Anja Gmeinwieser: Flugversuch der Taube in Bilbao (gescheitert)

Stelle dir vor, du bist in einem Flughafen gefangen. Stell dir vor, dein Pass hat zwischen dem Check-In und dem Abflug, bei dem du – nur du – ausnahmsweise nach besagtem Pass gefragt wurdest, eine andere Biegung genommen, als du selbst.

Ich stelle mir das manchmal vor, und dass dies eine Vorstellung ist, die ich mit vielen teile und dass uns alle ein wohlig ekler Schauer befällt, Lustangst vor dem Leben im
Niemandsland, in einer Dystopie aus Paranoia, die uns die Welt erst erschließt. Spätestens seit diesem Film mit Tom Hanks, in dem Tom Hanks einen mit Pass- und Visaproblemen spielt, stellt sich das doch jeder mal vor, und ich meine man weiß ja auch, dass es den Mensch tatsächlich gab, den Tom Hanks da gespielt hat, ein Perser, der gut 20 Jahre eine Institution von Ironie und Bürokratie im Charles de Gaulle war, und das gibt es jetzt auch wieder, an Terminal 1 von Kuala Lumpur ist ein Syrer gefangen, ein Jahr nun schon, weil: kein Visum, kein gültiger Pass und schon geht nichts mehr.

Die meisten, wie ich – und ich gehe jetzt mal davon aus, dass das bei dir ebenso ist – sind keine mit Pass- und Visaproblemen, sondern mit gutbürgerlichen Popelproblemen, wie „wohin fahr ich in den Urlaub?“ oder „welches Auto kauf ich mir?“ oder „macht mein Job mich noch glücklich?“ Oder „Spülmaschinentabs sind alle“. Auch wir wollen uns doch manchmal in die Größe einer absolut verfahrenen Scheißsituation schmiegen, oder?
Stell dir den Flughafen, in dem du gefangen bist mittelgroß vor, München vielleicht, oder Tegel, Paris, wie der Perser, oder aber Bilbao, das klingt nach Getränken mit Sahne. Der Flughafen von Bilbao wurde von Calatrava gebaut und schaut angeblich aus, wie eine Taube kurz vor dem Start, und heißt auch Taube, „la paloma“. Zyniker könnten jetzt einwenden, er sehe eher eher aus wie ein Kampfjet, wenn auch ein schöner, weißer, verglaster, zarter Kampfjet im Abheben, da in Bilbao. Dass dir gleich egal sein wird, wie der Flughafen von außen aussieht, wo du ja innen gefangen bist, ist auch klar.

Im Ernst, wahrscheinlich kann jemand wie du oder ich in einem Flughafen gar nicht so sehr gefangen sein, wie wir uns das gerade zusammenreimen, wahrscheinlich wäre das in wirklich so ein Fall von irgendwas geht immer, ein Fall von mein Pass ist ein Visumswunder, ein Fall von „heute hasst mich das Auswärtige Amt, aber die biegen das gerade“.Oder nicht?

Oder ist das eine trügerische Hoffnung? Ein Privilegienphantom?

Jedenfalls, soviel steht für unseren Tagalptraum fest, die Situation ist verzwickt, und du verlässt diesen Flughafen nicht ohne Pass und Punkt.

Du hättest dich wahrscheinlich bereits an das Sicherheitspersonal an der Handgepäckkontrolle gewandt, die hätten deinen Pass zumindest zuletzt in der Hand gehabt, und natürlich hätten sie sich dein Problem angehört, nicht weil sie wollen, sondern weil sie müssen oder weil du – jetzt in meiner Vorstellung – so sehr aussiehst nach Businessclass, dass ich wahrscheinlich „Sie“ sagen würde, würden wir uns tatsächlich begegnen. Schließlich aber, nach Freundlichkeit, Unfreundlichkeit und einer Art panischem Tobsuchtanfall deinerseits hätte das Sicherheitspersonal sich wieder lieber der Sicherheit der Menschenmasse zugewandt, die da gerade durch das Personenleitsystem daherkommt, wie Überraschungseier auf einem Schokoladenfabrikfließband. Deine kaltschwitzigen Fingern hätten bereits gegoogelt, was in so einem Fall zu tun sei, nur um zu erfahren, dass der Flughafen der in Wirklichkeit schönste Ort für einen Passverlust sei. Den Umständen entsprechend geradezu hervorragend: Hier könne dir geholfen werden, hätte das Internet freimütig behauptet und das ungläubig aufgerufene Impressum dieser Seite hätte dich noch nicht einmal misstrauisch werden lassen.

