestens bekannt. Warum genau weiß er noch nicht.
“Ich denke in Frankfurt” antwortet Branner um Zeit zu gewinnen. Er hat so lange in Frankfurt gearbeitet, da ist die Wahrscheinlichkeit hoch dass man sich in dieser Stadt mal begegnet ist.
“Bingo Branner. Warum stecken sie ihre Nase immer in Sachen die sie nicht verstehen?”
“Schwer zu sagen. Aus Versehen?” “Vielleicht. Oder sie haben zu viele billige Detektivromane gelesen”. Die Stimme wird energischer. Branner hat das Gefühl sich zu bewegen ohne selbst dafür verantwortlich zu sein. Er fühlt sich immer senkrechter und überlegt was das bedeuten könnte.
“Wie zur Hölle konnten sie eigentlich so blöd sein sich diesen Chip implantieren zu lassen? Was dümmeres hab ich echt seit langem nicht gehört! Ist ihnen klar was das bedeutet?”
“Ehrlicherweise nicht. Aber ich hatte lange genug Angst vor diesem ganzen Mist… ich wollte einfach mal drauf zugehen. Einfach eine Art Innenansicht bekommen, einfach ausprobieren.”
Wenn er sich so reden hörte konnte Branner selbst nicht fassen was er getan hatte. War er wirklich ins Haus dieser Robocop-Sekte spaziert und hatte sich irgendetwas implantieren lassen von dem er nicht mal wusste was es war? Was hatte die Ärztin gesagt welches Material sie ihm injizierte? Und wie hieß sie eigentlich noch mal? “Naja sie können jedenfalls froh sein, dass wir endlich eine Kopie ihres Bewusstseins sichern konnten. Die Server-Matrix der Universellen Automaten ist so etwas wie die chinesische Mauer auf Datenbasis.” Branner hatte das Gefühl mit den Wimpern zu zucken. “Das klingt ja mächtig futuristisch. Sie wollen damit sagen ich bin eine Kopie von mir selbst?”
“Sie denken und kommunizieren auf der Basis einer Kopie ihres Bewusstseins. Aber wir wissen nicht wann sie das letzte Mal gespeichert wurden. Möglich, dass sie ein altes Update von sich selbst sind.”
“Wie alt bin ich denn ihrer Meinung nach?” “Naja. Allein das hochfahren hat eine Woche gedauert.” “Verstehe. Sie wollen mir also weiß machen, dass ich verschwunden bin und sie dann eine Kopie meines Bewusstseins aus irgendeiner Datenbank kopiert haben. Und diese Kopie haben sie jetzt irgendwie zum laufen gebracht und seitdem denke ich, dass ich ich bin.
“Korrekt. Ihr Körper ist immer noch verschollen. So richtig viel Hoffnung kann ich ihnen da auch nicht machen. Der einzige Grund warum wir miteinander sprechen können ist, weil das Institut für Inneres herausfinden möchte ob sie Kontakt zu ihrem Stammbewusstsein entwickeln können. Dafür ist meine Abteilung zuständig.”
“Wie heißt ihre Abteilung denn?” “CX3” “Verstehe. Und wie lange soll das ganze dauern?” Branner wunderte sich selbst über die Frage. Der ominöse Gegenüber hatte darauf keine schnelle Antwort. Um Zeit zu gewinnen legte Branner gleich noch eine Frage nach.
“Wie lang liegt mein Verschwinden denn zurück?” “Das Verschwinden ihres Stamm-Körpers ist meines Wissens auf den fünften August 2018 datiert. Heute haben wir den vierten September 2037 nach alter Zeitrechnung. Nach meinem Kalender leben wir im Jahre Vier nach der Singularität.”
In Branner flammte Interesse auf. Diese Geschichte war so absurd, dass er sie nicht ernst nehmen konnte. Auch wenn er selbst offensichtlich im Zentrum dieser Absurdität stand. Er spürte keine Emotionen, obwohl ihm jeder Satz eine halbe Welt unter den Füßen ins Nichts riss. Offensichtlich war die Welt aus der er kam untergegangen. Inklusive der Zeitrechnung an sich. Er fand aber nicht unspannend, dass diese neue Zeit offensichtlich nicht mehr auf einen Religionsstifter, sondern auf eine bahnbrechende technologische Entwicklung zurückzuführen war. Beim Gedanken an die Macht dieser Bewegung, die offensichtlich die Vorherrschaft der Religion besiegte zuckte eine Augenbraue. Zumindest fühlte es sich so an.
