Lisa Neher: Life is a rollercoaster

In der Popmusik der Neuzeit werden Leben und Liebe oft mit Abenteuerspielplatz verglichen. Schon Ronan Keating wusste: „Life is a Rollercoaster you just gotta ride it.“ Oder Kimya Dawson singt: „My Rollercoaster’s got the biggest ups and downs – as long as we keep moving it is unbelievable“. Sie sind allgegenwärtig, die Ups, die Downs – aber manchmal fühlt sich das ganze weniger wie eine gaudigen Achterbahn an, sondern vielmehr nach „Riding Solo“. Nach schäbigem Geräteturnen. Betrachten wir als Beispiel mal eine Wippe. Schon mal jemanden beobachtet, der einsam auf einem dieser frustrierenden, nach Zweisamkeit schreienden Pärchengeräten saß? Lächerlich, wie das aussieht. Hilflos. Man könnte auch denken: Er oder sie will nur da sitzen. Die Wippe zweckentfremden, blockieren, damit kein Team der Welt dort Spaß haben kann. Ich stelle mir vor, auf so einem Spielplatz zu sein und beobachte mich selbst, wie ich auf dieser Wippe sitze – allein – und mal jammere, mal ganz zufrieden aussehe.
Das denke ich, wenn ich jammere: Toll, niemand ist da, der mit mir spielen will. Oder niemand ist da, mit dem ich spielen kann. Vorhin hat zwar Martin aus der 5a gefragt, aber der hat ein gebrochenes Bein, wie soll denn der wippen können? Ist doch viel zu gefährlich, soll er in drei Wochen wieder kommen, wenn sein juckender, stinkender Gips weg ist, er ihn sorgfältig in einen gläsernen Schrein verstaut hat und wenn man 50 Cent in ein Kästchen wirft, geht das Licht an. Dann sieht man all die Unterschriften darauf, die ihn bis an sein Lebtagsende daran erinnern werden, wie beliebt er in seiner Jugend war, so überhaupt nicht allein und Get Well Soon und HDL.
Das denke ich, wenn ich zufrieden aussehe: Ist das nicht schön, draußen in der Natur, die Gänseblümchen, die meine nackten Zehen kitzeln hahaha, die Sonne scheint und oh da fliegt eine Hummel, die erste dieses Sommers (und der ist noch nicht alt). Fliegt viel zu schwer für die Luft, die sie trägt, viel zu schwer, so wie ich für dieses Spielzeug auf dem ich sitze aber das macht mir gar nichts aus, denn das Milcheis in meiner Hand – das zwanzigste dieses Sommers (und der ist noch nicht alt) ist köstlich und eins will ich sowieso nicht und zwar: Wippen.
Denn vorausgesetzt da käme jetzt jemand an, ein Freund vielleicht und mit dem wippt man dann so durch die Gegend: Dieses ständige Aufschlagen auf verformtem Kautschuk – meist einem ausrangierten Autoreifen – der an der Unterseite des Wippensitzes befestigt ist, um die Stöße abzufedern. Autsch. Man spürt jeden einzelnen Aufprall in der Wirbelsäule. Die waren auch nie das, was sie mal hätten sein sollen, die Reifen. Früher war alles besser, als sie noch zu einem Auto gehörten, als Quartett an einer Karosserie und nicht einsam und halb im Boden versunken. Sie sind verantwortlich für den Schmerz, der mir vom Steißbein hoch bis ins Genick schießt, während mein Gesäß hart ummantelt wird von einer verkrusteten, ausgeblichenen roten Plastikschüssel, die obendrein noch viel zu klein ist für meinen weißen Milcheisarsch. Aber ich hätte jemanden zum Spielen.
Aber was, wenns doch kein Freund ist, der da kommt? Ich erzähle euch was dann passiert: An einem dieser Sommersonnennachmittage, an denen man sich versehentlich mit einem „gemeinen“ Kind eingelassen hat. Nichtsahnend und voller Vertrauen – nur das gemeine Kind, die Gravitation und ich – wippen wir so, dass unsere Sorgen gen Himmel katapultiert werden und STOPP Mitten in der Luft bleibe ich stehen. Werde stehen gelassen. „Haha!“ schreit das gemeine Kind. Es hat sich mit der Schwerkraft verbündet. Rien ne va plus, nichts geht mehr. Mit der Gummikappe seiner schmutzigen Converse-Sneakers hat es sich unter dem Gummireifen festgekrallt. Gummi zu Gummi, Staub zu Staub. Ich hänge in eineinhalb Metern Höhe und bin auf erstaunlich freie Art gefangen. Wer braucht schon Boden unter den Füßen? Ich kann die Welt von oben sehen und werde das noch eine ganze Weile können, denn gemeine Kinder sind geduldige Kinder. Ich hab jemanden
zum Spielen.
You’ve really got me flying tonight You almost got us punched in a fight But, baby you know The one thing I gotta know
We found love So don’t fight it Life is a rollercoaster Just gotta ride it

