Andreya Casablanca

Andreya Casablanca spielt bei der Band „Gurr“, performt solo als „Doris“, schreibt gerne, liest gerne, macht gerne Fotos und bündelt das in verschiedenen kreativen Projekten. Geboren und aufgewachsen in Nürnberg und Fürth, hat sie ihren Lebensmittelpunkt seit Jahren in Berlin.



Andreya Casablanca bei EBMD:

Natalia Breininger

Natalia Breininger, geb. 1985 in Riga, Lettland. Abgeschlossenes Studium der Slavistik und Philosophie (B.A.) sowie der Transcultural Studies (M.A.) an der Universität Heidelberg. Seit 2009 als freie Übersetzerin, Lektorin und Publizistin tätig. Veröffentlichungen u.a. in die horen und im Signaturen Magazin.


Natalia Breininger bei EBMD

Natalia Breininger: Neon

Ich frage die Katze, ob sie genug gekotzt hat, ja, meint sie, aber ich noch nicht; mein Hals ist geschwollen, die Nase läuft, Hartz IV bald auch; irgendwie ist alles kaputt und angeschlagen, abgeschlagen, mit Lichtern und Raumfahrten dazwischen, Größenwahnphantasien und Existenzängsten, Beziehungswracks und unrealisierter Romantik, ich bin – so viele, dass ich es gar nicht halten kann, und draußen sind – so wenige: wer klopft an die Tür, der klopft an die Tür, ich gehe in Tangenten die Welt ab, Entropien wie Berge um mein Gehäuse, ich esse die Suppe, weil ich muss, und wache auf, weil ich nicht anders kann – nach dreißig stellt sich der Sinn plötzlich tot, und ich weiß nicht, ob das schlecht ist – am Nullpunkt ist immer Ruhe, die besser scheint, als Amplituden der langweiligen Wiederkehr: Karriere machen, fragt mich einer, nein danke, antworte ich, ich wüsste nicht, worin und wozu, zudem niese ich ständig, oder bin kopfkrank, und nur die Sonne geht unter und ist schön und wieder auf und ist noch schöner, das ist alles, was sich zu sehen lohnt, und mit den Spatzen die Krümel zu klauen, und irgendwie zuhören zu können, ohne eine Strafpredigt zu halten, da zu sein, ohne nachlässige Ignoranz oder falsche Leichtigkeit – in Armut lebt es sich schwerer, aber auch ehrlicher, das Finanzamt zieht mir den letzten Teppichboden unter den Füßen weg: wie stellen die sich das eigentlich vor, wovon du leben sollst, fragt eine Freundin, ja, sage ich, weiß ich auch nicht, gar nicht wahrscheinlich – vor mir Berge und Mondkrater, über die ich zu lugen versuche: nur nicht unsichtbar werden, zurückgeworfen ins Negativ, auf sich aufmerksam machen, auch wenn der Globus vor meinen Augen riesig erscheint, ein Kreuz setzen, in Merkels Gesicht, um ihm klar zu machen: so nicht, meine Liebe, du hast keine Ahnung davon, wie wir leben, wer wir auch immer sein mag – die Verlassenen, Geflohenen und Entstellten, die Alten und die unglückseligen Künstler, die Hebammen oder einfach die mit einem vaginalen Loch zwischen den Beinen – was auch immer du mir erzählst, du kennst das Leben nicht, wo du Dostojewski liest und mit dem Masterabschluss putzen gehst, auf halben Stellen, wie halben Stühlen sitzt, desinteressiert und krank; ich weiß doch auch nicht, was mit meinem Körper los ist, oder mit meinem Herz, aber das Leben in diesem Land hat etwas Fahles, Glanzloses, ist fluoreszent, ich sehe, wie dort die Wärme evaporiert und keine Spuren hinterlässt, nur eine Fata Morgana – als wär sie nie da gewesen; ich lecke die eingefrorenen Fenster ab – draußen ist Winter, bald, und ein Jahr ging vorbei, nichtssagend und schwer, mit Gesellschaft dazwischen und der Einsamkeit, in buntes Neonlicht getaucht, kalt und schön – ein Licht, aus dem auch die Frauen kommen, die mir so ungleich sind, Bella, Gigi Hadid, Cara Delavigne, Rihanna, manchmal auch Heidi Klum, wenn sie nicht kreischt, ausgehungert und schön, mit Reichtum behängt, den sie hin und her tragen, wie Sträflingskugeln, Frauen, die zum Verkauf stehen, und irgendwie auch nicht, mit operierten, injizierten Gesichtern, die im Blitzlichtgewitter untergehen und von denen am Ende nur (ihre) Gespenster zurückbleiben: haben sie was gesagt, was gedacht, wer weiß das schon, dafür werden sie nicht bezahlt, sondern fürs Fitschlanknhappy, wie wäre es stattdessen mit Schlappfettnkrank, beides schenkt sich doch nichts und ist nur Ausdruck des Lebens, des Sterbens; ein Kreislauf, der vor sich geht, zusammen mit der Erdrotation und den Gezeiten, und viel mehr als das ist da nicht, obwohl – gestern hat ein Penner meinen Namen gewusst, oder es hat so gehallt, als ob, es hat mich entsetzt, er – in einer Güte, die mitten aus Verzweiflung erwächst: im Leiden noch Wärme geben, geht, geht ausgerechnet da, geht, während die Mode- und Unterhaltungsindustrie Mädchen castet, nach Farbe und Form und das Arbeitsamt neue Sklaven, der Klasse I, Klasse II in seinem asozialen Bürgerklassifizierungwahn heranzüchtet; Merkel erzählt mir irgendetwas davon, wie sie die Arbeitslosigkeit halbiert hat, aber nicht um welchen Preis, und welches Leben die Menschen fristen, in den Ghettos und der Peripherie in Armut, die unterm Strich aufs Gleiche hinausläuft, wie sie dann an Wochenenden in die steuerfreien Oasen des Starbucks strömen, in modischen Billigversionen und Masken aus perfektem Makeup, zum Schaumschlürfen und Kollegenbasching – für mehr reicht das Geld nicht, und im Vergleich dazu hat es selbst Kafka noch knallen lassen, war aber auch früher tot, so läuft es nun mal – wer ehrlich lebt, muss früher sterben – / ich rauchte meine Zigarette zu Ende.