So würdest du zwischen den Wartenden eben nicht warten, sondern gehetzt zwischen ihnen herumsuchen, auf allen Vieren unter den Wartesitzen, zwischen den Massagesesseln, in den Mülleimern. Den Schuhstaub, der sich jahrelang in den steingrauen Teppichboden gefressen hat, an Handflächen und Knien.

Zwischen ihnen sitzen und mit dem gleichen leeren Blick ins Nichts starren, wie sie, nur aus ganz anderen Gründen, und dir Gedanken machen über die situative Ähnlichkeit, die diesen Unterschied fast verschwimmen lassen würde.

Telefonanrufe, bei Menschen, bei denen du dir ein gewisses Verpflichtungsgefühl dir gegenüber erhoffst – eine Schwester, ein oder zwei Kolleginnen, ein Sekretär, stelle dir vor, wie zwar Mitgefühl geäußert würde, aber keine Hilfe zugesichert, das freundliche Im-Stich-Lassen desjenigen, der einem eigentlich egal ist.

Schau dich an, zwischen den Wartenden. Wie du dich langsam einkriegst, normalisierst, dein Herzschlag, dein Atem, dein Blick. Der Rückzug in dein Inneres, die Panik, klein wie eine Gewehrkugel abschussbereit in deinem Brustkorb noch fühlbar. Du hier drinnen, wo die Welt nicht ist. Auf dem Teppichboden ist ein hellerer Fleck, dessen Form dir immer wieder vor den Augen verschliert.

Stell dir vor wie du schläfst. Erwachst. Den Durchsagen lauschst, ready for boarding und don‘t leave your luggage unattended. Du kaufst dir eine Flasche Wasser und ein Thunfischsandwich, verzehrst beides ganz langsam, in Zeitlupe, 30 mal kaust du jeden Bissen in Zeitlupe. Das wäre doch wirklich nicht nötig bei ungetoastetem Toast, der eigentlich schon von der Plastikfolie vorverdaut wurde, aber dir dämmert, dass du alle Zeit hast, eine Ewigkeit für dieses Thunfischsandwich. Beobachtest die anderen beim Warten, vertrittst dir die Beine, wirfst zwei Euro in den Massagesessel für sieben Minuten und weil dich der Massagesessel so freundlich anfasst, so genau wissend wo es weh tut, wo die Muskeln sich verhärten, wenn man panisch angespannt ist, gleich noch mal zwei Euro.

Du schläfst. Du schläfst, schläfst, schläfst. Du studierst über Tage das Schlafen in verschiedenen Körperpositionen, weißt bald wann du dich ungestört über mehrere Sitze breiten kannst, kannst aber auch im Sitzen, mit dem Kopf auf die Händen und den Ellbogen auf die Knie gestützt schlafen, du probierst Duty-Free-Sandwichsorten und bleibst bei Hühnchen mit Currycreme, auf das du dich jetzt immer geradezu freust, zwischen gefühlter Düsternis und tatsächlicher Düsternis. Und denkst Gedanken an draußen, und die Gedanken sind wie Nierensteine, nur statt für die Nieren fürs Bewusstsein, kristallen, bunt gemustert, eigenartig schön und immer, wenn man sie fast vergisst, versetzen sie dir doch wieder einen Stich, der dich fast in die Knie gehen lässt.