Felix Benjamin: Filme

In der vierten Klasse dreht sich alles nur noch um den Übertritt aufs Gümminasium. Mama sagt: „Mein Kind geht nicht auf die Hauptschule!“
Was passiert, wenn ich es nicht aufs Gümminasium schaffe?! Bin ich dann nicht mehr ihr Kind?! Das frag ich mich nachts im Bett, lieg deshalb lange wach und komme in der Schule noch schlechter mit.
Mama bringt mich jede Woche zur Frau Göllner. Das ist eine komische Frau, die will, dass ich meine Familienmitglieder als Tiere male und sich dazu Notizen macht.
Ich gehe trotzdem gern zu ihr, weil sie einen Abreißkalender hat, wo jeden Tag ein anderes Filmfoto drauf ist und auf der Rückseite immer eine Inhaltsangabe vom Film steht. 365 Blätter voll Action und Abenteuer. In diesem Kalender darf ich jede Woche schmökern.
Aber vorher muss ich mich immer eine Ewigkeit auf eine Matratze legen und die Augen zumachen. Frau Göllner sagt ständig: „Deine Arme werden schwer, ganz schwer…Deine Beine werden schwer, ganz schwer“ und so weiter.
Niemals, während ich da so liege, wird irgendwas schwer. Nur das Warten darauf, mir wieder den Kalender schnappen zu dürfen, ist schwer.
Ich liege mit geschlossenen Augen rum und male mir all die tollen Filme aus, die in dem Kalender drin sind, und all die noch tolleren Filme, die ich machen will, wenn ich groß bin.
Endlich darf ich die Augen wieder aufmachen, zu Frau Göllners Schreibtisch gehen und mir den Kalender anschauen, bis ich ihn schweren Herzens aus der Hand geben muss, weil Mama mich abholen kommt. Jede Woche das Gleiche.
In der letzten Sitzung schenkt mir Frau Göllner den Kalender. Den kenne ich zwar mittlerweile längst auswendig, nehme ihn mir aber jeden Abend zur Hand, wenn Mama aus meinem Zimmer geht und sagt, dass ich noch Autogenes Training machen soll. Ich wüsste ja jetzt, wie`s geht.
Mein Schlaf ist weiterhin scheiße, aber letztlich schaffe ich es aufs Gümminasium und darf Mamas Kind bleiben.

Ruben Trawally: Salat

Scheppernd flogen die Fensterläden des kleinen Nürnberger Bungalows, der Wind blies feurige Flöten, als bei dem Sturm auch noch die Familienkutsche abhob und krächzend auf Nachbars Trampolin landete.
Geläufig war einem dies Getöse ja nicht, und geheuer ebensowenig. Was für ein Spektakel – zumindest aus dem Wintergarten.
Am nächsten Morgen konnte sich die Nachbarschaft ein Wunder hoffen, denn sämtliche Wege waren aus Salat.
Es hat in der Nacht eben gestürmt und die Kohlfelder zuerst auf den Windpark, dann in den Hühnerhof, dann übers Möhrenfeld und dann noch etwa 3 Stunden in den Kreisverkehr geweht, womit sich ein durchaus angenehm duftender Teppich aus knackig triefendem Gemüsebrei auf dem Asphalt niederlegte.
Einen Tag später gingen die Schipparbeiten immer zäher voran, da viele Nagetiere aus allen Ländern sich zu kleinen Gangs zusammenrotteten und die Spatenstiele systematisch zerlegten. Andere Viecher suhlten sich in der gärenden Brühe die in den Niederungen der Stadt vor sich hin blubberte. Doch intensiver Sonnenschein wärmte die Sandsteinfassaden so gut an, womit sich ein Krautbierlikör zu entwickeln begann, welcher über die vielen Freiflächen natürlich gefiltert ins Grundwasser gelangen konnte.
Etwa 30 verschiedene Quellen kennt man nun im Reichswald, wo noch immer Krautbierwasser gezapft werden kann, da bei jedem Regen das Wasser, welches die Kohlköpfe benetzt, wieder frischen Geschmack mit in die Tiefen der natürlichen Krautbiersalatquelle nimmt.
Gemahlen zu einem Puder kann die Erde nun ins Müsli gemischt werden, um so auch einen Beitrag zur morgendlichen Fitness zu leisten. Sollten sie jedoch eher auf passive Fitness stehen, kann man genauso Kohl auf der Krautbierwassererde anbauen, welcher dann alkoholisch wird, doppelt so stark nach Kohl riecht, halb so stark danach schmeckt, doppelt so viele Kalorien hat, weniger kostet, besser aussieht und keine Nachteile hat.
Unsere Nachbarn (ich nenne keine genauen Namen) erquicken sich gerne an dem alkoholischen Saft der Erde, wieso nicht auch der Rest der Welt?
Bei einem richtig guten Salat, ist doch der Sud am Ende das Beste!
Salat gehört zu den gesündesten Errungenschaften der menschlichen Kultur, neben Joggen und Yoga.
Die Natur hat nicht immer nur Böses im Sinn wenn sie es Regnen lässt, sie will uns damit nur etwas Freude zurückgeben, die sie uns im gleichen Moment wieder nimmt.