Natalia Breininger: (My lost hometown #2)

Ich erinnere mich, an diesen Mann, wie wir nach Hause liefen auf der Brivibas iela, waren wir einkaufen, wahrscheinlich, meine Mutter hatte mich bei der Hand, ich war sieben und es war September, zu früh um Jacken zu tragen, aber nicht Pullover, Menschengewusel, und dann kommt aus der Kreuzungsecke, an der Gemüse und Blumen verkauft wird, ein Mann, er hat dieses weiche, menschliche Gesicht, das mich an meinen Vater erinnert und irrt ziellos umher, mein Blick senkt sich und er trägt diesen typischen Eastsidepullover, die es nur Ende der Achtziger und Anfang der Neunziger gab, und ein burgunderroter Fleck zeichnet sich darauf ab, der immer größer wird, Blut, er stolpert und hält sich fest, stolpert und – die Ampel wird grün, ich schaue meine Mutter an, die mit seriösen Blick meine Hand fester drückt (ein Drogensüchtiger hätte ihn nach Kleingeld gefragt oder nach größerem und weil er zu lange brauchte, oder nichts, nicht genug dabei hatte, stach er auf ihn ein, munkelte die Nachbarin später an der Haustür zu meiner Mutter, als ich sie belausche), keine Spur von Panik, nur Spuren von Blut und hektisch werdender Menge, wir wechseln die Straßenseite, der Notfallwagen rollt ein, ich sehe den Mann niedersinken, aus der Ferne, die Sanitär rollen eine Trage heraus, er wird in den Krankenwagen gezogen (noch vor Ort operiert, dreieinhalb Stunden lang, die tiefsten Stichwunden, direkt in die Brust, kannst du dir vorstellen, Olga, dreifacher Familienvater… er hat nicht überlebt) und ich bin sieben und hab keine Angst, aber bete – ich bete vergeblich, dass er überlebt. Als wir zuhause ankommen und Nachbarin Tanja wieder geht, schaue ich aus dem Fenster und es tut mir – um dieses weiche Gesicht, diesen weichen, niedersinkenden Körper, der in den Händen des Chirurgen verblutet, unendlich leid.
(Epilog: Ich dachte, du erinnerst dich nicht, lächelt bedrückt meine Mutter. Da net, mam… ja pomnju. Pomnju vse.)

Tibor Baumann

Tibor Baumann kam 1985 in Nürnberg unbestätigten Gerüchten zu Folge sprechend zur Welt.
die Kindheit und Jugend geprägt vom Reise– und Kunstdrang der Eltern zwischen fränkischer Provinz und Süd-Ost-Asien aufgewachsen.
2003 wechselte Baumann nach Freiburg, schloss Ort und Schule mit dem Abitur an der Freien Waldorfschule Freiburg-Wiehre ab und musste noch einmal zu den Wurzeln zurück. kombiniert mit dem Studium der Theater- und Medienwisseschaft, abgeschlossen 2013/14.
seine künstlerische Entwicklung begann zuerst mit dem Theater. erst mit zehn Jahren entdeckte Baumann den Film als eine Welt für sich. es gibt dazu viele Geschichten. alle zusammen ergeben einen Weg, hin zum laufenden Bild. vom Theater nahm Baumann erst nach und nach Abschied; vom Spiel, hin zur Regie, dann immer weiter weg, vom Theater, bis 2008 der erste eigene Film entstand. textuelle Arbeit stellt dabei nicht nur die Grundlage, sondern braucht auch eigene Formen; Entwicklung in Belletristik und Lyrik.  2016 wurde sein Debutroman DREI MINUTEN FÜR JEDEN veröffentlicht.
nach seinem Studium ergänzte Baumann seine eigens kreierten Erfahrungen als Filmemacher – eigene Independentproduktionen unter dem Label TABULA RASA – durch verschiedene Arbeiten als Regieassistent. Baumann sammelte sowohl im Fiktionalen, als auch im Werbebereich Erfahrungen, von kleinen Budgetrahmen bis Kinofilm.
so arbeitet Baumann als Autor für Buch und Drehbuch, führt Regie in Werbung und Feature-Film; sucht vielleicht aus Gewohnheit immer wieder die Bühne.
Baumann lebt in Berlin.


Tibor Baumann bei EBMD:

Tibor Baumann: Im Fluss ist es still

And am I born to die?
And lay this body down?
And as my trembling spirits fly Into a world unknown
A land of deeper shade
Unpierced by human thought
The dreary region of the dead
Where all things are forgot