“Ich muss zugeben, dass ich ihre Geschichte sehr spannend finde. Was ich aber fast am spannendsten finde ist, dass ich ihnen aus irgendeinem Grund vertraue. Bei welcher Gelegenheit haben wir uns denn damals in Frankfurt getroffen?”
“Wir haben uns nie in Frankfurt getroffen. Aber ich kommuniziere mit der Stimme ihres Großvaters.”
“Ist das ihr Ernst?” “Herr Branner, ein Bewusstsein ist keine Blackbox. Wir können auf alles zugreifen was sie jemals sahen oder hörten oder waren oder glaubten zu sein. Aber die wirklichen Schätze liegen noch verborgen. Sie liegen in der Art wie ihr Bewusstsein Daten ausblendet. Im Grunde bestehen sie eher aus der Information die sie verdrängen als aus der Information die sie aufnehmen.”
Mir ist eindeutig die Abenteuerlust vergangen. Ein trostloseres Szenario kann ich mir schwer vorstellen. Ich fühle mich wie diese Person in 1984, deren Gesicht mit dem Rattenkäfig verbunden ist. Mit dem Unterschied, dass die Ratten schon in meinem Kopf sind und meine Erinnerungen fressen.
“Herr gib mir eine Arbeit, damit ich nicht so viel über mich nachdenken muss” spricht eine Stimme in mir und ich lausche. Irgendetwas bewegt der Satz aber ich kann nicht genau sagen was.
“Kennen sie diese Stimme Branner?” “Natürlich, es ist meine eigene oder?”
Die Stimme schweigt. Branner schließt die Augen. Vor ihm erscheint eine Art Bildschirm. Auf dem Bildschirm sieht man Branner in der Tür des Clubs der Universellen Automaten stehen. Er zündet sich eine Zigarette an und spricht leise mit sich selbst.
“Frieden” sagt er “ist keine Sache einer Gruppe von Menschen. Von Frieden kann man nur sprechen, wenn er die gesamte menschliche Zivilisation betrifft. Er ist ein intersoziales System das sich als solches andauernd weiter entwickeln muss. Eine Utopie die immerfort übersetzt werden muss. In alle Zeiten und Denkarten. Es gibt keine zeitlich abgeschlossene Form davon. Frieden gibt es nur als Prozess.”
Eine zweite Person erscheint neben Branner. Es ist die Ärztin. “Ich kann ihnen nicht widersprechen Herr Branner. Ich denke aber die Sprache der Mathematik durchzieht die physische Existenz klarer und exakter als die Kommunikation mit Wörtern. In gewisser Weise ist sie die nächste Dimension. Sie ist der Ort an den alles wandern wird und… was nicht in der Lage ist zu wandern, wird zurück bleiben müssen.”
Die Ärztin verbeugt sich leicht und verschwindet aus dem Blickfeld der Kamera. Branner blickt nach oben, vorbei an der verborgenen Kamera. In seinem Kopf herrscht plötzlich eine seltsame Art von Klarheit, als hätte ihm das Gespräch mit der Ärztin seine Gedanken gewaschen. Er zittert leicht und kann sich nicht erklären weshalb. Tief in ihm bewegt sich ein Gedanke, erhebt sich ein Satz, eine monumentale Botschaft.
“Du hattest zeitlebens nur vor zwei Dingen Angst Branner: Vor Gott und vor der Mathematik. Vielleicht ist die eine Sache aber nur die Rückseite der anderen.”
Es beginnt zu regnen. Man sieht Branner noch einen Moment unter der Schwere dieser Erkenntnis stehen. Dann spuckt er in die Hecke neben der Tür und geht seines Wegs durch den Dunst.