Tibor Baumann: Volition – brennt hinter dem Rubikon

Er sagte: „nun“ Es gibt keine Entschuldigung. Ich erinnere mich gut, plastisch. Die Sonderausgabe wog schwer, limitiert, Fadenbindung. Es ist nur ein Schritt über den Fluss ohne Wiederkehr.
Wussten Sie: Es wird ein System entwickelt, um Autoren pro angefangener Seite zu bezahlen. Flatratelesen. Spannung ist die Motivation. Wie oft ein Spannungsmoment aufgebaut werden muss, wie viele Zeichen es braucht, bis der nächste Coitus Interruptus stattfinden muss, errechenbar. Dann schreibt man nur mit Ziel; Volition, klar so weit?
Mir war das nicht klar. Es tut mir so leid. Ich hatte schon immer Angst, dass ich einfach so – eines Tages – versuche sanft umzublättern, ein mir ganz kostbares, geliebtes Buch, eine Sonderausgabe; und ich bekomme einfach die Seite nicht zu fassen. Es geht einfach nicht. Und dann stehe ich auf, ganz ruhig. Stelle das Buch an seinen Platz, gehe hinaus – und zünde das Haus an.
Wussten Sie: zu verfassen kann sich an keinen Zweck binden außer der Tat. Klar soweit? Es ist nur ein Weg – nur Motivation; nie Volitation!
Und er…er sagte „nun“. Eine Phrase. Weniger! Eine Hülse; nur noch Betonung.
Ereignisse geschehen immer, wenn man sie liest. Aber verfasst man sie, ist es eine Tat: Ich hätte das nicht tun dürfen. „Nun“ – eine kalte Nadel durch weiche Membran. Mein Schritt über den Fluss.
Wussten Sie: für mein erstes Manuskript, haben sie mir angeboten, es zu beobachten. Das wilde Tier. Frei verfügbar auf einer Literaturplattform. Klar soweit? Klickklickklick – klickt es oft, dann ist es gut. Vielleicht druckwert. Neoliberalliteratur.
Er sagte „nun“ – und es klang beinahe antiquiert. Umblättern, zivilisiert, mit Ziel, kontrolliert: Das entglitt mir. Nur für einen kurzen Moment. Ich fühlte mich, als würde ich ganz plötzlich, ganz schnell meinen Kopf schütteln; so schnell, das ich nur noch ein Farbklecks bin – ohne, dass ich damit begonnen hätte. Ohne Anfang. Nur die Tat. Nur im Verfassen. Nur verfassen und suchen. Nur erfassen und die Ungreifbarkeit des Moments akzeptieren. Die Seite loslassen. Den Fluss ohne Umkehr übertreten.
Ich habe den Entwurf erklärt und er sagte: „Das klingt ja alles sehr spannend – wer ist denn nun die Zielgruppe?“
Ich habe das Buch genommen, bin zu ihm hinter den Schreibtisch – und habe ihm die Sonderausgabe so lange ins Gesicht geschlagen, bis die Treffer klangen wie Schritte im Matsch am Flussufer.
Es hat gebrannt und ich habe kein Wasser geschöpft um zu löschen.