David Tibet / Current93 Idumae,
Black Ships ate the sky

Die Nacht umschloss sternenklar das Land.
Wie drohend schwarz-lilane Wolkenberge, die sich stürmend den Horizont erobern, versank er mit all seinem Leben, sein ganzes Ich, in einem Strudel, der ihn stumm wie den Kosmos machte. Mit kaltem Wind die Ahnung des kommenden Sturms, wie das Grollen, herannahender, preschende Pferde einer Streitmacht. Und dann war es immer still; in dieser Stille flog er. Klares Wasser, das war es schon immer gewesen, Wasser, dass ihn umgab. Und die Wolkenpferde, die preschten voran, Steine versprengend, trugen sie ihn und waren doch nur Gischt und Schaum. Es verstummte sein Vater, der alte Adler; eine Sternschnuppe die aufleuchtend verglühte. Und letztlich fühlte er, wie er gezeugt wurde, eine Nova, ein Aufkeimen, eine Vereinigung und ein vergehender Prozess im Moment seiner Entstehung.
Edgar schlug die Augen auf und starrte in das im silbrigen Dunkel liegende Schlafzimmer. Sein Inneres war aufgewühlt wie aufschäumendes Wasser, das den Fels hinabstürzt. Neben ihm, tief in den weißen, gestärkten Laken schlief entrückt seine Frau. Edgar fühlte deutlich das Zimmer, das Haus, den großzügigen Garten, die Stadt, jeden Raum um sich herum, als wäre er in spiralförmigen Muscheln eingebettet, die ein Außen kannten und doch kein Außen hatten, da sie sich in ewiger Wiederholung in einen neuen Raum verwandelten.
Edgar setzte sich unsicher auf, rückte auf die Bettkante. Über die breite Treppen, die dunklen hölzernen Stufen, schlich sich das Ticken der Uhr hinauf. Edgar hob den Blick und sah durch die Länge des Schlafzimmers, als ob er dem Geräusch entgegen sehen könnte.
Eine Weile saß er nur dort. Dann stand Edgar traumwandlerisch auf und verlies leise das Schlafzimmer. Nur eine schmale Shiloutte des Mannes, der am Tag so viel Macht und Kraft ausstrahlte.
Über die Balkonade die die beiden Flügel des Familiensitzes verband, ging er in sein Arbeitszimmer. Langsam, vorsichtig setzte er sich unter den ölfarbenen Augen des Familienporträts der Steins, in seinen Arbeitssessel. Sein Blick suchte etwas im Dunkel, an den Rücken der Bücher in den hölzerneren Regalen, in den rauschenden Blättern, die vor dem Glas der Fensterscheiben mäandernd das Mondlicht unterbrachen und wispernd von einem Draußen erzählten.
Plötzlich atmete Edgar ein, sich erinnernd dem Ersticken nahe zu sein, fliehend, sich an das Leben krallend, als wäre er beinahe Untergegangen, schöpfte er tief Luft.
Mit großen, festen Händen, strich er sich das dunkle Haar und die silbernen Streifen nach hinten. Ein Geste voll Würde, trotz des schief sitzenden Schlafanzuges. Dann knipste er die gelb schienende Schreibtischlampe an und zog mit energischer Geste die bereitgelegten Unterlagen zu sich.
So endete Edgar Steins Nacht bevor der Tag anbrach.
Es würde ein sonniger Tag werden; als ob der Herbst dem Sommer ein letzten, schwachen Glanz gewähren wollte, bevor das Grau sich über das Land legen würde.
Der alte Kern der Stadt thronte mit Schloss und Wehr über dem Fluss und verbarg die sich dahinter ausbreitende Bauten aus Stahl und Glas und die speienden Schlote, das Räderwerk, die Tonnen an Dingen und Material, die verschoben, genommen und wieder gegeben wurden, die sich in Betonadern ergossen, Schneisen durch das Grün und die Berge zogen, bis zur nächsten Stadt, dem nächsten Flughafen, den Bahnstrecken und den unsichtbaren Verbindungen der Menschen, die sich über alles legten: über Land, Fluss und Himmel, über Berge, Meer und Luft hinweg, hinein in die Ebenen der Impulse, der unsichtbaren Konstrukte der Metaphysik, der Gedanken und Informationen, in Überzeugungen und Willen gegossen, sinngebende Riesen ohne Körper, für die wieder aus Stein und Recht, aus Glas und Macht, gigantische Konstrukte und Türme und Mahnmale und Häuser und Plätze errichtet waren.
Die Kirchturmuhr schlug guten Morgen; auch an diesem Morgen. Ein Tag, der so wie jeder anderen im Strom der Zeit sich in die Abfolge aller Dinge reihte.
Tau netzte die Wiesen und Wälder deren Wipfel mit bunten Tupfen das Land färbten, die die Stadt einfassten. Wie ein Band zwischen Welten zog sich der Fluss am alten Kern aus mittelalterlichen Bauten entlang, erst weiß und wild, dann klar und blau und schließlich langsam und grün, die Stadt verlassen, in die Wälder verschwindend. Eine riesenhafte Schlange in ruhiger Bewegung, sich der eigenen Größe und Unumstößlichkeit dank der Anpassungsfähigkeit an Fels und Erde bewusst.
An diesem Tag, in dieser Stadt, an jenem Fluss, geschah der Anfang. Es geschah zum ersten mal. Nicht als Auslöser. Nicht in Verantwortung. Nicht als plötzliches Ereignis. Es geschah als Teil der Tatsachen, die sich aus dem mikroskopisch kleinsten Zusammenhang und denen kosmologischen Ausmaßes entwickeln. Unweigerlich und vollkommen; variabel, die Welt, die uns immer solche Angst gemacht hat, da sie, um so tiefer wir in sie blicken, ohne formende Macht, sich selbst bedingt und hervorbringt. Ein solcher Anfang war es.
Hätte jemand bemerkt, dass es hier tatsächlich zum ersten Mal geschah, hätten manche vielleicht von einem Auslöser, dem ersten Verlust, einer sich ausbreitenden Krankheit, vielleicht auch von einem Schuldigen gesprochen. Aber es war ein unbemerkte Anfang; das Gegenteil dessen, was sonst dem Ersten zugedacht ist:
Kein Ruhm, keine Ehrung. Kein Urteil und keine Anteilnahme.
Lilia und Edgar saßen an dem alten, großen Holztisch im Wintergarten, von dem der Blick über den wilden, großen hinteren Gartenteil schweifen konnte. Die bunten Köpfe der Eichen leuchteten bunt und die Sonne fiel glitzernd auf das Paares.
Lilia durchforstete ihre Nachrichten auf dem Tablet, trank gesüßten Kaffee und aß Obst und Nüsse zum Frühstück. Immer wieder sah sie auf und musterte heimlich forschend, ein wenig besorgt, nach einem Moment suchend, da sie seinen Blick fangen konnte, die Züge des Mannes, den sie so gut kannte. Edgar sah nicht auf. Es war keine Missachtung. Er war schon in seinen Tag verstrickt, las die Berichte zu den Vertragsmemo noch einmal und durchsah abwechselnd die morgendliche Zeitung, während er grünen Tee trank. Das Essen ignorierte er. Einer jener Morgen, an denen er nach einer Aufforderung Lilia etwas zu essen erwidert hätte, dass ihm das Leben bis in den Rachen stünde und sich sofort übergeben müsse, wenn er jetzt esse.