Einige Beispielbewusstseinssteine, die jemand in deiner Situation denken könnte:

Alleen, Kastanien
Arbeit, Alltag, Asphalt, Abwasch
Grautöne Grüntöne Blautöne
Bekanntschaften Konkurrenzen gemeinsam Essen
Geschäfte Geschäftigkeit
ich meine Einzelhandel Stammkundschaft
Autobahnen Erlkönige Sonntagsfahrer
Regen Wetter insgesamt
gewohnte Gerüche, die schnell vergessen
und dadurch doch noch ungewohnter werden
als ohnehin ungewohnte.

Du findest, als sich die Gedanken ein wenig schmerzärmer geschliffen haben, einen Schicksalsgenossen, vielleicht nach 10 Tagen, oder ihr findet euch, findet euch beim Haarewaschen auf der Toilette. Dem wiederholtem Haarewaschen auf der Toilette, kennt man glaube ich auch aus diesem Tom-Hanks-Film. Zuerst Misstrauen: wieso immer ihr auf der Toilette, Shampoo in den Augen, das fließt da immer hin, weil die Waschbecken klein und die Wasserstrahlen automatisch sind. Du ganz offensichtlich auf der immer gleichen Geschäftsreise, er in der Uniform des Bodenpersonals, einander taxierend, was tut der andere da. Schließlich er ganz offen:
Ich habe Sie beobachtet, Sie sind immer hier, es gibt gar keinen Flug für Sie, ist gecancelled für immer, nicht wahr? Er zwinkert. Du murmelst, Pass verloren, nicht wieder gefunden, irgendwie geblieben, trotz vielleicht möglicher, nicht ausgeschöpfter Alternativen, so bist du ein Flughafenbewohner geworden.

Und dann ist es bei ihm ebenso, ganz genau ebenso, seine Vorstellung hat ihn in dieselbe Scheiße geritten, wie deine dich. Fast dieselbe Scheiße. Er sei seiner freiwilligen Ausreise entwischt, sagt er, der Schalk thront in den sich faltenden Falten auf seinem Nasenrücken. Und draußen? Keine Bleibeperspektive sagt er mit Anführungszeichen, und ist sich sicher, es liegt an seinem Namen: Assad. Kann man niemand verübeln, sagt er und zieht eine Schulter hoch, aber dass solche Leute Namen haben, verleidet so vielen Gleichnamigen ihren Namen. Du verübelst weder ihm seinen Namen, noch die Angst aller anderen vor diesem Namen. Und wahrscheinlich, denkst du, heißen viele Leute Assad und wahrscheinlich, denkst du, gab es auch Assads, die bleiben durften.

Assads Dilemma, ganz klar, übertrumpft das deine, musst du zugeben, würde ein Filmteam kommen, auf der Suche nach traurigen Geschichten, dann würden sie Assad ranzoomen, und nicht dich. Filmteams suchen immer die ärmste Sau, und du bist von außen betrachtet nur die zweitärmste. Ihr fallt als Gefangene nicht weiter auf, denn er trägt stets und stolz eine erschlichene Uniform des Toilettenpersonals, facility management, während du nicht auffällst, wenn du einen Anzug trägst. Wer Uniform trägt, muss sich nicht verstecken, ist es bereits, versteckt, trägt eine neutrale Maske im Gesicht, die keiner Schicht bedarf. So haltet ihr euch unter den anderen, den echten, auf. Ein Schlüsselbund und unauffällige Bewegungsfreiheit, auch vor den Überwachungskameras, das sind die Privilegien, die Assad genießt.