 

Erzähler/Branner: Lukas Ullinger
Singularität/Großvater: Karlheinz Zuber
Ärztin: Mena Standhaft

Regie & Schnitt: Lukas Münich

Musik: Lauki – Gea

Immanuel Reinschlüssel: Stundendiebe

Wir können beide nicht alleine sein, haben es versucht.
Aber wir haben zu viele Messer in der Schublade, um uns etwas kochen zu können, haben zu viele Flaschen im Kühlschrank, um Musik zu hören, haben einen Föhn zu viel, um ein Bad zu nehmen und einen zu großen Berg an Tabletten angesammelt, um uns ins Bett zu legen.
Doch wir können auch nicht unter Menschen, weil uns jedes Wort weh tut, wir unsere Kiefer zu jeder Silbe zwingen müssen, um am Ende doch vor dem Nichts eines Gesprächs zu stehen, das wir so schon viel zu oft geführt haben – mit unterschiedlichen Menschen oder mit denselben, wer weiß das schon?
Und deswegen haben wir uns gesucht, stapfen durch den knisternden Schnee und genießen die Geräusche, die er nicht mehr gehen lässt und in sich aufsaugt wie ein gieriger Säugling. Wir müssen gehen, immer weiter gehen, von Bank zu Bank, von Zigarette zu Zigarette, von Bar zu Bar durch die Nacht, die unser einziger Verbündeter ist und manchmal doch unsere größte Sorge.
„Ich habe verlernt, alleine zu sein“, du sprichst aus, was wir beide denken und ich antworte dir nicht, weil es keine Antwort gibt und diese die einzig Richtige ist.
„Ich konnte das mal wirklich gut, stunden- und tagelang, einfach alleine sein.“ Und auch darauf bleibe ich stumm und spüre an deinem gleichmäßigen Atem neben mir und den wintertanzenden Rauchwolken, die sich zwischen uns vereinen, dass du Nichts anderes erwartet hast.
Die nächste Bar, der nächste Tresen, ein eingespieltes Team, obwohl wir keine Übung haben, keine Generalprobe abhielten, keine gemeinsame Vergangenheit in diesen Dingen des Lebens kannten. Doch wir sind eine Einheit, bestellen routiniert wie ein Zwillingspaar die Drinks, die uns näher an den Morgen bringen, die uns dem nächsten Tag einen Schritt entgegenstoßen, ohne uns eines Blickes zu würdigen.
Wodka, braune Flaschen, eine Gurke in deinem Gin-Tonic, für einen Moment treffen sich unsere Gläser, für einen Herzschlag unsere Augen, für eine Nacht pulsieren unsere Herzen in perfekter Harmonie, ohne von sich zu lassen, ohne von sich lassen zu können, weil die Loslösung das Ende bedeutete.
Blicke ruhen auf unseren Schultern, die meisten auf deinen schmalen, weißen, die eindringlichsten auf meinen, von der südlichen Sonne eines fremden Kontinents braungetränkten Schultern und wir spüren ihre Fragen auf unserer Haut, hören ihre unausgesprochene Sehnsucht in unseren Ohren, fühlen ihr Verlangen auf unseren Seelen, die viel zu alt sind für unsere jungen Körper.
„Wenn ich aufs Klo gehe, werden alle Frauen einen Schritt näher kommen und sich doch nicht trauen, etwas zu sagen.“ Deine Worte zaubern ein Lächeln auf meine Lippen.
„Und wenn ich aufs Klo gehe, werden alle Männer über dich herfallen wie die Schakale und doch wissen, dass ihr Krieg bereits verloren ist.“
„Dann müssen wir wohl zusammen bleiben, bis die Sonne uns trennt.“ Einer dieser Sätze, für die man dich küssen müsste.
Doch ich küsse dich nicht, werde es nie tun und du wirst es nie tun, eine unsichtbare Barriere – von  der Vergangenheit gezogen und unserer letzten Hoffnung auf die Zukunft konserviert.
Ihre Blicke schieben uns zurück auf die Straße, ein Griff in die Tasche, zwei Zigaretten und ein Feuerzeug, ich lege beide in meinen Mundwinkel und zünde sie zeitgleich an, reiche eine an dich weiter – auch ein neu entdecktes Ritual, so selbstverständlich wie das Atmen und einst auch die Liebe, bevor wir ihr den Rücken zuwandten, jeder auf seine eigene Weise. Der Dezember dringt durch unsere Reißverschlüsse, möchte unsere Haut erreichen, doch wir verscheuchen ihn mit unserem Rauch, blasen ihm unsere Verachtung entgegen, eine Verachtung, die ihm und jedem anderen Monat und jedem anderen Jahr gilt, das noch kommen mag. Zwei Zigaretten lösen sich von zwei Händen, segeln glitzernd durch die Dunkelheit wie ein Neujahrsfeuerwerk, schlagen auf dem Asphalt auf wie Meteoriten und zerstäuben doch mit einem kaum wahrnehmbaren Zischen und nicht dem Knall, den sie verdient hätten.
Ein neuer Tresen, neue Menschen, manche altbekannt, manche fremd wie die Sahara. Sie umringen uns, sprechen plötzlich auf uns ein und wir umarmen sie, trinken mit ihnen, lachen mit ihnen – und doch merken sie nicht, dass wir zu laut sind, zu lustig, zu schnell, in einem eigenen Tempo leben, uns einen Kokon teilen, in dem nur wir Platz haben und der mit dem ersten Sonnenstrahl platzen wird wie eine Seifenblase.
Doch bevor wir zurück müssen in unsere beendeten Leben werden wir rauchen, werden wir trinken, werden wir uns in den Armen liegen und die Gedanken des anderen aussprechen, werden wir tanzen als wäre es die letzte Nacht auf Erden, werden wir uns gegenseitig die Burger-Soße von den Wangen streichen, werden wir uns in der U-Bahn aneinander kuscheln und uns nicht mehr trennen wollen, im Wunsch vereint für immer auf den Plastiksitzen durch den dunklen Tunnel zu brausen.
Und doch wir trennen uns irgendwann, müssen uns trennen, müssen die Seifenblase zum Platzen bringen, müssen zurück in unsere getrennten Leben.
Aber bis dahin kämpfen wir ein letztes Mal, auch wenn wir verlieren.
Und wer weiß, vielleicht sind wir genau dafür geboren.


 

SprecherInnen:
Lukas Münich, Selina Früchtl

Christine Wiesel: Auflösung in der Nacht

Kontaktlos verbringen wir die Zeit
Raum bleibt molekularlos
Galaktische Körper schwirren umher.
Blockaden im Kopf
das Herz im Asphalt
wird wortlos umverteilt


Sprecherin: Selina Früchtl