Die Keramik klirrte leise, als Lilia ihre Tasse abstellte. Edgar verwarf wieder die Zeitung. Sanft legte sie ihre Hand auf seine.
„Ich nehme den ersten Flieger wieder zurück.“, lächelte sie ihn ernst an. Edgar runzelte die Stirn.
„Nimm dir Zeit. Leopold freut sich.“, erwiderte er wegwischend. Er entzog seine Hand und leerte seine Tasse. Forschend sah sie ihren Mann an, der Aufstand und das dunkelblaue Sakko anzog, die Manschettenknopf gehaltenen Hemdaufschläge hervorzog, die Weste zurechtrückte, den linken Arm schüttelte und so die Uhr an ihren Platz brachte.
Seine strenge Haltung verriet nichts. Aber Lilia kannte ihn nun schon zu lange. Seine innere Unruhe war wie ein dunkles Tier, das im Augenwinkel lauert. Als wäre da eine Vorahnung, die er nicht zu benennen im Stande war.
Mit flachen, festen Händen strich er die dunklen, silber durchzogenen Haare zurück. Sich aufrichtend, sah er von den Papieren, dem Tisch auf, hinaus, in die Ferne. Seine Habichtgestalt warf den Schatten lang in das hinter ihm liegende Haus.
Mit einer Absage in der Geste griff Edgar nach dem Memo, der Zeitung, schob es in seine Ledertasche. Die Hand auf ihrer Schulter, küsste er Lilia auf die Stirn.
„Sag dem Jungen, ich bin stolz auf ihn.“ Lilia sah Edgar erschrocken an; es war ein Abschied. Ihre Hände legten sich kurz ineinander und das so vertraute Gefühl, den jeweils so ungleich empfundenen, aber geliebten Menschen gekannt zu haben, legte einen Zufriedenen Moment in die Gesichter der beiden. Und betonte die Vergangenheitsform, das Gefühl des geschehenen und nicht im Moment sich ereignenden. Edgar nahm Hut, Mantel und Tasche von der Garderobe und seine Schritte verhallten im langen, hohen Flur und verschwand nach draußen. Lilia konnte durch den schmalen Galsstreifen in der hohen Türe sehen, wie der Fahrer hinter Edgar die Türe des Wagens schloss. In seltsamer Art war das der letzte Blick, den sie auf Edgar legte.
Der Fahrer lenkte mit ruhiger Hand den Wagen, der wie ein schwarzes Schiff durch den Verkehr glitt. Edgar besah sich die Welt, von außen, getragen, durch das Vehikel. Die Unterlagen lagen nutzlos in seiner Hand, auf seinem Schoß verstreut.
Er blickte hinaus und sah das Treiben, das vorüber zog, wie ein getragenes Theaterstück.
Edgars Vater war ein strenger, aber liebevoller Mann gewesen, der von seinem einzigen Sohn – bedingt durch den Kindstot des ersten und dem tragischen Unfall, der Mutter und Tochter dem Leben entriss – alles verlangte. Bedingungslosen Erfolg und absolute Hingabe an die Familie und das Leben, also, alle Handlungen und Unternehmungen, die nicht geringer als groß sein durften. Edgar wusste schon früh um seine Privilegien – und das sie nichts wert waren, wenn man nichts damit tat:
„Dein Aufrechter Gang ist ein Geschenk der Evolution, Edgar.“ Sein Vater hatte wie ein alter Adler über den jungen, schmalen Edgar gebogen. „Dank dieser Entwicklung, hat dein Körper die Fähigkeit Energie umzusetzen, die ein so komplexes Gehirn füttert, das zu solch erstaunlichen Leistungen fähig ist.“, fuhr er fort. Es war ein Sonntag gewesen, der Vater im schwarzen Anzug. Tee auf einem Tablett. Ein schweres Buch auf dem kleinen Gartentisch. Der Siegelring an der krallenartigen Hand des Vaters, da er mit dem Zeigefinger auf die Stirn des keinen Edgar tippte, bestimmt, aber frei von Gewalt. „Wir können sprechen und denken und die Welt mit unseren Sprache anreichern; wir denken und formen die Welt, weil wir uns organisieren.“ sagte er mit tiefem Bass und griff die Hände, die kleinen Hände, mit seinen großen:
„Verstehst du?“ Das Haar stand Edgar ein bisschen wirr vom Kopfe, mit dem er ernst nickte. Der Vater strich ihm lobend über die Wange. Stolz den er sparsam ausgab.
Edgar schloss sein Architekturstudium mit Bravour ab und nicht, weil er der beste in den mathematischen Grundlagen, den statischen Eventualitäten oder in der historischen Betrachtung der Errichtung war, sondern weil er es zu einem neuen Gedanken zu konstruieren wusste. Edgar war noch keine dreissig Jahre, als er die Architektur mit dem Gedanken der strukturellen, zivilisatorischen Errichtung verknüpfte. Seine Überlegungen nutzte er um ein Architekturbüro aufzubauen, dass global und anthropologisch dachte. Das Errichten von Häusern, Brücken, Tempeln, das Planen von Netzen und Zusammenhängen von Behausung und Netzwerk, wurde in Edgars Händen mehr als die Planung von Bauunternehmungen. Es war die Idee der Überlegenheit des Menschen; die Architektur als Beweis, wofür anderen Götter, Propheten, Lenin, Kapital oder Erfolg benötigten. Er zog die Menschen in seinen Bann, mit seinen Ideen, seinem Blick und um so älter Edgar wurde um so mehr wurde aus dem Habicht der alte Adler, der mit scharfen Verstand und geschliffenen Worten die Menschen um sich herum mit seiner Idee zu verbinden wusste.
Die Mitarbeiter von „Stein&Stein“ waren Teil einer Idee; seiner Idee der Welt, auf die jedes Bauwerk zu einem besseren Nutzen und größerer Schönheit, effizienter Nutzbarkeit und klarer, zivilisatorischem Überlegenheitsbeweis führte. Architektur und Zivilisation, das Zeichen der Herrschaft des Menschen, ein Alleinstellungsmerkmal, dass es immer wieder neu zu denken galt. Von der hoch bezahlten Managerin bis zum letzten Putzmann, waren sie Teil einer Gemeinschaft, denen Edgar weltweite Privilegien einräumte, Wohn- und Reisemöglichkeiten, Bildung und Entwicklungsmöglichkeiten – im Sinne seiner Idee, die zur Bewegung wurde.
Er errichtete mehr als Gebäude. Er organisierter die Menschen, mit seiner Idee errichtete Edgar Stein eine Gemeinschaft im Glauben an die Geschichte, den Mythos. Von Erfolg waren all die großen Unternehmungen gekrönt, weil Gemeinsamkeit ansprach, die zu Identität durch Zugehörigkeit führt.
Edgars Arbeit führte ihn virtuell über drei Kontinente und in verschiedenen Lebenskontexte. Die Projekte und Absprachen mit hoher Priorität leitete er immer noch selbst. Edgar brachte diese Idee mit sich, wie eine Präsenz, die an ihm, seiner Haltung, seiner Wortwahl hing; der Mythos, die Geschichte die ihn durchdrang öffnete ihm und seinen Unternehmungen Tür und Tor.
Edgar sah auf; der Wagen hielt leise an einer Ampel, deren rotes Licht sich spitz auf die Gestalt des Fahrers legte.