Er teilt sie, die Privilegien, mit einer Geste der Großmütigkeit und nicht ohne seinen Gesprächshunger an dir zu stillen, es ist eine beständige warme Dusche aus Worten, die du genießt, eine warme Dusche aus Worten, die zu Geschichten und Trivialem verschmelzen, die über deine Haut rinnen und deinerseits deine Sehnsucht nach menschlicher Nähe jenseits des gemeinsamen Wartens beruhigen. Ihr schlendert tägliche Sonntagsspaziergänge durch die Räume, zu denen nur Zugang hat, wer Uniform und Schlüsselbund trägt: die Räume des Zwielichts, des Aussortierten, des Sondermülls, der Schmuggelware. Ich frage mich: gibt es diese Räume in den Winkeln tatsächlicher Flughäfen überhaupt? Räume, in denen sich all das sammelt, was als Satz im Sicherheitsfilter hängen geblieben ist? Diesiges Licht und schwebender Staub und du musst an Keller denken, weil das Fenster so weit oben ist und in diesem Zwielicht die gesammelte Schönheit des Verbotenen, Äffchen, so klein, dass sie in Zigarettenschachteln passen, und blauschimmernde Aras, kreischend auf Elefantenfußhockern und ausgestopfte Krokodilkinder und Elfenbeinschnitzereien und aufgespießte Schmetterlinge, verstaubt prachtvolle Teppiche und grau und anorganisch Gaskartuschen, Weinflaschen, Behältnisse für Flüssigkeiten mit mehr als 100ml Fassungsvolumen, Folienpäckchen mit Pulvern und trockenem Grün, Pfefferspray, Messer mit langen Klingen, Feuerzeuge, Handfeuerwaffen und Deospraydosen, kategorisiert und in Halden aufgeschichtet.

Stell dir vor, wie du dir vorstellst, wenig von diesem Pulver zu probieren, und dich schließlich mit Assad in einer Art Kampfsex nackt auf den Teppichen zu wälzen. Stell dir vor, wie ihr, schon allein aus Langeweile und Fatalismus diese Vorstellung in die Tat umsetzt, und wie dir dein Flughafenleben immer erträglicher, ja geradezu schön scheint.

Wie alles ein bisschen mehr Farbsättigung, Kontrast und Tempo und Bass bekommt, wie ihr im Schutz des Flughafens ein Leben führt, das aufregender, wilder, gefährlicher aber sicherer wäre, als das Leben in der Welt, wie ihr manchmal und ohne Not Schnaps aus dem Dutyfree-Laden klaut, wie das Leben plötzlich so ist, wie in den Vorstellungen, als ihr euch das Leben noch vorgestellt habt. Du für immer im Homeoffice, und immer weniger im Homeoffice.

Die verwischend verschiedenen Gesichter der Duty-Free-Kassiereriennen, mit den immer gleich gleichgültigen Lächeln.„Where are you flying to today?“, diese ewigen Durchsagen und last calls, die asiatische Namen nicht aussprechen können, ihr lacht darüber, da im Flughafen von Bilbao, in diesem schönen Flughafen von Bilbao. Die Taube bleibt einfach sitzen, der Kampfjet hebt nicht ab, einfach weil. Das Gebäude reckt Schnabel oder Nase gen Himmel, atmet Freiheit und bleibt, wo es bleibt in Bilbao.

So wie auch du bleiben würdest, geborgen zwischen Werbeflächen und Wartesitzen und Schnapsläden und letztlich kommt es ja darauf an, auf das eigene Gefühl und zumindest mein liebstes und mächtigstes Gefühl, das weiß ich lang schon, ist die Gewohnheit, die hat immer zu Heimatgefühlen geführt, in meinem Supermarkt, meinem I-Phone, meinem Büro. Jetzt eben mein Flughafen, es würde doch so vieles einfacher machen, bequemer, nicht? Dein Flughafen, dein Heimatflughafen Bilbao.

Anja Gmeinwieser: München-Kabul (oder in die nähe) Abflug 09:16 (morgen)

wir sitzen im Garten, in deinem garten, ein gemieteter garten. Um uns herum mäht eine frau den rasen, immer in großem abstand zu unserer decke, dennoch näherkommend. irgendwann werden wir aufstehen müssen. 

das ist die vermieterin, schreist du. 

dir betrachten die vermieterin beim mähen, sie mäht sehr entschlossen, so von körperhaltung her. 

du schreist über das rasenmähermähen hinweg: die vermieterin ist beim bund. morgen muss sie nach afghanistan für drei monate, deshalb mäht sie jetzt nochmal rasen. ich betrachte die frau mit anderen augen, sie ist jetzt eine frau, die heute den rasen mäht und morgen nach afghanistan fliegt, weil sie morgen nach afghanistan fliegt, damit sie morgen beruhigt fliegen kann (nach afghanistan).