Anja Gmeinwieser: Die Welt

In den Killerwalen sammelt sich die Welt. Ich meine das wörtlich, alles, alles was ist auf der Erde endet letztlich im Inneren eines Killerwales. Also, wirklich alles. Sie sind „Spitzenräuber“, ganz oben in der Nahrungspyramide, in der weltweiten Fressordnung, sie fressen Fische, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die Plankton und/oder Pflanzen fressen. Und wahrscheinlich fressen die Killerwale selbst auch ihrem Fressen das Fressen weg, fressen also auch selbst Plankton und die Fische, die Plankton fressen und die Fische, die diese Fische fressen, und die Fische, die diese Fische fressen und so weiter. In Killerwalen sammelt sich, ich sage das nochmal, ich sage das wiederholt, ich unterstreiche das: die Welt.
Deshalb können Killerwale sich nicht mehr fortpflanzen, weniger wegen dem Plankton oder den Fischen, sondern wegen den Giften in dem Plankton und in den Fischen, Dioxin, Weichmacher, Glyphosat, Erdöl.
Um über den Zustand der Welt im Bilde zu sein, blicken Sie mit mir in einen Killerwal, soeben gestrandet, unwiederbringlich, er ist von uns Menschen umringt, die es wissen, und er weiß es selbst. Ich gebe dem Wal einen letzten Kuss auf seine fischige Nasenfläche.
Er blickt uns mit traurig halbtoten Augen an, es sind ja auch halblebendige Augen, dies zur Steigerung der Laune, die angesichts sterbender Wale oft ins Melancholische driftet.
Skalpell!
Tupfer!
Nein im Ernst:
Kettensäge!
Der Bauch des Wales öffnet sich und wir blicken und finden: Klar, Blut, klar, Organe, klar, Magen, Leber, Milz, wie bei uns, nur größer. Und auch klar, darauf haben wir uns eingestellt, wegen der Nachrufe auf gestrandete Wale in den Medien: Wir finden, Plastikplanen, klar, Autoreifen, klar, Surfbretter, klar, Bagger, klar, Abrissbirnen, klar, Bügelbretter, klar, Kräne, klar.  CO2, klar, Angsthormone, klar, alte Geldscheine, klar, Gliedmaßen unserer Artgenossen, klar.
Und jetzt – q.e.d. – auch den Rest der Welt: Winzige Zeichen von – man könnte fast sagen, „Hoffnung“, aber das wäre so pathetisch wie übertrieben – also winzige Zeichen von Intaktheit, eine Flaschenpost,  die die Liebe zur Welt in verschwommener Tinte in den Wal hineingespült hat, eine Waldlichtung, mit Tautropfen im Gras und Himbeeren an ihrem Rand und tatsächlichem Wald außenherum, ein Bienenschwarm auch und natürlich ein Imker, und hier und da Neugründungen bisher unbekannter Ökosysteme, außerhalb eines Killerwales so nicht vorstellbar, Symbiosen aus Bobbycars, Rankgewächsen und Dachsen und insgesamt ganz neue Lebensformen, bisschen wie Axolotl, aber eben keine Axolotl, genau so, aber anders.
Steht und schaut und staunt.
Und ihr werdet denken, wir werden einen Gedanken denken, einen Kollektivgedanken, und er wird sein: Wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, und der letzte Fisch gefischt wurde, dann gibt es im inneren des letzten Killerwales immer noch den allerletzten Baum, den allerletzten Fluss und den allerletzten Fisch. Und erst, wenn der letzte Killerwal unfortgepflanzt versiecht ist, erst dann werden wir merken, dass die Welt kein Abflussrohr hat.
Vielleicht.
Das dauert aber noch.
Bestimmt bis 2050.
Mindestens.
Und Killerwale sind jetzt auch nicht so gut erforscht.
Nee.
Da geht was, da geht schon noch was.

Diana Ruhe: Ihr sagt

Ihr sagt,
das ist doch ganz einfach.
Die schaffen es nicht,
weil sie persönliche Probleme haben.
Da muss man einfach an sich arbeiten.
Alle haben schließlich die gleichen Chancen.
Die Plattformen sind da.
Die versuchen es nur nicht genug,
haben kein Herzblut investiert.
Es wäre schön, wenn das selbstverständlich wäre
und wir darüber nicht reden müssten.
Ihr sagt das,
weil euch nie Steine in den Weg gelegt worden sind,
weil ihr alle Privilegien, alle Unterstützung und
alle Macht habt, diese zu behalten.
Weil ihr nicht in andere Schuhe schlüpfen könnt.
Oder warum?