„Ben, drehen Sie um.“ Edgars Stirn lag in Falten. Als wüsste er nicht genau weshalb, aber doch, dass es richtig war. Energisch legte Edgar die Unterlagen zur Seite.
„Fahren sie mich in mein Atelier.“ Der Fahrer nickte knapp und wendete mit grünem Licht den Wagen in die entgegengesetzte Richtung.
Jenes Haus, das Edgar als sein Atelier bezeichnete, hatte er als Ruine erworben, um es neu zu beleben. Jeden Strich, jede Leitung, jedes Stück Putz, alles hatte er selbst getan. Und im Tun, hatte er seine Gedanken ordnen können, die wilden Gedanken eines jungen Menschen. Und geordnet hatte er die Idee entwickelt. Hier hatte ersten Grundstein für sein Imperium, seine Auffassung, seine Geschichte zur Welt errichtet, während er das Haus neu erdacht und erbaut hatte.
Das Haus war schlicht eingerichtet, ein Gegenentwurf zu dem, was ihm das Erbe seiner Familie aufzwang. Keine pompöse, dunkel-eicherne Vergangenheit; Edgar hatte die alte Bausubstanz mit neuen, klaren Linien vereint, die in Glas mündete, so dass der vorbeiziehende Fluss, die wogenden, Bäume, das Gras des sanften Abhangs, der sich über die Wipfel spannende Himmel, Teil des großzügigen Hauptraumes werden konnten.
Edgar stand kaum atmend inmitten der Stille. Den Fahrer hatte er fortgeschickt. Starr, mit kurzen Bewegungen suchten seine Augen, irrten zwischen dem kleinen Tisch, dem dezenten Sofa, dem Draußen, hin und her. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als mochte es sich dafür entscheiden ihm herauszuspringen. Zu beenden, was es vorantreibt, voran, immer nur voran, immer diesem einen, diesem bestimmten, diesem letzten Schlag entgegen.
Vage erinnerte er: fernes grollen; schäumende Pferde, das Vergehen eines hellen Sterns.
Losreißend trat Edgar an die lange Glasfront. Mit leisem Klick löste sich der Hebel und mit elegantem Geräusch glitt die Tür zum Garten, zum Fluss, zur Seite. Der Wind griff nach dem Raum, zerzauste Edgars Haar. Das graue Sakko klappte nach hinten. Edgar trat auf das feuchte, grüne Gras, auf dem bunte Blätter getupft waren. Edgar folgte einem schmalen Weg aus flachen Steinen; in seinen Augen spiegelte sich plötzlich eine Sicherheit, ein folgsamer Instinkt, der ihn leitete, auch ohne zu Wissen wohin.
Zuerst an seinem Grundstück entlang, wo sich nach einer gemauerten Erhöhung der Holzsteg in den Fluss zog, dann zur Böschung wurde, als er durch eine geschlosserte Tür aus dem Grundstück trat.
Er war dem Fluss jetzt nahe. Das stete Rauschen des Flusses ließ ihm die Haare aufstehen; erotische Anziehung, mehr als Lust, aber Verlust des Bewusstseins. Der Pfad zog sich durch einige Büsche, die ihm in seinen Weg ragten, ihn sanft streiften. Das Wasser auf den welkenden Blättern hinterließ dunkle Sprenkel auf seinem Anzug. Und als sich die Büsche lichteten, wand sich der kleine Pfad noch ein Stückchen weiter, über einen Hügel, und verschwand dann nach unten.
Da schoss der Fluss entlang. Sein Herz schlug. Einmal muss es aufhören. Den Sinn erhält der erste Schlag davon, das ein letzter kommen wird.
Edgar trat auf den Buckel, den das Land aufwarf. Einige Schritte unter ihm rauschte das Wasser wild, wie jung, spielend, neckend, bald schäumend um Felsen und Brocken, schnaubte an den Rand seines Bettes.
Edgar trat die Schritte hinab und stand am Rand des schäumenden Gewässers. Die feinen, dunklen Herrenschuhe waren von einigen Sandkörnern hell getupft. Schmal ging Edgar in die Hocke und seine Hand hing in das Wasser, das eiskalt seine Haut zu einer dünnen Membran werden ließ. Trotzdem war er wie starr, die Hand im Kalten, den Blick auf das Weißwasser gerichtet, in dem schäumende Pferde davonstoben, nur um Platz für die nächsten, wilden Scharen zu machen.
Nur die kleine Bucht, an der Edgar stand, war ruhig, lud ein in den Fluss zu steigen.
In alten Zeiten hatten die Menschen sich davon erzählt, dass die Flüsse reinigen, dass ihr Wasser sanft davon trägt, was Unheil und Krankheit, was drohender Tod gewesen sein mag. Und Heilung nur dann erreicht ist, wenn das fortgespült, was von abgeschütteltem Siechtum übrig blieb. Die weißen Frauen und die Scharlatane, die Schröpfer und Pillendreher, die Doktoren der feinen Gesellschaft und die sich kümmernden Mönche, alle waren sie immer an diese Stelle am Fluss gekommen. Dem Wasser wurden Eiter und Verbände, Auswurf und geschröpftes Blut, Fäkalien und Schienen überlassen.
Fortgespült um dem Vergessen zu überantworten, was so viel Leid brachte.
Mit ruhiger Bestimmtheit entledigte sich Edgar seiner Kleidung; sorgfältig legte sie auf einen großen Quader in die Sonne. Dann stieg er ohne Erbarmen in das eisige, rauschende Wasser.
Die Kälte ließ ihn aufheulen. Seine Hoden zogen sich zusammen, die Haut spannte sich wie dünnes Papier über seinen ganzen Laib – tausend kalte Eisen durchgetrieben -, das Wasser wie ein Kokon. Das Rauschen erfasste ihn und er trieb hinab, entging knapp einem Felsen, ging kurz unter. Der Fluss rauschte gleichgültig. Edgar schnellte aus dem Wasser, das Haar hing ihm ins Gesicht, japsend spukte er Wasser, johlte etwas, ein Wort, einen Schrei, einen Jubel – und wurde von schäumenden Wasser erfasst wie ein Blatt im Sturm.
Nach einer großen Biegung, erschienen die hohen Spitze der Berge hinter den Bäumen. Die weißen Pferde und Fratzen aus Gischt verging in sanftes Strudeln; hell, in klarem Blau nahm sich der Fluss sein Bett. Mit entschiedener Kraft trieb er den Körper, den er umschloss, hinab; bis auf den Grund sah Edgar. Seine Füße im eiskalten Blau konnten den Grund berühren, streckte er sich. Im Vorbeigleiten berührte er einen runden Stein, der kurz und träge ein wenig unter Wasser rollte und wieder zum liegen kam.
Edgar hatte den wilden Lauf überstanden. Die Kälte trat zurück. Der Fluss trug ihn, schnell, aber gleichmäßig; vorbei an den letzten Häusern, dem Wald entgegen, der an den grünen Rändern des Flusses begann. Die Wipfel rauschten sanft und einige Blätter fielen in das durchsichtige Wasser.
Edgar machte einige Schwimmzüge und und brachte sich in die Mitte des Flusses, drehte sich vertrauensvoll auf seinen Rücken. Den Blick nach oben, trieb er dahin. Ein Vogel durchkreuzte den blauen Himmel, in Richtung eines Wolkenbergs. Edgars schlanke Gestalt war jede Anspannung genommen. Sein Geschlecht, seine Beine, seine Armee, glitten immer wieder sichtbar zur Wasseroberfläche, hielten sich natürlich im Gleichgewicht. Sein Blick war klar und ruhig.