ich stelle mir vor, was die vermieterin vielleicht noch tut, heute am tag vor dem flug nach afghanistan. die bundeswehr nimmt keine linienflüge nach kabul, denke ich, die fliegen sicher direkt in den hindukusch, sicher ist da viel weniger flugvorbereitung als bei economy class. 

beispiel-todo-liste vor drei monate afghanistan: 

z.b. nachbarn schlüssel geben, damit der die yucca gießt.

z.b. nachbarn pralinen schenken, damit ers gerne tut. 

z.b. alle offenen und/oder verderblichen lebensmittel checken. z.b. selbige aufessen/wegwerfen/verschenken.

z.b. handwerker beordern, für das mietshaus, dessen rasen gerade gemäht wird. 

z.b. mit den mietern streiten: dürfen diese einen kompost anlegen? ( o ja,  o nein, o zu folgenden bedingungen).

z.b. das pferd im stall besuchen, abschied nehmen, den leuten vom stall instruktionen und geld weitergeben.

z.b. ein letzter ritt über felder. 

z.b. nochmal telefonieren. falls ihre eltern noch leben: auf jeden fall telefonieren.

z.b. einen guten braten essen, schweinebraten, das gibt es sicher länger nicht, ab jetzt.  

z.b. noch einmal mit dem glas guten wein auf dem balkon stehen, ein letztes mal, z.b.rosé. 

z.b. haltung annehmen auf dem balkon. 

z.b. abendspaziergang.

z.b. plausch mit den nachbarn. 

z.b. duschen, beine rasieren, eincremen, zähne putzen.

z.b. Unruhig schlafen.

welches Gefühl hat deine vermieterin für afghanistan? fühlt sie auch die mische aus banalität brachialität beklemmung, oder fühlt sie einfach alltag, der mir, der außenstehenden, plötzlich erst als möglicher alltag in den sinn kommen? 

sie hat eine schöne körperhaltung beim mähen. gibt es gras in afghanistan? mäht da jemand rasen, bei der bundeswehr? Oder ist alles wie auf fernsehbildern ganz graslos? 

ist rasenmähen ihr zeichen für daheimsein? ist vermieterin sein ihre freizeitidentität? 

ich kenne diese frau nicht. 

ich versuche, diese frau ein wenig zu hassen.

ich hasse sie aber nicht.

ich versuche, diese frau ein wenig zu lieben. 

natürlich liebe ich sie auch nicht. 

in drei Monaten liegt ja über dem rasen eine schneedecke, oder?

schippt sie dann schnee, mit der gleichen Haltung, wie sie rasen mäht?

hast du sie angesprochen auf afghanistan? Hast du die fragen gefragt du sagst, was hätte sie tun sollen und schilderst eine lebensgeschichte die ganz kausal beim bundeswehreinsatz in afghanistan endet, die abzweigungen wären hartz oder regaleräumen gewesen, da könne man sich ebenso für krieg entscheiden, da verdiene man wenigstens. in der logik mancher leute, sagst du, macht das sicher sinn. 

die raseninsel, auf der wir sitzen schrumpft, das getöse um uns wird lauter, die kreise, die die vermieterin um uns herumzieht werden enger, sie  beginnt schon, uns zu beäugen, wir äugen zurück und sind natürlich still jetzt.

bei anderthalb meter stehen wir auf und nehmen die decke, damit der tag weitergeht, damit sie morgen fliegen kann. 

Anja Gmeinwieser: Die Welt

In den Killerwalen sammelt sich die Welt. Ich meine das wörtlich, alles, alles was ist auf der Erde endet letztlich im Inneren eines Killerwales. Also, wirklich alles. Sie sind „Spitzenräuber“, ganz oben in der Nahrungspyramide, in der weltweiten Fressordnung, sie fressen Fische, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die Plankton und/oder Pflanzen fressen. Und wahrscheinlich fressen die Killerwale selbst auch ihrem Fressen das Fressen weg, fressen also auch selbst Plankton und die Fische, die Plankton fressen und die Fische, die diese Fische fressen, und die Fische, die diese Fische fressen und so weiter. In Killerwalen sammelt sich, ich sage das nochmal, ich sage das wiederholt, ich unterstreiche das: die Welt.
Deshalb können Killerwale sich nicht mehr fortpflanzen, weniger wegen dem Plankton oder den Fischen, sondern wegen den Giften in dem Plankton und in den Fischen, Dioxin, Weichmacher, Glyphosat, Erdöl.
Um über den Zustand der Welt im Bilde zu sein, blicken Sie mit mir in einen Killerwal, soeben gestrandet, unwiederbringlich, er ist von uns Menschen umringt, die es wissen, und er weiß es selbst. Ich gebe dem Wal einen letzten Kuss auf seine fischige Nasenfläche.
Er blickt uns mit traurig halbtoten Augen an, es sind ja auch halblebendige Augen, dies zur Steigerung der Laune, die angesichts sterbender Wale oft ins Melancholische driftet.
Skalpell!
Tupfer!
Nein im Ernst:
Kettensäge!
Der Bauch des Wales öffnet sich und wir blicken und finden: Klar, Blut, klar, Organe, klar, Magen, Leber, Milz, wie bei uns, nur größer. Und auch klar, darauf haben wir uns eingestellt, wegen der Nachrufe auf gestrandete Wale in den Medien: Wir finden, Plastikplanen, klar, Autoreifen, klar, Surfbretter, klar, Bagger, klar, Abrissbirnen, klar, Bügelbretter, klar, Kräne, klar.  CO2, klar, Angsthormone, klar, alte Geldscheine, klar, Gliedmaßen unserer Artgenossen, klar.
Und jetzt – q.e.d. – auch den Rest der Welt: Winzige Zeichen von – man könnte fast sagen, „Hoffnung“, aber das wäre so pathetisch wie übertrieben – also winzige Zeichen von Intaktheit, eine Flaschenpost,  die die Liebe zur Welt in verschwommener Tinte in den Wal hineingespült hat, eine Waldlichtung, mit Tautropfen im Gras und Himbeeren an ihrem Rand und tatsächlichem Wald außenherum, ein Bienenschwarm auch und natürlich ein Imker, und hier und da Neugründungen bisher unbekannter Ökosysteme, außerhalb eines Killerwales so nicht vorstellbar, Symbiosen aus Bobbycars, Rankgewächsen und Dachsen und insgesamt ganz neue Lebensformen, bisschen wie Axolotl, aber eben keine Axolotl, genau so, aber anders.
Steht und schaut und staunt.
Und ihr werdet denken, wir werden einen Gedanken denken, einen Kollektivgedanken, und er wird sein: Wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, und der letzte Fisch gefischt wurde, dann gibt es im inneren des letzten Killerwales immer noch den allerletzten Baum, den allerletzten Fluss und den allerletzten Fisch. Und erst, wenn der letzte Killerwal unfortgepflanzt versiecht ist, erst dann werden wir merken, dass die Welt kein Abflussrohr hat.
Vielleicht.
Das dauert aber noch.
Bestimmt bis 2050.
Mindestens.
Und Killerwale sind jetzt auch nicht so gut erforscht.
Nee.
Da geht was, da geht schon noch was.