Der Fluss nahm eine weitere Biegung und wurde tief und ruhig, von dunklem Grün. Und ohne ein Geräusch, ohne, dass es einen Moment des besonderen Ereignis gegeben hätte, verschwand Edgars Körper im Wasser, nach unten, zuerst blasser werdend, dann ganz und gar fort, so dass nur das träge Grün blieb.
Am Ufer hatte ein Alter Baum sein Haupt müde geneigt und einige Äste ragten ins Wasser, in ewiger, nie ausführbarer Vorwärtsbewegung gefangen. Die Wurzeln des Baumes entstiegen der Erde und krallten sich an einen Felsen, der trotzig seine alte, bemooste Haut aus dem Fluss aufhob.
Edgars Hände griffen aus dem dunklen Grün an den Fels. Zwei körperlos Arme. Krallend hielt er sich fest und zog seinen nackten Körper hinauf. Haut auf Stein, das Moos war weich.
Dann saß er dort. Die Sonne fiel durch das Blätterdach. Auf seiner Haut perlte das kalte Wasser. Er öffnet den Mund. Alle Worte waren ihm entwichen, alle Geschichte. Kein Mythos, kein Überzeugung.
Vögel stiegen auf – vielleicht erzählten sie sich vom Tag an dem Edgar die Idee der Geschichte, von Linie und Bau verlor:
Es saß ein nasser Mensch auf einem Stein und trank die Wärme der letzten Herbstsonne.
Edgar Stein wurde zwei Tage nachdem er auf dem Stein gesessen hatte von einer Polizeistreife in seinem Atelier aufgesucht. Frau und Sohn hatten sich Sorgen gemacht, er hatte Termine verpasst, war nicht erreichbar gewesen und auch in seinem Sportclub nicht aufgetaucht.
Die Polizei konnte aber nichts weiter feststellen, meldete aber, dass Edgar Stein nicht verschwunden sei. Aber auf gewisse Weise irrte man sich.
Lilia fand ihren Mann nicht wieder. Edgar wusste alles, kannte sie, aber er konnte nichts mehr von dem aufrechterhalten, was er einmal gewesen war. Etwas schien an ihm zu fehlen; er verstand seine eigene Firma nicht mehr, das Band zwischen den Meilensteinen, die er geschaffen hatte, die Verbindungen zu Menschen, die er nie gesehen hatte, die aber Teil des Stein Imperiums waren, all die Verflechtungen und die fundamentalen Erzählungen, die einmal aus ihm gekommen waren – verschwunden als würde man nach Tropfen aus einem Fluss im weiten Ozean suchen.
„Stein&Stein“ begann zu zerbrechen. Eine Notiz im Wirtschaftsteil.
Als Edgar Stein vor der Öffentlichkeit in die Einsamkeit und schließlich in den verwirrten Selbstmord floh, reihte sich diese Nachricht ein. Zuerst waren auch dies nur Randnotizen. Kurze Meldungen.
Als ein Attentat in der Hauptstadt nicht durchgeführt wurde, weil der junge Mann die Geschichten seiner Anführer vergessen hatte und damit auch den Sinn seiner Aufgabe, die sich in selbst gebauten Sprengsätzen um seinen Leib manifestiert hatten, begann die globale Gemeinschaft ihre Aufmerksamkeit auf das seltsame Verschwinden der Geschichten zu lenken.
Das Erschrecken kam, als Menschen mit Macht, in wichtigen Positionen, religiöse Führer, Konzernleiter, die in der Öffentlichkeit standen, Politiker und Kriegsherren den Sinn ihrer Geschichten verloren und die Zügel losließen.
Die Fälle häuften sich. Das Vergessen wurde immer größer.
Flugzeuge stürzten vom Himmel, Fabriken verwaisten, Züge standen still, das Internet wuchs nicht weiter, Menschen konnten nicht mehr mit mehr Menschen interagieren, als sie sich Gesichter merken konnten.
Unsere Fähigkeit, die uns überleben machte und uns die Geschichte erfinden ließ, wir seien die Krönung der Schöpfung – sie verschwand. Und die Erkenntnis, dass wir keine Krone sind, sondern verwoben, keine Herrscher, sondern Teil dieser Welt, dieser Tiere, dieser kosmologischen Momente, die sich genau zu uns hin entwickelt hatten um sich dann weiter zu entwickeln, diese Erkenntnis trat nie ein.
Wir hielten weiterhin unsere gesprochene Krone fest. Sprachen weiterhin als Herrscher und Bändiger, Bezwinger und Privilegierte.
Vom Ende der Welt wurde gesprochen und geschrieben. Von dem Untergang der Welt. Das Chaos wurde immer größer. Religionen versuchten die Ereignisse in ihre Erzählung zu integrieren, Halt, Trost oder den gerechten Zorn zu spenden; Wissenschaftler suchten fieberhaft nach Erklärung und Heilung, nach einem Modell des Verstehens. Die Politiker entwickelten Strategien, jene die gewählt werden sollten, erzählten ihre Geschichte, was sie tun würden um die verängstigten Menschen hinter sich zu vereinen, während versprengte Randgruppen ihre Stunde gekommen sahen und die verwirrten und alleingelassenen hinter sich sammelten.
Und dann verstummten auch diese Geschichten, die sich wegen der Ereignisse gebildet hatten.
Die großen Gemeinschaften zerbrachen. Die großen Unternehmungen verstummten. Langsam kam alles zum erliegen.
In dem Moment, da wir gezeugt werden, da Samen und Ei sich vereinen, beginnen wir. Ein Prozess. Ein Anfang eines Wunders aus exakten Gegebenheiten – das einem Ende entgegen sehen muss um diesen Anfang zu wagen. Ein erster Herzschlag meint, dass es einen letzten gibt.
Der Fluss entspringt und vergeht vergeht im Ozean. Und Edgar und dieser erste Moment, war vergessen im Meer der Ereignisse.
Der Fluss spült um den Felsen, der sein Haupt aus dem grünen Tiefen hebt.
An diesem Felsen trafen sich früher die Menschen um dem Fluss die Asche derjenigen zu übergeben, die in das Reich der Toten fuhren; eine Verbindung zwischen den Welt. Der Stein als Zeichen der Stelle, an der das fließende Gewässer den Übergang zu einer anderen Welt darstellt. Menschen kamen hier zusammen, um sich gemeinsam zu verabschieden, zu Trauern; Riten verbanden sie, selbst wenn sie sich nicht kannten, die Gemeinschaft wuchs und die Bedeutung wurde von Mund zu Ohr weiter und weiter gegeben.
Bis der Mythos dieser Gemeinschaft verschwand. Eine große, globale Geschichte, die wir uns immer wieder erzählten und die nun verblasst.
Es ruft ein Vogel im Wind. Der Fluss ergießt sich ins Meer und das Wasser vereint sich um aufzusteigen, zu jenen Wolken, die dem fliegenden Freund ein weißer Berg sein mögen. Wer mag sich schon erinnern?
Die Welt wird bleiben. Nur wir überqueren den Fluss. Und dann ist es ein Fels und ein Fluss, auch immer noch. Es wird nur eine weiße Seite bleiben.
Wer untergeht, der hinterlässt die Welt.