Anja Gmeinwieser: Donnerstag 07:44 bis 08:00 – 18. Mai 2018

Ich weiß nicht, seit wann genau, aber seit einer Zeit steht vor dem Kiosk an der Pfütze, die nie ganz versiegt, ein Mann und starrt dort in die Pfütze hinein. Dabei hat er eine Mimik aufgesetzt, in der ich mir irgendwas zwischen Gleichgültigkeit und Abscheu erstarrt denke. Schön ist er nicht, der Mann, ich würde sogar sagen, ganz im Gegenteil, und das halte ich nicht allein für ein Geschmacksurteil. Das Gesicht aus Tränensäcken hängt gerade noch über einer jägergrünen Jacke mit ausgebeulten Taschen, eine eigenartig neu wirkende Fotokamera hängt an einer ebenfalls hängenden rechten Schulter – dass sie ihm nicht gestohlen wird. Das Bild, das er abgibt, bestätigt sich selbst noch in seiner viel zu orangenen Mütze und einer Körperhaltung, die ich kaum als solche bezeichnen möchte, es ist eher eine Häufung von Körperabschnitten, aufeinandergehalten von Glück und gutem Wetter.
Erst habe ich gedacht, kann sein diese Lache zeigt den Mann in schöner, kann sein sie schmeichelt seinen Konturen mit Benzinschlieren oder leichtem Wellengang. Aber ich habe nachgesehen: Die Pfütze ist ehrlich. Dazu, das meine ich festgestellt zu haben, sieht der Mann gar nicht sich, sondern nur den Himmel, und mich, wenn ich auf einer anderen Seite der Pfütze stehe. Ich mache das daran fest, dass ich, blicke ich in die Pfütze, nicht mich, sondern nur den Himmel sehe, und ihn.
Seit ich den Mann zum ersten Mal gesehen habe, das war am 4. April, seitdem sehe ich ihn immer. Nach gut einer Woche habe ich mich gefragt, ob er die Pfütze je verlässt. Ich sehe nun zu verschiedenen Uhrzeiten nach. Mittags um 12. Nachts um halb vier. Morgens um viertel vor sieben. Ich habe auch zu absurd unorthodoxen Zeiten nachgesehen, wie 22:37, um ihn beim Abwesendsein zu erwischen. Er ist immer da. Immer wenn ich da bin, mindestens. Ich verlasse zu Unzeiten das Büro, um mich auf den halben Weg nach Hause zu machen, verlasse zu Unzeiten Bett und Wohnung, um mich auf halben Weg ins Büro zu machen, ich habe extra meine dienstägliche Joggingstrecke umverlegt, dehne meine Mittagszigarette extra 5 Minuten länger aus, nur um an der Pfütze vorbeizukommen, die schon so eine Art Fixpunkt in meiner täglichen Routine geworden ist und dort treffe ich immer auf ihn und er würdigt mich keines Blickes. Ich treffe – auch das beobachte ich – auch auf niemanden, der ihn eines Blickes würdigt. Ich blicke mit in die Pfütze, manchmal tue ich das. An schönen Tagen liegt ein gleichmäßigblaues Stück Himmel mit einem unvorteilhaften Männergesicht auf dem Asphalt. Dann wieder jagt eine einzelne Wolke über den Boden. Anderntags, wenn die Pfütze geschrumpft ist, schweben Schmutzflocken wie gestockte Seife am Grund, und darunter zeigt sich schemenhaft ein kleines quadratisches Abflussgitter, das scheinbar seinen Dienst verweigert. Ich wage nicht, ihn anzusprechen, wage das nie. Meine Gedanken kreisen ständig um Pfütze und Mann. Es ist, als wäre die Zeit an dieser Pfütze für diesen Mann angehalten, oder er hat sich im Innehalten selbst angehalten und ist jetzt mit sich, dem Himmel und dem Abflussgitter gefangen. Ist das eine Hölle oder Meditation?