Erzähler: Felix Benjamin
Lilia/Stimme: Anja Gmeinwieser
Edgar: Chris Bellaj
Vater: Arthur Roscher

Musik:
Kai Engel
Jared C. Balogh
Daniel Birch

Lothar Gröschel: Als mich der Abgeordnete Elmar Sören zum Biertrinken einlud

Die Straßenbahn war um diese Zeit so gut besetzt, dass ich nach einem freien Platz Ausschau halten musste. Späte Arbeitspendler aus den Kreativberufen, die sich ins Büro bequemten, wenn die Heizungsbauer im Nachbarhaus bereits ihre zweite Vesperpause einlegten; Mütter auf dem Weg zum Sport oder zum Frühstück-mit-zwei-besten-Freundinnen; Studenten, die es irgendwie aus dem Bett geschafft haben, obwohl seit einer Woche Semesterferien waren, wie ich von Elsa gehört hatte; und eine Menge Ortsfremder – ein abgestandenes Sprachengewirr der Länder des alten Westens.

Ich überlegte, wie ich die Fahrtzeit verbringen sollte. Fingerte schon nach meinem Telefon, um es den anderen gleich zu tun. Als Kästchengucker sich durch die Ostteile der Stadt schunkeln lassen. Oder eine Zigarette drehen, sprich: jemanden nach Tabak und Papierchen anschnorren, um ihm oder ihr mitzuteilen, dass man keine Filter benötige. Dann den irritierten Blick zu quittieren, mit leichtem Kopfschütteln diesen weißen Schaumzylinder tatsächlich abzulehnen. Wer hat denen das beigebracht? Vor 20 Jahren hat doch kaum einer mit Filter gedreht. Wo war ich seitdem gewesen?

Ein Rettungswagen überholte uns. Wenig später folgte ein großes Feuerwehrauto, noch eines, zwei Streifenwagen, ein Notarzt, das Technische Hilfswerk, dann die Müllabfuhr.
„Ich liebe Menschen.“
Wie auf Kommando drehten sich quasi alle Insassen um.
„Ich liebe Menschen … ich liebe Menschen … ich liebe Menschen …“
Ich war mir nicht sicher, ob ich gleich beim ersten Mal verstanden hatte, was der Mann mit krauser Haarpracht unüberhörbar deklamierte.
„Ich liebe Menschen.“
Manche Leute wandten sich ab, schauten dann wieder hin, zu ihm, der immer lauter wurde. Eher aggressiver, aber es wirkte lauter. Er saß auf dem Sitz neben dem Fahrkartenautomat. Betonte jetzt das „Ich“ übermäßig: „Iich – liebe Menschen … Iiiccch — liebe Menschen … Üüccchh — liübe Menschen … „

Ich konnte ihm ins Gesicht schauen: dunkle Augen, brauner Teint, feine Züge. T-Shirt, Sporthose …
„Üüch – lübe – Menschen …“
An der nächsten Station wanderten einige Mitfahrer ins hintere Abteil ab. Jetzt schrie er seinen Satz. Ich hatte kurz Blickkontakt mit ihm. Nahm er mich wahr? Ich schaute wieder weg; dann hin.
„Ich liebe Menschen … ich liebe Menschen …“
Dann begann er zu hospitalisieren, bewegte den Oberkörper im Rhythmus seines Mantras nach vorne und hinten. Dabei griff er mit seinen Händen an die Oberschenkel, als wollte er sich daran festhalten.

„Keine Sorge, der tut nichts.“
Jetzt erst bemerkte ich den älteren Mann, der sich neben mich gesetzt hatte. Große graue Augen, die Stirn in gleichmäßigen Falten. Mit seinem haarlosen Kopf und der kräftigen Nase erinnerte er mich an Picasso.
„Ich liebe“ … Pause … „Menschen“.
Das „Menschen“ schrie er aus seinem Innersten heraus.
„Er ist noch jung, seine Stimmbänder halten das aus“, kommentierte mein Nachbar.
Ich nickte. „Aber meine Nerven …“
„Ich finde das auch nicht toll …“ – „Ich liebe MENSCHEN …“ – sagte der Kahlköpfige, „aber das ist der Sound der Stadt. Ein paar Millionen auf so einer Fläche zusammen gekarrt, mehr oder weniger freiwillig … schauen Sie sich an, wie wir hier leben, arbeiten, was wir essen, konsumieren, sehen, sehen müssen, jeden Tag, unzählige Bilder, Stimmen, den Lärm, Verkehr … die Gerüche, die Abgase. Da ist es nur zu natürlich, dass es hin und wieder kracht. Sich in einem Gewitter entlädt. Die Energie muss irgendwohin, und es findet sich immer ein Katalysator. Möge er noch so abwegig erscheinen, wie das Schauspiel, an dem uns dieser junge Mensch teilhaben lässt.“
„Sie werden Recht haben“, sagte ich. „Dieses Wetter begünstigt Entladungen.“

Der Mann schrie weiter und starrte zu uns herüber. Wartete einen Moment und zog sein T-Shirt aus – „Ich liebe Menschen“ -, warf es auf den Boden. Er stand auf, hob die Arme, rief in einem fort: „Ich liebe Menschen“.