Ich kaufe heute morgen eine Zeitung, ZEIT, 18. Mai. Bilde mir ein, dass die Kioskbesitzerin – sie habe ich nie richtig bemerkt, es ist eine mittelalte, mittelfüllige, mittelgut gekleidete, mittelergraute, mittelgebräunte Dame – mich mit Skepsis mustert. Herrgott, bis jetzt hätte ich noch nicht einmal sagen können, dass es eine Frau ist, die in diesem Kiosk arbeitet. Den Kiosk selbst mag ich. Grün gestrichen, freistehend, jemand hat sich die Mühe gemacht, die Kaffeekarte mit Setzbuchstaben zu machen, ein Kiosk, der sich seiner Kioskhaftigkeit angenehm bewusst ist, ausgezeichneten Kaffee anbietet, um nachfüllbare Kaffeebecher bittet, der Umwelt zuliebe. Die Frau, die so gar nicht zu diesem Kiosk passen will, wird geradezu verschluckt von der Präsenz des bulligen kleinen Baus. Diese Frau also begegnet mir mit Argwohn, statt Freundlichkeit, wie es unser Dienstleisterin-Kundenverhältnis mir eigentlich versprechen würde. Ich geselle mich zu dem Mann an der Pfütze, die einen spiegelverkehrt grauen Himmel zeigt, konzentriere mich aber aus den Winkeln meiner Wahrnehmung auf den Kiosk. Mit der nächsten Kundin tuschelt die Frau und nickt – meine ich – zu mir herüber. Mich befällt es heißkalt. Werde ich meinerseits beobachtet, während ich beobachte?Warum, muss ich mich fragen, hat sie nicht mit mir über ihn getuschelt, er steht da doch die ganze Zeit und starrt in diese Pfütze, dass das meine Faszination, meine Fragen erregt, wird doch wohl selbst dieser Kioskfrau nachvollziehbar sein. Natürlich, sie hat mir voraus, dass sie von ihrem Kiosk aus immer alles beobachten kann, ohne dass es jemand wundert, ohne dass es überhaupt jemand bemerkt, während ich für meine Beobachtungen diesen Ort erst eigens aufsuchen muss. Die Blickachsen sind bestimmt durch die räumlichen Gegebenheiten: Was sich bewegt, auf dem offenen Platz wird gesehen, betrachtet, bespitzelt, wohingegen nicht beachtet wird, was sich hinter einem Wall aus Butterbrezeln und Kreuzworträtseln verschanzt.
Meine Nervosität spitzt sich zu. Ich versuche im Geiste zu sehen, was die Frau sieht: Zwei Männer, einer mit Mütze, Kamera und Tränensäcken, der andere jünger, auch mit Mütze, einem dichten Bart und einem kastigen grünen Rucksack. Vielleicht malt sie sich eine Beziehung zwischen uns aus. Vater und Sohn. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, denkt sie vielleicht, und dass ich auch irgendwann immer da stehen könnte. Sozialarbeiter und Drogensüchtiger. Wobei ich natürlich mich in der Rolle des Sozialarbeiters sehe, selbst in ihren Gedanken, die sicherlich vor keiner Unterstellung halt machen. Vielleicht zieht sie Schlüsse, aus der Ähnlichkeit vom Grün des Rucksacks mit dem Grün der Jacke. Oder zwischen den Formen unserer Mützen. Ich nähere mich, einer plötzlichen Idee folgend, dem Gesicht des Mannes um Anzeichen von Bärtigkeit zu finden. Ich rieche Rasierwasser, wie sonderbar.
Vielleicht ist sie seinen Anblick schon so gewöhnt, dass sie ihn nicht mehr, mich aber sehr wohl wahrnimmt.
Um ihre Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken, beginne ich ein flüsterndes Gespräch mit ihm. Als willkommenes gemeinsamen Thema wähle ich die Pfütze, deren verschiedene Gesichter wir ja beide zu gut kennen, und die heute wegen des trüben Wetters enttäuschend wirkt. Der Mann rührt sich keinen Millimeter, der Blick der Kioskbesitzerin dagegen schärft sich noch mehr. Ich blicke verlegen in die Pfütze. Irgend Vögel flitzen tief über den Himmel, die Wolken verschieben sich millimeterweise zueinander und erfinden neue Töne von Grau. Wenn ich mich weiter vorbeuge, um in mein eigenes Gesicht zu blicken, sehe ich, dass es durch das nach vorn und unten gebeugt sein ein wenig hängt, die Wangen hängen ein wenig vor den Lippen, die Tränensäcke treten stärker hervor, die Augen wirken kleiner. Ein wenig älter sehe ich aus, nicht? Ich sehe so nicht aus, nicht? Es sind die Wellen in der Pfütze, die mein Gesicht so wirken lassen, nicht? Plötzliches Unbehagen: ohne aufzublicken, oder auch nur die Augen zum Spiegelbild des anderen zu bewegen, spüre ich seine Abwesenheit. Wann er gegangen ist, ich könnte es nicht sagen.