Würde er damit aufhören, wenn ich ihn anspräche, ihn fragte, was er wollte? Vielleicht wollte er nur die Liebe, seine Liebe, weiter geben.
„Sie können da nichts machen“ unterbrach der Mann neben mir mein Sinnieren, als wüsste er, was in mir vorging. „Er wird Sie nicht wahrnehmen, in seinem Film braucht er kein wirkliches Gegenüber, ich meine: jemanden mit Empathie, der mitfühlt. Nein, er will die Bühnensituation, der er mit seinem Ein-Satz-Dramolett aus dem Nichts schafft. Die Straßenbahn ist kein übel gewählter Ort für diese Inszenierung – keiner kann abhauen. Und – er weiß das – „Ich liebe Menschen“ – niemanden lässt das ganz kalt.“

Dann zog der junge Mann zwischen einem „Ich liebe Menschen“ und dem nächsten „Ich liebe Menschen“ einfach die Hose runter. Schaute an sich herab, sprach weiter und drehte sich frontal zu seinem Publikum, das sich hinten verschanzt hatte. Guter Körper, trainiert bzw. nicht durch Müßiggang und Exzesse geschunden.

Bersarinplatz. Der Wagen hielt. Die meisten wollten raus. Mein Nachbar schüttelte den Kopf, stand auf und streckte mir die Hand entgegen.
„Ich gehe auch“, sagte ich, nahm seine Hand, erwiderte den Abschiedsgruß. Draußen blieben wir, ohne uns abgesprochen zu haben, stehen, beobachteten die Passagiere, die auf ihren Handies herumtippten, vielleicht um die Polizei zu rufen; die sich vor ihre Kleinkinder stellten, vielleicht als Schutzschild vor dem skandalösen Schauspiel, das der Nackte ihnen bot. Dann stieg der Mann aus. Barfuß. Schaute nach links, lief dann nach rechts, festen Schrittes. Ein Nackter in der Großstadt. Wortlos verschwand er. Der Auftritt war vorbei.

Jemand schrie ihm hinterher: „Du hast Deine Kleider vergessen.“ Es wirkte wie eine Befreiung, einige Passagiere lachten, sie stiegen wieder ein. Die Tram fuhr weiter.

„Was für ein Höhepunkt – sensationell, wie er seine Liebeslitanei, seine Liebestollheit so penetriert hat, ein totales Credo, dass er nicht mehr anders konnte, sich als DEN MENSCHEN ohne Schuld und Sünde zu offenbaren, also wie Adam im Paradies“, gurgelte es aus dem Kahlkopf hervor. Er tätschelte meine Schulter: „Eine geniale Tat, oder? Wie sehen Sie das?“

„Ich brauch jetzt ein Getränk“, antwortete ich ohne nachzudenken.
„Herrlich, ich auch. Übrigens: Elmar Sören, Abgeordneter im Kreistag zu Göttingen, auf Hauptstadtvisite bei unserer einstigen Volkspartei. Sie wissen, wen ich meine?“
Ich nickte. „Da drüben ist ’ne Hausbrauerei von einem Kumpel von meinem Kumpel Dragan. Wenn wir Glück haben, hat er ein Fass angestochen. Oder es gibt Flaschenbier. Ich bin Lothar, Bürger dieser Stadt.“

Elmar lachte, knöpfte sich das Hemd auf, zog es aus, auch das Feinripp-Unterhemd und strich sich über die stark behaarte Brust. „Ein schönes unfiltriertes Bier, herrlich. Sie sind mein Gast – wie könnte ich meine Diäten besser investieren.“

Wir spazierten über die Gleise. Elmar wirbelte sein Hemd durch die Luft. Ein Auto hupte, wir querten die Straße. Ich kaufte mir Tabak. Dann liefen wir durchs offene Tor in den Hinterhof und verzechten rund 80 EUR – die Sitzungsgelder, die Elmar im letzten Monat im Kreistag erhalten hatte.


Lothar Gröschel

Hat den Kulturverein Winterstein mitbegründet und auch die Boygroup Fast zu Fürth, wo er Akkordeon spielt. Spielte in den 80er Jahren bei „Jodelbeat“.
Schreibt Gebrauchstexte (u.a. die Comic-Soap „Die Heckels“ für Nürnberger Zeitung), Lieder, Stadt-Land-Geschichten und die Bier-Roman-Triologie, deren erster Band fertig ist. Herausgeber der Anthologie „Winterstein – Flugstunden eines Landwirts“ (Verlag Traktor 18).


Lothar Gröschel bei EBMD:

Vera Freytag

Vera Freytag war inspirierend, klug, extrem begabt, emotional, philosophisch, sehr belesen, mutig, lustig, zuverlässig, weise, melancholisch, musikalisch, originell, übermütig und überwältigend ehrlich. Die Menschen, die mit ihr befreundet sein durften, waren gesegnet durch ihre Liebe und Herzenswärme. Sie hatte stets Freude an wilden Gedankenexperimenten und gewagten Aktionen. Ihr Leben war ausgesprochen turbulent, intensiv und voller Extreme, ihr schriftstellerisches Schaffen umfangreich und von allerhöchster Qualität. Zugleich baute sie durch soziale Netzwerke ein beachtliches künstlerisches Profil auf. Viele Menschen wurden auf sie aufmerksam, ihre klare, unverblümte und direkte Schreibweise in nahezu täglich verfassten, kurzen Textbeiträgen fanden rasch ein treues Publikum. Sie hatte Kontakt zu einem großen Buchverlag und damit lange Zeit realistische Hoffnung auf die Veröffentlichung ihres Hauptwerkes, einem aufrichtigen, schonungslosen Roman aus der Ich-Perspektive, doch leider kam nie ein Vertrag zustande.  

Ende Oktober 2018 verwandelte sich ihre Euphorie in Zweifel, sie zog sich immer mehr aus der Öffentlichkeit zurück, wurde traurig und erschöpft, dachte viel nach über Leben, Tod, Existenz, Himmel, Hölle, Paradies und Seele, doch die Loyalität zur eigenen Schaffenskraft ging dabei nicht verloren, bis zuletzt arbeitete sie an ihrem Buch. Doch dann ging ihr die Kraft aus, sie wollte nicht mehr weiterleben.
Am Berliner Plötzensee, wo sie oft im Sommer beim Baden und Schreiben war, wählte sie den Freitod.
Moses Wolff


Vera Freytag bei EBMD: